Datenauswertung in practise

Ich bin gerade mal wieder mit der Feldpost von Philipp Weinheimer beschäftigt.
Mit einem Update zur abgeschlossenen Auswertung am Ende des Artikel.

Ich habe nun die Hälfte der Feldpostdaten systematisch gesammelt – allerdings erst die des Eingangs. Ich nutze dafür, recht primitiv, Excel. Senkrecht links die Namen, die ich dann und dann alphabetisch sortiere und waagerecht die einzelnen Stationen. Letztere auch mehrfach genannt, wenn Weinheimer nach einem Urlaub dorthin zurückkehrte oder dort seinen Urlaub verbrachte. Die zweite Spalte ist formatiert und summiert alle in der Zeile genannten Zahlen.

Zunächst trage ich Postkarten, Briefe und Päckchen in einzelne Zellen ein (siehe rechts im Bild), die ich nach Abschluss der Spalte dann summiere und im Kommentar der Zelle aufdrösele. Der besseren Übersicht wegen. Zur dieser markiere ich auch die Treffer farblich, um so einen konstanten Schreibfluss auf den ersten Blick erkennen zu können.

Dieser konstante Schreibfluss, der bislang natürlich nur für die eingegangene Post gilt, betrifft nach 2,5 Jahren nur zwei Personen: Einen “Jakob”, der nie mit Nachnamen genannt wird, und einen Josef Mehler aus dem hiesigen Nachbarstädtchen Gau-Algesheim (wenn ich die Abkürzung “Alg.” hinter dem Namen damit richtig interpretiere). Bei “Jakob” handelt es sich um Weinheimers Schulfreund Jakob Kronebach. Und Josef Mähler könnte Philipp Weinheimer während seiner Ausbildung auf der Landwirtschaftsschule in Gau-Algesheim kennengelernt haben. Vielleicht ist  der heutige gleichnamige Inhaber eines Fliesengeschäftes in Gau-Algesheim sein Nachfahre.

Wie bei Jakob werden in der Auswertung ab und zu Personen nur mit ihrem Vornamen genannt. Oftmals handelt es sich um einen Vornamen, der zuvor schon mit einem Nachnamen (nur einmal mit mehreren Nachnamen) genannt wird. Eine mutmaßliche Zuordnung dieser nachnamenlosen Nennungen wird allerdings erst zum Schluss der Auswertung geschehen. Dass ich Jakob als nahen Verwandten vermute, liegt auch an der herausstechend großen Anzahl an Post, die er Weinheimer zukommen ließ, nämlich 27. Die nächstgrößere (aktuelle) Summe an Post erhielt er von Mehler: 18. Danach folgt die nachnamenlose Anny, hinter der sich seine Cousine Anny Weinheimer versteckt.

Wie eingangs schon gesagt: Meine Auswertung via Excel und formatierten Zellen ist ziemlich primitiv. Allerdings ist es, neben der Auswertung eines mittelalterlichen Güterverzeichnisses, erst meine zweite statistische Auswertung. Und jene die Auswertung dieses Güterverzeichnisses unternahm ich per Hand und mehreren DIN A4-Zetteln, weil ich sie auch flexibel im Zug weiterführen wollte. Welch Durcheinander!

Habt ihr Tipps für mich, wie ich mir künftig das Auswertung einfacher gestalten kann?

Klar, das Eintragen nimmt mir niemand ab. Aber: Abgesehen von dem ununterbrochenen Schreibfluss mag es Personen geben, die nur an einen Standort nicht geschrieben haben. Oder an zwei. Oder nur an die ersten Stationen und später nicht mehr (weil verstorben, selbst eingezogen, etc.).  Das alles mache ich im Anschluss an das Eintragen mit eigenen Augen. Bei diesem überschaulichen Datensatz ist das weniger ein Problem als bei größeren, die folgen könnten. Daher wäre ich für Hinweise sehr dankbar!

Update: Abgeschlossene Auswertung (29.03.2014)

Die Auswertung aller Daten aus dem Feldposteingang bestätigen die ersten und oben geschilderten Eindrücke: Anny Weinheimer und Jakob Kronebach schrieben Philipp Weinheimer nicht nur die meisten Briefe (Anny 28, Jakob 32), sondern auch am konstantesten (Von Anny erhielt er in 13 von 21 ausgewerteten Stationen Post, von Jakob sogar 14 von 21). Auch Josef Mehler war ein regelrechter Briefpartner von Philipp Weinheimer während des Krieges (er schrieb 29 Briefe an 12 seiner Stationen).

Viele Briefe …

Anzahl der geschrieben Postkarten, Briefe und auch Päckchen an Weinheimer

  1. Kronebach, Jakob: 32
  2. Mehler, Josef: 29
  3. Weinheimer, Anny: 28
  4. Krick, Philipp: 19
  5. Weis, Philipp: 18
  6. Bungert, Franz: 17
  7. M., Hildegard: 12
  8. NN, Liesel: 14
  9. Acht, Gerlinde: 13
  10. Fleischer, Eva: 12
  11. Weis, Liesel: 12

…  konstanter Briefverkehr

Die Zahl entspricht der Anzahl der Stationen Weinheimers, an die die folgenden Personen schrieben

Kronebach, Jakob: 14
Weinheimer, Anny: 13
Mehler, Josef: 12
Weis, Philipp: 11
Krick, Philipp: 9
Weis, Liesel: 9
Bungert, Franz: 8
Weinheimer, Philipp [Onkel]: 7
M., Hildegard: 7
NN, Liesel: 7
Fleischer, Eva: 6

Möglicherweise handelt es sich außerdem bei der nachnamenslosen Liesel auch um Liesel Weis.

Der Posteingang nennt außerdem ohne Nachnamen eine Gerlinde und einen Seppel, hinter denen sich Frau Acht und Herr Mehler verbergen könnten. “Frau Weis” könnte Liesel Weis gewesen sein – aber auch Lisbeth Weis oder eine weitere Dame des Nachnamens.

  • Josef Mehler: schrieb insgesamt 30x an x Stationen
  • Gerlinde Acht: schrieb insgesamt 15x an x Stationen
  • Liesel Weis: schrieb insgesamt 13x an x Stationen

Es verändern sich nicht die Anzahl der Stationen, aber der geschriebenen Post: bei Josef +1, Gerlinde +2 und Liesel +1.

Möglicherweise finden sich in den Nachlässen dieser Personen noch Briefe zu Philipp Weinheimer. Für mich erstmals eine Quellensuche außerhalb eines Archives.

„Ich schrieb verhältnismäßig viel.” – Eine erste Auswertung

Wie schon angekündigt, habe ich mich mit der detaillierten Auflistung von erhaltener und versandter Post von Philipp Weinheimer beschäftigt. Er schrieb zwischen 1940 bis März 1945 insgesamt 1459 ((Philipp Weinheimer schrieb schon auf der ersten Seite des Postausgangs: „Ich schrieb verhältnismäßig viel. Zuerst im R.A.D. in Dahnen (Eifel)“, S. 70. Er schrieb durchschnittlich knapp eine Karte, Briefe oder ähnliches pro Tag, sofern man die Dauer der fehlenden Einträge und Urlaube in Ockenheim nicht mitzählt.))

an Karten und Briefen (auch wenigen Telegrammen) und erhielt 714 an Briefen, Karten, Päckchen, Telegrammen und auch Zeitungen ((Zwei von der NSDAP, eine nicht näher genannte von Fr. Bierschenk aus Ockenheim.)).

Die geschriebene Post besteht vor allem aus den 817 Briefe (56,4% ((Die Prozentangaben sind immer auf die zweite Nachkommastelle gerundet.)) ) und 635 Karten (43,5%), die erhaltene aus 495 Briefen (69,33%), 159 Karten (22,27%) und 60 Päckchen (8,4%). Er erhielt also rund die Hälfte an Post wie er schrieb.

Während er so gut wie nie während seiner Heimaturlaubsaufenthalte Post schrieb und erhielt (eine Ausnahme) gibt es noch ein paar weitere Lücken bei den Aufzeichnungen, die insbesondere das Jahr 1942 betreffen und die restliche Kriegszeit ab dem März 1945. Durch das Tagebuch, das er 1942 in einem Kalender führte, lässt sich der Briefverkehr vom 11. Mai bis 15. Juli 1942 rekonstruieren.

Zur besseren Übersicht hier eine komplette Übersicht:

Zur Auswertung

Die Auswertung ist zunächst nur reine Statistik – und ich weiß nicht, ob ich mehr dazu überhaupt veröffentlichen kann. Nicht wegen des rheinland-pfälzischen Archivrechtes – 1940-1945 ist mehr als 60 Jahre vorbei – , sondern viel mehr der Sinnhaftigkeit von Namensauflistungen wegen. Ein einziger Brief ist erhalten; einen Briefverkehr anhand von Briefen und Aufzeichnungen zu rekonstruieren ist inhaltlich nicht möglich. Gut, ich kann den Schriftverkehr zwischen Ph. Weinheimer und beispielsweise seinen Eltern datumsgenau sortieren, aber ich glaube nicht, das es viel bringt; der Kontakt zwischen ihnen war nicht abgebrochen und war unregelmäßig. Auswerten werde ich aber trotzdem – in der Hoffnung, dass sich doch Unregelmäßigkeiten ergeben, denen ich auf den Grund gehen kann. Mit einem Soldaten aus Wiesbaden-Igstadt hatte er noch 1957 Kontakt. Vielleicht habe ich Glück und die Dame, die heute das Haus bewohnt, ist eine Nachkommin von ihm und besitzt Briefe von meinem Opa. Ansonsten bleibt es bei dieser Auswertung.

Die Auflistung

Im Folgenden habe ich die erhaltene und geschriebene Post nach seinen in “Posteingang” und “Postausgang” genannten Stationen[1]Und mit Hilfe von “Wo war ich 1940-1945” in der Kladde auf den Seiten 50-52. aufgeteilt:

Dahnen (R.A.D.) (2. bis 30. Oktober 1940)

  • Erhalten (7 Karten, 17 Briefe, 4 Päckchen)
  • Geschrieben: 65 (33 Karten, 32 Briefe) (= 4,46% von allen, 2,32 Geschriebenes pro Tag)

Koblenz (R.A.D., Generalstabswache) (1. November bis 8. Dezember 1940)

  • Erhalten: 54 (Darunter 2 Päckchen. Karten und Briefe wurden hier nicht unterschiedlich gekennzeichnet)
  • Geschrieben: 93 (52 Karten, 41 Briefe) (= 6,37% von allen, 2,45 Geschriebenes pro Tag)

Kesfeld (R.A.D) (9. Dezember 1940 bis 30. Januar 1941)

N.B.: Zum 31. Januar 1941 wurde er aus dem R.A.D. entlassen.

  • Erhalten: (24 Karten, 33 Briefe, 13 Päckchen, 2 nicht weiter genannte Arten)
  • Geschrieben: 97 (48 Karten, 49 Briefe) (= 6,65% von allen, 1,54 Geschriebenes pro Tag)

Ockenheim (Urlaub) (31. Januar bis 4. Februar 1941

  • Keine Post erhalten und geschrieben

Koblenz-Pfaffendorf (A.E.A. 179) (8. Februar bis 28. Juni 1941)

N.B. Zwischen dem 3. und 5. April 1941 lebte er bei den Brüder Kohns in der Grabenstraße 60, Ochtendung.

  • Erhalten: 108 (37 Karten, 57 Briefe, 14 Päckchen)
  • Geschrieben: 174 (106 Karten, 68 Briefe) (= 11,93% von allen, 1,24 Geschriebenes pro Tag)

Verdun (A.E.A. 179) (29. Juni bis 18. Juli 1941)

  • Keine Post erhalten und geschrieben

Ockenheim (Urlaub) (18. Juli bis 2. August 1941)

  • Keine Post erhalten und geschrieben

Verdun (A.E.A. 179) (3. August bis 27. November 1941)

N.B. Am 3. August und 5. Oktober 1941 in Paris.

  • Erhalten: 101 (14 Karten, 76 Briefe, 11 Päckchen)
  • Geschrieben: 130 (17 Karten, 113 Briefe) (= 5,76% von allen, 1,33 Geschriebenes pro Tag)

Ockenheim (Urlaub) (28. November bis 13. Dezember 1941)

  • Keine Post erhalten und geschrieben

Verdun (A.E.A. 179) (14. Dezember 1941 bis 12. Januar 1942)

N.B. Am 25. Dezember 1941 „im Stall“ als „Stallwachhaltender“.

  • Erhalten: 37 (11 Karten, 21 Briefe, 5 Päckchen)
  • Geschrieben: 81 (48 Karten, 33 Briefe) (= % von allen, 2,89 Geschriebenes pro Tag)

Zwischen 12. Januar und 10. Oktober 1942 fehlen die Einträge sowohl im Postausgang, im Posteingang sogar bis 30. Oktober 1942. Eventuell finden sich für diese Zeitspanne Aufzeichnungen im Kalender 1942.

Nancy (A.E.A. 179) (12. bis 13. Januar 1942)

  • Eintragungen fehlen

St. Wendel (A.E.A. 179) (14. bis 31. Januar 1942)

  • Eintragungen fehlen

Transport St. Wendel nach Ostpreußen (A.E.A. 179) (1. bis 4. Februar 1942)

  • Eintragungen fehlen

Schilino (A.E.A. 179) (4. bis 12. Februar 1942)

N.B. Während dieser Tage lebte er bei „Bauer Hermann Pausat, Schillau (Ostpreussen[!]), Ortsteil Billen“.

  • Eintragungen fehlen

St. Petersburg (A.E.A. 179) (12. Februar bis 18. Juli 1942)

N.B. Einträge anhand des Tagebuchs von 1942 für den Zeitraum vom 11. Mai bis 15. Juli 1942.

  • Erhalten: 53 (8 Karten, 20 Briefe, 23 Päckchen[2]Philipp Weinheimer wurde am 12. Juni 1942 volljährig, was die Päckchenflut im Juni erklärt., 2 Zeitschriften)
  • Geschrieben: 46 (17 Karten, 29 Briefe)

St. Petersburg (Hauptverbandsplatz) (18. bis 24. Juli 1942)

  • Eintragungen fehlen

Narwa (Luftwaffenortslazarett) (25. bis 30. Juli 1942)

  • Eintragungen fehlen

Giżycko (Lazarett) (1. August bis 20. September 1942)

  • Eintragungen fehlen

Giżycko (Urlaub) (20. September bis 20. Oktober 1942)

  • Eintragungen fehlen

Giżycko (Lazarett) (20. bis 24. Oktober 1942)

  • Erhalten: Eintragungen fehlen
  • Geschrieben: 18 (14 Karten, 4 Briefe)

Lüneburg (Reservelazarett) (25. Oktober bis 17. November 1942)

  • Erhalten: 27 (4 Karten, 22 Briefe, 1 Päckchen)
  • Geschrieben: 34 (14 Karten, 20 Briefe)

Ingelheim (Reservelazarett) (17. November 1942 bis 22. Juni 1943)

N.B. Zwischen dem 8. Dezember 1942 und dem 1. Mai 1943 sind keine erhaltenen Briefe verzeichnet.

  • Erhalten: keine[3]„Ingelheim“ steht zwar in der Kladde, aber es sind keine aufgelistet. Möglicherweise war hier im Gegensatz zum Lazarett in Bingen ein Besuch möglich.
  • Geschrieben: 71 (37 Karten, 34 Brief)

Bartoszyce (Genesungsurlaub) (23. Juni bis 20. Juli 1943)

  • Erhalten: Eintragungen fehlen
  • Geschrieben: 9 (4 Karten, 5 Briefe)

Bartoszyce (G.E.B. 44) (21. Juli bis 28. Juli 1943)

  • Eintragungen fehlen

Bartoszyce (Arbeitsurlaub) (28. Juli bis 15. August 1943)

  • Eintragungen fehlen

Bartoszyce (G.E.B. 44) (15. August bis 25. September 1943)

  • Erhalten: 43 (11 Karten, 31 Briefe, eine Zeitung[4]Am 24. September 1943 erhielt Philipp Weinheimer eine Zeitung von Fr. Bierschenk aus Ockenheim.)
  • Geschrieben: 64 (23 Karten, 42 Briefe)

Bartoszyce (Arbeitsurlaub) (26. September bis 14. Oktober 1943)

  • Erhalten: 6[5]Alle sechs erhielt er am 13. Oktober 1943. (2 Karten, 4 Briefe)
  • Geschrieben: nichts

Bagrationowsk (U-Lehrgang) (15. Oktober bis 27. November 1943)

  • Erhalten: 31 (4 Karten, 25, Briefe, 2 Päckchen)
  • Geschrieben: 52 (15 Karten, 37 Briefe)

Bartoszyce (G.E.B. 44) (27. November 1943)

  • Erhalten: nichts
  • Geschrieben: 5 (1 Karte, 4 Briefe)

Bartoszyce (Jahresurlaub) (28. November bis 17. Dezember 1943)

  • Erhalten: (1 Brief)
  • Geschrieben: nichts

Bartoszyce (G.E.B. 44) (17. bis 23. Dezember 1943)

  • Erhalten: (3 Karten, 9 Briefe)
  • Geschrieben: 29 (24 Karten, 5 Briefe)

Olsztyn (24. bis 27. Dezember 1943)

  • Erhalten: nichts
  • Geschrieben: 5 (4 Briefe, 1 Telegramm)

Unbekannt (28. bis 31. Dezember 1943)

N.B. Möglicherweise war er unterwegs von Olsztyn nach St. Petersburg.

  • Eintragungen fehlen

St. Petersburg (G.E.B. 44) (1. bis 18. Januar 1944)

  • Erhalten: 1 (1 Karte)
  • Geschrieben: 35 (21 Karten, 14 Briefe)

Riga (Hauptverbandsplatz, Feldlazarett) (19. Januar bis 8. Februar 1944)

N.B. Am 8. Februar 1944 mit der „Ju 52“ nach Kaliningrad ausgeflogen. Weiterer Weg nach Stollberg unbekannt. Am 30. Januar 1944 „von Kbg.“. In der Übersicht seiner Stationen vermerkt Philipp Weinheimer aber, er sei am 8. Februar 1944 von Riga nach Kaliningrad ausgeflogen.

  • Erhalten: nichts
  • Geschrieben: 2 (1 Karte, 1 Brief)

Stollberg im Erzgebirge (Reservelazarett) (9. Februar bis 5. März 1944)

  • Erhalten: 21 (1 Karte, 16, Briefe, 3 Päckchen, 1 Telegramm)
  • Geschrieben: 39 (12 Karten, 27 Briefe)

Bingen (Reservelazarett) (6. März bis 19. April 1944, 4. Mai 1944)

  • Erhalten: 39 (5 Karten, 34 Briefe)
  • Geschrieben: 28 (16 Karten, 12 Briefe)

Ockenheim(?) (Genesungsurlaub) (20. April bis 4. Mai 1944)

  • Keine Post erhalten und geschrieben

Bartoszyce (Ersatzbataillon) (5. bis 28. Mai 1944)

  • Erhalten: 21 (2 Karten, 18 Briefe, 1 Päckchen)
  • Geschrieben: 41 (16 Karten, 25 Briefe)

Bartoszyce (Abstellurlaub) (29. Mai bis 16. Juni 1944)

  • Erhalten: nichts
  • Summe der geschrieben Post: 8 (6 Karten, 2 Briefe)

Bartoszyce (Ersatzbataillon) (17. bis 20. Juni 1944)

N.B. Für den 17. Juni 1944 ist im Kriegstagebuch ein „Passierschein“ für ein dreiköpfiges „Marsch-Komp. G.E.B. 44“ bei gelegt, zu dem auch Philipp Weinheimer gehörte: „Der Gefr. Weinheimer, Gefr. Vogt, Stgfr. Pengert befindet[!, da Vordruck] sich auf dem Wege zum Bahnhof.“ Es unterschrieb Oberleunant und „Kp.-Chef“ Heinrich.

  • Erhalten: 6 (2 Karten, 4 Briefe)
  • Geschrieben: 15 (11 Karten, 4 Briefe)

St. Petersburg (Front) (23. Juni bis 24. Juli 1944)

  • Erhalten: 21 (19 Briefe, 2 Zeitungen der NSDAP)
  • Geschrieben: 78 (22 Karten, 56 Briefe)

Hapsala (imKriegslazarett) (25. Juli bis 6. August 1944)

  • Erhalten: nichts
  • Summe der geschrieben Post: 1 (1 Brief)

Bad Kösen (Reservelazarett) (6. August bis 10. September 1944)

  • Erhalten: 30 (2 Karten, 27 Briefe, 1 Päckchen)
  • Geschrieben: 40 (15 Karten, 25 Briefe[6]Ein Brief vom vermutlich 6. August an seine Eltern ist erhalten geblieben.

Ingelheim (Reservelazarett) (11. September 1944)

  • Erhalten: nichts
  • Geschrieben: 40 (16 Karten, 24 Briefe)

Rüdesheim (im Reservelazarett) (12. bis 16. September 1944)

  • Keine Post erhalten und geschrieben

Ockenheim (Urlaub) (17. September 1944)

  • Erhalten: 3 (3 Briefe (Paula, Liesel Weis, Walter))
  • Geschrieben: 3 (1 Karte, 2 Briefe)

Kiedrich (Reservelazarett) (17. bis 23. September 1944)

  • Erhalten: nichts
  • Summe der geschrieben Post: 4 (1 Karte, 3 Briefe)

Lazarettzug (24. bis 25. September 1944)

  • Keine Post erhalten und geschrieben

Plauen (Reservelazarett, Centralhalle) (25. September 1944 bis 19. April 1945)

N.B. Die letzte eingetragene, versendete Post datiert vom 3. März 1945, die letzte erhaltene Post am 1. März 1945. Am ersten Weihnachtsfeiertage lebte Philipp Weinheimer bei „Familie Albin Münnich, Jößnitz i. Vogtland über Plauen i. V.“. Am 18. November 1944 war er in Ockenheim (wegen Hochzeitstag der Eltern?).

  • Erhalten: 111 (10 Karten, 97 Briefe, 3 Päckchen, 1 Telegramm)
  • Summe der geschrieben Post: 210 (74 Karten, 130 Briefe, 6 Telegramme)

In der Kladde liegt auch ein DIN A6-großer Zettel für die Zeit zwischen dem 8. Januar und dem 16. März 1945 mit insgesamt 33 Namen. Unklar bleibt, ob es sich um versendete oder empfangene Post handelt. Als Art wird „M“ angegeben.

Grünbach (Reservelazarett) (20. April bis 10. Juni 1945)

  • Eintragungen fehlen

Plauen (Kriegsgefangenenlager) (11. bis 14. Juni 1945)

  • Eintragungen fehlen

Erfurt (15. bis 17. Juni 1945)

  • Eintragungen fehlen

„wieder daheim“ (ab 18. Juni 1945)

[Ende der Eintragungen.]

Bildnachweis:

Fußnoten

Fußnoten
1 Und mit Hilfe von “Wo war ich 1940-1945” in der Kladde auf den Seiten 50-52.
2 Philipp Weinheimer wurde am 12. Juni 1942 volljährig, was die Päckchenflut im Juni erklärt.
3 „Ingelheim“ steht zwar in der Kladde, aber es sind keine aufgelistet. Möglicherweise war hier im Gegensatz zum Lazarett in Bingen ein Besuch möglich.
4 Am 24. September 1943 erhielt Philipp Weinheimer eine Zeitung von Fr. Bierschenk aus Ockenheim.
5 Alle sechs erhielt er am 13. Oktober 1943.
6 Ein Brief vom vermutlich 6. August an seine Eltern ist erhalten geblieben.

“Aus dem Soldatenleben”

Nachdem ich vor einigen Wochen bereits Erinnerungen von Philipp Weinheimer zu seiner dritten Verletzung 1944 veröffentlicht habe, folgen nun drei weitere Seiten über seine Zeit als Soldat zwischen 1940 und 1942, die er in einer Kladde veröffentlicht hat.

In dieser Kladde “Kriegstagebuch” sammelte er während des 2. Weltkrieges diverse Erinnerungen, die teilweise in folgenden Blogbeiträgen veröffentlicht werden. Denn in der Kladde enthalten sind auf der ersten Seite seinen verschiedenen Feldpostnummern[1]Zunächst an zwei verschiedenen Stationen als “Arbeitsmann”, dann als “Fahrer” der Augusta-Kaserne in Koblenz-Pfaffendorf, als “Soldat” und schließlich wieder als … Continue reading Im folgenden schildert er knapp seinen Wechsel vom Reichsarbeitsdienst bis zur ersten Verwundung (1940-1942), die im Folgenden transkribiert wiedergegeben wird.

Es folgen sechs Adressen zu Herren aus Mittel- und Norddeutschland[2]Möglicherweise lernte er sie während des Krieges kennen. und einige kurze, vermutlich selbstgereimte Gedichte. Daran schließen die Adressen seiner Quartiere während seiner Genesungen an, eine Seite weitere “Sprüche”, eine mit Namenstagen und Geburtstagen [3]Unter anderem seiner späteren Frau Marianne., “Filme, die ich in Plauen gesehen habe” (43 in ca. 2 Monaten!) und weitere in Mainz und Gau-Algesheim nach seiner Heimkehr.

Nach einem einseitigen Lazarettbericht aus Ingelheim, der Auflistung, wo er zwischen 1940 und 1945 lebte und einem eingelegten Passierschein vom 17.6.44 [4]”[…] befindet sich auf dem Weg zum Bahnhof […]”., folgte eine wunderbare Quelle, die ich ausgewertet im nächsten Blogeintrag vorstellen werde: Alle während 1940 – 1945 geschriebene und erhaltene Feldpost. Leider nicht den Inhalt, aber zumindest das Datum, der Adressant/Adressat und ob es sich um einen Brief oder eine Postkarte handelte – gegliedert nach seinem derzeitigen Aufenthaltsort. Über mehrere Seiten. Ich hoffe, dass es mir gelingt, wenigstens einige der genannten Personen einzuordnen. Das soll hier aber nicht geschehen, sondern beide weiteren, oben erwähnten Berichte über die Zeit zwischen 1940 und 1942 wiedergegeben werden.

Aus dem Soldatenleben


Am 2. Oktober 1940 bin ich zum Reichsarbeitsdienst eingerückt. In Mainz war Sammelpunkt. Mit einem Sonderzug fuhren wir bis Niederüllfeld. Bis zum Lager waren es noch 18 Km. Am 31. Okt. bin ich nach Koblenz kommandiert worden zur Gaustabswache. Dort bleib ich bis 9. Dez. Dann zu dem inzwischen nach Kerfeld (Eifel) verlegten Lager zurück. Weihnachten war ich auch dort, ebenso Neujahr. Am 30. Jan. 41 wurden wir aus dem R. A. D. entlassen.
Am 5. Februar ging es schon wieder fort. Zu der Artillerie Ersatz Abteilung 179 nach Koblenz[-]Pfaffendorf[,] Augusta-Kaserne[,] Stube 46. Als Fahrer. Hans Dickenscheid ((Mit Hans Dickenscheid fuhr er auch Paraden. Der sehr sportliche Hans turnte dabei auf den sechs oder acht eingespannten Pferden, während Philipp sie lenkte.))  ist bei mir. Am 28. Juni rückte ich mit dem Vorkommando nach Frankreich: Verdun. Vom 18. Juli bis 2. Aug. hatte ich Arbeitsurlaub. Am 4.[,] 5. u. 6. Okt. war ich in Paris. Eine 3 tägishe[!] Besichtigung. War sehr schön. Am 1. Okt. wurde ich Oberkan[?]. Vom 28. Nov. bis 13. Dez. hatte ich Jahresurlaub. […]

[…] Am 9. Januar 42. wurde ich plötzlich mit Walter und Adolf abgerufen u. feldmarschmäßig eingekleidet. ((Vom des Ereignissen des Jahres 1942 berichtet tagesgenau sein erhaltener Taschenkalender. Edition folgt!)) 12. Januar Abfahrt Verdun nach Nancy dann nach St. Wendel. Dort wurde der Marschbattalion zusammengestellt. Mit einem Transportzug am 1. Febr. ab St. Wendel. Die Fahrt ging über Bad Kreuznach[,] Friedberg, Kassel, Magdeburg, Berlin, Thorn, Schillen. Dort wurden wir am 4. Febr. morgens ausgeladen. Privatquartier bei Bauer Herrmann Privat.
12. Febr. Abfahrt mit L. K. W. Schaulen, Mitau, Riga, Wolmar, Dorpert, Petersburg, Ljuban. Ich kam zu der 9. I. R. 44. [?] Am 18. Juli 1942 wurde ich in den schweren Abwehrkämpfen auf dem Wolschowbrückenkopf schwer verwundet; Schulterblattschußbruch rechts. Auf dem Hauptverbandsplatz gleich operiert. 24.7. im Luftwaffenlaz. Narwa. 1. August nach Lötzen (Ostpr.)[.] Von dort fuhr ich in Genesungsurlaub; 20.9.-20.10.42. Am 24.10. verlegt nach Res. Laz. Lüneburg. Am 18.11. nach Ingelheim Teil.[!]-Laz. Neue Schule.[5]Der Brief in der Kladde auf den Seiten 4 und 5.

Aus meinem Soldatenleben

(Fortsetzung von Seite 5.)
Aus dem Res. Lazarett Ingelheim bin ich Ende Juni 43 mit 4 Wochen Genesungsurlaub entlassen [worden]. Nach Ablauf dieses Urlaub’s[!] hatte ich mich bei dem Grenadier-Ersatz-Batallion 44 in Bartenstein / Ostpreussen zu melden. Ein glücklicher Zufall war es, daß noch ein Ockenheimer in derselben Kaserne war. Es war Karl Janz
[6]Karl Janz war etwas gleichaltrig wie Philipp Weinheimer ist aber wenige Jahrzehnte nach dem Krieg schon früh verstorben.. Wir waren oft zusammen und haben uns gut verstanden. – Bei der ersten Untersuchung bei dem Truppenarzt wurde ich 2 Monate g. v. H. geschrieben. Es war zu der Zeit ein Arbeitsurlaub[s]gesuch für mich gemacht worden, welcher auch genehmigt worden ist. Ich bin dann wieder für 14 Tage in Urlaub gefahren. Die Fahrt im Fronturlauber-Schnellzug war schön. Ich bin in Königsberg eingestiegen u. nach 21 Stunden Fahrt in Franfurt a. M. ausgestiegen. Ich habe für die ca. 1200Km. lange Bahnstrecke rund 30 Std. gebraucht.[7]Der Brief ist in der Kladde auf der Seite 34.

Damit endet die knappe Berichterstattung über die Aufenthalte während der Kriegsjahre.

Fußnoten

Fußnoten
1 Zunächst an zwei verschiedenen Stationen als “Arbeitsmann”, dann als “Fahrer” der Augusta-Kaserne in Koblenz-Pfaffendorf, als “Soldat” und schließlich wieder als “Arbeitsmann” nach seiner dritten Verwundung im thüringischen Effelder / Eichsfeld.
2 Möglicherweise lernte er sie während des Krieges kennen.
3 Unter anderem seiner späteren Frau Marianne.
4 ”[…] befindet sich auf dem Weg zum Bahnhof […]”.
5 Der Brief in der Kladde auf den Seiten 4 und 5.
6 Karl Janz war etwas gleichaltrig wie Philipp Weinheimer ist aber wenige Jahrzehnte nach dem Krieg schon früh verstorben.
7 Der Brief ist in der Kladde auf der Seite 34.

24. Juli 1944, St. Petersburg. Ein Brief von Philipp Weinheimer


Edition eines undatierten Briefes von Philipp Weinheimer (1921-2006), der Ende des 2. Weltkrieges an der Front in St. Petersburg stationiert war. Im Brief blickte er auf den 24. Juli 1944 zurück, als ein russischer Angriff ihn schwer am Arm verwundete. Zuvor war er als Soldat bei der unsäglichen Leningradblockade beteiligt, aber bereits Mitte Januar mit einer schweren Armverletzung ausgeflogen worden.

“24. Juli 1944 …….. Der Tag beginnt, ohne daß er sich von den vorherigen wesentlich unterschieden hätte. Nur die unheimliche Waffenruhe des Russen am Vortrage drückt auf die Stimmung. Was wird der Montag bringen? Wir hatten am Sonntag mit einem russischen Angriff gerechnet ….
Ich hatte von 2-4 Uhr Posten im M.G.[-]Stand. Wieder fast vollkommene Ruhe: Jeder, der längere Zeit im vordersten Graben stand, weiß[,] daß dieses einen baldigen Sturm bedeutet. Um 4 Uhr werde ich abgelöst. Mein Gruppenführer hat nun Grabendienst, ich muß die Bunkerwache übernehmen. Ich eße etwas, brenne meine Pfeife an und schreibe 2 Briefe. Draußen war die Sonne schon blutig rot aufgegangen. Der Uffz. kommt kurz vor 5 Uhr zurück; ich legte mich sofort auf meine Pritsche, ich war müde u. hatte die ganze Nacht noch kein Auge zu gehabt. Doch kaum liege ich da, kommt unser Zugführer, Herr Leutnant Vogt, und befiehlt höchste Alarmbereitschaft. Es soll sofort noch ein Doppelposten in die H. K. L. [Hauptkampflinie] .. Der Leutnant geht, ich wecke die anderen. Noch während ich dabei bin, höre ich die ersten Artillerieabschüsse, die Granaten orgeln heran. Die Einschläge liegen im Bereich unserer H. K. L. und unserem Bunker. „Jetzt wird’s[!]“ [,] denke ich für mich. „Es geht los“[,] sage ich nur. Unser Gruppenführer, Uffz. Minzleff [Minzlaff?], will sofort alles rausjagen auf die Gefechtsstände, die ungefähr 30-40 Meter weiter vorne waren. Laufgräben gibt es hier nicht, nur Knüppelstege, es ist ja überall Sumpf und Wasser. O herrliches Lappland. Der Unteroffizier will als erstes aus dem Bunker. „Bist Du verrückt“[,] rufe ich ihm zu . Krachend krepiert eine Granate in unmittelbarer Nähe des Bunkers und bringt eine starke Tanne zum Umstürzen. Aber der Uffz. hat keine Ruhe, er kriecht aus dem Bunker, um Koppel und Gewehr zu holen. Wieder schlagen einige Granaten ein. Unser Uffz. kommt zurück, er hat einen Granatsplitter in die Schulter abbekommen. „Das hast Du davon“[,] knurre ich unzufrieden. Zum Glück ist es nicht so schlimm. Einige Zeit später merke ich, daß der Russe sein Artilleriefeuer verlegt. Infanteriefeuer flackert auf. Nun wird es Zeit[,] denke ich bei mir. Vorsichtig krieche ich aus dem Bunker, schiele um die Ecke zur H. K. L. Ein wüster Anblick. Alles undeutlich in Pulverqualm gehüllt, große Granattrichter, umgestürzte zerfetzte Bäume[,] usw. Mit wenigen Sprüngen habe ich meinen M. G.[-]Stand erreicht, stelle mit Freuden fest, daß den 2 Männern u. dem Maschinengewehr nicht passiert ist. Dankbar aufatmend sehen mich die 2 Kameraden an, der eine ist 18, der andere 19 Jahre alt [Philipp Weinheimer war 23]. Mit einem Blick sehe ich, daß unsere starken Minen und Stacheldrahtsparren zum größten Teil zerstört und der Russe [2 Worte unleserlich] ist. Unglücklicherweise scheint uns die Sonne gerade ins Gesicht, sie blendet uns. Wir schießen ca. 100 Schuß mit M. G., werfen einige Handgranaten. 3 Russen bleiben tot liegen, die anderen türmen zurück. Wieder beginnt das russ. Trommelfeuer u. zwar mit solcher Heftigkeit[,] wie ich es selbst noch nicht erlebte. Ob es da wohl noch ein Entrinnen gibt? Wir sehen uns nur an, ich stopfe meine Pfeife. Ich bin eigentlich sonderbar ruhig. Der Russe schießt mit allen möglichen Waffen. Artillerie, Pak, Flak u. seiner berüchtigten Stalinorgel ein unheimliches Trommeln, die grausig[e]

 

Oper des Krieges. Zwischen das[!] Hämmern der Maschinengewehre mischt sich das Dröhnen der Jagd-, Schlacht- u. Bombenflugzeuge, das Pfeifen u. [die] Detonation der Bomben, das Bellen der Bordwaffen. Aber auch unsere eigenen schweren Waffen sprechen ihre Sprache, wir sehen die unheimliche Wirkung der Nebelwerfer, die Einschläge unsere[r] schweren Mörser. Dazu kommen die siegreichen Luftkämpfe unserer Jagd- und Schlachtflugzeuge. So ging es von 5 – 11 Uhr mit nur ganz kleinen Feuerpausen. Unser Uffz. war in der ersten Stunde noch bei uns im Kampfstand, bekam aber immer mehr Schmerzen und ist auf mein Zureden zurück in den Bunker. Ich übernahm den Befehl über die Gruppe, das M. G. nahm ein junger Gefreiter u. K. O. B. [Kriegsoffizierbewerber], der uns am geeignetsten schien. Unsere Gruppe hatte 2 Kampfstände, in jedem 2 Mann. Ich kroch hinter der zusammengeschossenen Pallisade[!] hin, um mich über den Zustand von Männern und Waffen zu orientieren. Es war alles noch soweit in Ordnung. Die rechts eingesetzt s. M. G. [sub machine gun; 9mm Colt] hatte zwei Schwerverwundete. Ich kroch wieder zum M. G.[-]Stand zurück. So gegen ½ 12 Uhr kam ich auch wieder von den Gewehrständen zurück, der Russe trommelte wieder stärker. Ich legte mich hinter die Pallisade, flach auf den Knüppelsteeg[!] gepresst. Ein Pfeifen, Zisch- u. Krachen; ich fühlte einen schweren Schlag gegen die rechte Schulter, ein heftiger Schmerz. Mir war es, als ob der Arm ab wäre. Ich sprang auf, und lief trotz des feindlichen Feuers zurück zum Bunker, wo der Uffz. war. Der war maßlos erschreckt[,] als er mich sag. Da er allein auch nicht viel machen konnte, rief er nach dem Sanitäter, der im Nachbarbunker war. Der Stabsgefreite kam sofort und verband mich so gut es eben ging. Ich war am jammern[!], die Schulter schmerzte unheimlich . Der Sanitäter und der Uffz. beruhigten mich. Draußen ließ die Schießerei nach. Mit Hilfe des Zugmelders, der inzwischen herbeigerufen wurde, bin ich zum Komp. Gefechtsstand zurückgehumpelt. Dort eine kleine Rast, dann weiter zum Batl. Gefechtsstand, wo auch der Arzt seinen Bunker hatte. Als dieser meine Wunde sah, krummelte[!] er: „Ist halb so schlimm[.]“[.] Dabei nahm er seine Pfeife nicht aus dem Mund. (er rauchte ununterbrochen). Ein San. Uffz. verband mich wieder frisch u. gab mir eine Tetanusspritze mit Morphium. Letzteres linderte die Schmerzen. Weiter ging die Reise mit einem Pferdewagen über Knüppeldamm. Diese Fahrt wird mir ewig gedenken. Mit gebrochenem Schlüsselbein und diese andauernden Erschütterungen. Irgendwo wurden wir abgeladen und mit einem San. Auto rüber zum Hauptvorstandsplatz[?] gebracht. Es war dunkel, ein Arzt frage nach Verwundung usw., mich auch. Darauf wurde ich sofort zum O. P. getragen, rauf auf dem Operationstisch. Ein Sanitäter löst den Verband, der Arzt befühlt die Wunde. Ich schreie auf, wir ein gequältes Tier. „Betäuben“[,] sagt einer. Schon habe ich auch schon eine Maske vor dem Gesicht, ein starker Äthergeruch umgibt mich. „Eins, zwei, drei … sechszehn … sieb … zehn….“[.] Weiter komme ich nicht. ….. Als ich wieder aufwache, liege ich auf einer Trage, die auf dem Boden steht. Ich sehe einen Sanitäter umherschleichen. Ich frage ihn, was mit mir los war. Er gibt keine Antwort. Ein starker Verband liegt um Schulter u. Oberarm. Es ist halbdunkel in dem Raum.

 

Eine Weile später wird alles auf Autos zum Bahnhof geschafft und in Güterwagen verladen. Mit 10 Mann sind wir in einem Wagen. Wir liegen auf Strohsäcken, ich muß sagen, es war nicht schlecht. Die Fahrt geht nun von Jöbi [Jöhvi] über Wesenberg [Rakvere], Reval [Tallinn], nach Habsal [Haapsalu]. In Wesenberg wurden auch schon einige Schwerverwundete ausgeladen. In Habsal war ich 3 Tage. Morgens in aller Frühe wurden wir wieder in den Güterzug verladen. Die Fahrt ging zurück nach Reval bis in den Hafen. Dort hatte schon ein Truppentransporter, etwa 5600 [oder 5500?] B. R. T. [Bruttoregistertonne] groß, angelegt. Auf diesen wurden wir nun verladen. Wir waren mit etwa 1500 Verwundeten auf dem Kahn. Mittags um 4 Uhr begann nun die Seereise. Wenn das nur gut geht, dachten wir. Abends schon schlichen Ärzte u. San. Personal mit Schwimmwesten herum wir lagen mit unseren Gipsverbänden in den Kojen. Ich ließ mir eine Morphiumspritze geben, schlief die ganze Nacht hindurch fest und gut. Nach dem Morgenkaffee humpelte ich nach oben auf das Freideck. Wir waren inzwischen auf hoher See. Der Seegang war aber ziemlich ruhig. Die Sonne schien. Wir fuhren mit unserm Begleit- u. Sicherungsschiffen ein gemütliches Tempo. Auf Freideck traf ich den [durch verwischte Tinte schwer lesbar; es folgen zwei Kürzel] Unterscharführer, der von Kempten war. Nach dem Mittagessen wurde der Seegang stärker. Der Kahn fing an zu schaukeln. Nun waren schon die ersten Seekranken[!]. Ich blieb in meiner Koje liegen, das ist in diesem Falle das Beste. Unseren Sanitäter habe ich gedauert. Der arme Kerl saß oft auf der Treppe vom 2. zum 3. Deck und hielt sich einen Schieber vor der Mund. Es war dies meine erste Hochseereise. Ich könnte ein ganzes Buch davon schreiben ….

Ohne Zwischenfall kamen wir nach Gotenhafen, wo wir Verbandsstoff an Bord nahmen. Weiter ging die Fahrt nach Swinemünde. Während der letzten Stunden auf dem Schiff, gab es Schiffszwieback und Punsch aus Rotwein. Bei herrlichem Wetter kamen wir in Swinemünde an. Am Kai standen schon wartend zwei lange Lazarettzüge. [Das Schiff, das die Verletzten nach Swinemünde brachte, wurde nur wenige Stunden nach dem Verlassen des Lazarettzuges durch alliierte, vermutliche britische Bombenflugzeuge auf Stadt und Hafen zerstört.] Wir wurden sofort umgeladen, und im Laz. Zug ging die Fahrt über Pasewalk, Neubrandenburg, Hannover, Kassel, Gotha, Erfurt, usw. In Bad Kösen wurde ich nachts um 2 Uhr ausgeladen. Nun bin ich hier in der Abteilung Hämmerling. Am 6. August kam ich hier her. Am 13. August hat mich Vater und Gustav [sein Bruder] hier besucht. Am 26. August kam Maria [seine Schwester] u. ist am 28.8. wieder abgefahren.“

 

Route des Lazarettzuges

Zunächst von der Front bei St. Petersburg nach Haapsalu in Estland. Dort wurden die Verletzten in ein Schiff umladen:


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Von Haapsalu (Estland) wurden die Verletzten bis nach Świnoujście (Polen) per Schiff transportiert.
Schließlich von Świnoujście – kurz nach dem Verlassen des Schiffes wurde es durch alliierte Bomber getroffen und sank – in das Lazarett in Bad Kösen, wo vermutlich der Brief entstand:


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Die Datierung des Briefes ist mit Schwierigkeiten behaftet: Zwar schreibt er gegen Ende es Briefes:  „Nun bin ich hier in der Abteilung Hämmerling. Am 6. August kam ich hier her.“, nutzt aber für seine Erzählung mehrmals den historischen Präsens. Eindeutiger beweist die These, dass er tatsächlich im Bad Kösener Lazarett diese Erinnerung verfasste, da er seine folgenden Aufenthalte in kurzzeitige Aufenthalte in Kiedrich (Rheingau) und Ingelheim (Rheinhessen) im September 1944 und anschließendem Lazarettaufenthalt in Plauen im Vogtland bis Anfang März. (Im November scheint er wenige Tage in Ockenheim verlebt zu haben.) Seine letzte Karte sendete er von Plauen am 3. März 1945 “heim”. Danach enden die Eintragungen. In mündlichen Berichten erzählte er, dass er gegen Ende des Krieges mit einem Soldaten aus Kempten aus dem Lazarett in Plauen floh – vermutlich jenem, den er auf dem Lazarettschiff traf. Tatsächlich war die Verletzung vom Juli 1944 seine dritte und letzte; er kehrte danach nicht wieder an die Kriegsfront zurück. Als die Kunde im Lazarett eintraf, dass sich von Osten die russische, von Westen die amerikanische Armee näherte, flohen Weinheimer und der Kempter aus dem Lazarett nach Westen, bewusst in die Arme der Amerikaner, eine sanftere Bestrafung erhoffend. Der Kempter hatte noch eine goldene, offenbar wertvolle Armbanduhr in seinem Besitz, die er einem amerikanischen Soldaten gab. Beide kamen in so amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurden nach Nordosten in die schon befreite Zone gebracht, von dort ins Lazarett Ingelheim, wenige Orte von ihren Heimatdörfer entfernt. Dort erlebte Philipp Weinheimer das Kriegsende und durfte in seinen Heimatort zurück.

Philipp Weinheimer war mein Großvater. Diesen Brief habe ich bei Aufräumarbeiten in seinem Haus gefunden, das ich nun bewohne und derzeit nach und nach renoviere. Nächstes Jahr werde ich seinen „Nachlass“ im Haus kategorisieren und verzeichnen, ebenso als Open Access zugänglich machen. Darunter sind Ehrungen des genannten MGVs, in dem er 65 Jahre sang, aber auch viele Arbeitsgeräte, die er für seine Berufe (Fleischbeschauer, Winzer, zeitweise Gemeinderechner) benutzt hat, wie auch Überliefertes seiner Soldatenzeit (Geldscheine, Marken, Urkunden, Fotografien, Schriftstücke, …).

Ich bin mir bewusst, dass es problematisch ist, wissenschaftlich kritisch das Leben eines Vorfahren aufzuarbeiten, besonders während Nazi-Deutschland. Er erzählte jedoch immer frei und ehrlich auch von den 1940er Jahren. Und das durchaus auch selbstkritisch. Dieses “Wissen” hilft auch mir, vor möglicherweise erschreckenden Erkenntnissen über sein Leben die Distanz bewahren zu können.

Abbildungen:

  • Oberes Foto: Anonym: [Philipp Weinheimer in Verdun, 1941] CC-BY SA 3.0
  • Drei Briefseiten: Weinheimer, Philipp: [Feldpost vom 24.07.1944]
  • Unteres Foto: Anonym: [Familie Weinheimer, verm. 1939] CC-BY SA 3.0

Die Religion in den Testamenten der brandenburgisch-preußischen Herrscher und ihre Auswirkungen

Diese Hausarbeit habe ich im Semester 2007/08 im Proseminar “Der Aufstieg Brandenburg-Preußens” bei apl. Prof. Dr. Bettina Braun (Geschichte, Uni Mainz) verfasst.

Einleitung

Seit dem 16. Jahrhundert verfassten Landesherren neben ihren persönlichen, privaten Testamenten auch so genannte politische Testamente. Diese waren an den Nachfolger des jeweiligen Landesherrn gerichtet und unterrichteten ihn über die innenpolitische und außenpolitische Lage des Landes sowie über Besonderheiten und Wünsche des Landesherrn.

In dieser Arbeit dienen die politischen Testamente des 17. und 18. Jahrhunderts der branden-burgisch-preußischen Kurfürsten bzw. Könige Friedrich Wilhelm, Friedrich III./I., Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. als Quellengrundlage.

Das Kurfürstentum Brandenburg-Preußen wurde 1618 gegründet, entstand aus dem Kurfürstentum Brandenburg und dem Herzogtum Preußen und wurden von den Hohenzollern regiert. Das hohenzollernsche Geschlecht stammte ursprünglich aus dem schwäbischen Raum, bekam 1192 das nürnbergische Burggrafenamt. 1411 erhielt der nürnbergische Burggraf Friedrich VI. zusätzlich die Mark Brandenburg und wurde somit Markgraf von Brandenburg. 1415 verlieh ihm der Kaiser Sigismund von Luxemburg die Kurwürde für die Mark Brandenburg verliehen. Hauptwohnsitz des neuen Kurfürsten von Brandenburg blieb aber zunächst Nürnberg. Erst sein Enkel Johann Cicero zog 1486 nach Brandenburg und bestimmte Berlin-Cölln als seine neue Residenz.

Die Hohenzollern des 16. Jahrhunderts waren ein kaisertreues und erzkatholisches Geschlecht. Der brandenburgische Kurfürst Joachim war der Bruder und Gefolgsmann des Mainzer Kurfürsten und Reichskanzlers Albrecht, der mit dem von ihm inszenierten Ablasshandel beim aufgeklärten Klerus auf Widerstand stieß. Luther protestierte mit der Veröffentlichung seiner Thesen auch gegen seinen eigenen Landesherrn und dessen Unterstützung der Mauscheleien seines Bruders. Beide Kurfürsten wurden zu erbitterten Gegnern Luthers. Interessant ist, dass die Frau von Kurfürst Joachim I. 1527 floh, als sie zum Luthertum konvertierte. Die Zeichen standen auf Umbruch und es war sein Sohn, Joachim II., der Luther schätzen lernte [1]Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 72. und am 1. November 1533 zum Luthertum konvertierte[2]Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 23.. Verbunden war dies mit weltlichen Vorteilen, denn die damit verbundene Übertragung kirchlicher Ländereien in weltlichen Besitz, ließ den Kurfürsten zum bedeutendsten Grundbesitzer in der Mark werden. Ein großer Vorteil in der Auseinandersetzung mit den Landständen führte so in den folgenden Jahrhunderten allmählich zu einer weiteren Stärkung der kurfürstlichen Unabhängigkeit. Seine Nachfolger in der Landesherrschaft blieben gläubige Lutheraner. Erst Johann Sigismund, der sich bei den brandenburgischen, reformierten Städten am Rhein beliebt machen wollte, konvertierte 1613 zum Calvinismus. Nach den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens hätte die brandenburgische Bevölkerung nun eigentlich den reformierten, calvinistischen Glauben übernehmen müssen. Doch diese wandte sich vehement gegen die Übernahme der neuen Konfession ihres Landesherrn, denn sie sah keinen wesentlichen Unterschied zwischen Katholizismus und Calvinismus. So beließ Johann Sigismund schließlich seiner Bevölkerung ihre Konfession und begründete damit den Toleranzgedanken von Brandenburg-Preußen für die verschiedenen protestantischen Richtungen. Fünf Jahre später erfolgte die Vereinigung des Kurfürstentums Brandenburg mit dem Herzogtum Preußen.

Das Herzogtum Preußen war durch die Säkularisierung des ehemaligen Deutschordenlandes entstanden, nachdem der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens in Preußen, der Hohenzoller Albrecht von Brandenburg-Ansbach[3]Vater von Albrecht Friedrich., im Jahre 1525 zum lutherischen Glauben übergetreten war. Da dessen Sohn Albrecht Friedrich, ein Vater von fünf Töchtern, als geisteskrank galt, zog einer der Schwiegersöhne, der Kurfürst Joachim Friedrich von Brandenburg und Vater von Johann Sigismund, die Regentschaft an sich. Johann Sigismund heiratete ebenfalls eine der fünf Töchter Albrechts Friedrichs und regierte nach dem Tod seines Schwiegervaters auch offiziell in Personalunion über beide Länder.

Da Preußen zum Königreich Polen gehörte, wurde Johann Sigismund damit auch Lehnsmann des polnischen Königs.

Im Dreißigjährigen Krieg verhielt sich Brandenburg-Preußen zunächst neutral, pendelte dann aber zwischen den Bündnissen mit dem Ziel, dass dem Gebiet möglichst wenig Schaden entstand. Doch dies misslang größtenteils und der Krieg forderte auch hier seine Opfer und entvölkerte viele Landstriche. In dieser Zeit kam 1640 der so genannte Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm, an die Regierung.

Sein politisches Testament und das seiner drei Nachfolger sehen im Fokus dieser Arbeit. Mein Schwerpunkt liegt dabei auf der Religiosität der jeweiligen Herrscher und inwieweit diese ihr Leben, Handeln und Denken beeinflusst hat.

Konfessionen im Heiligen Römischen Reich im 16. und 17. Jahrhundert

Das Heilige Römische Reich stützte sich auf den Katholizismus. Durch die Reformideen Luthers bildeten sich neue Konfessionen wie das Luthertum und der Calvinismus. Nach der Verkündigung der Thesen Luthers kam es im Reich zu diversen Auseinandersetzungen zwischen den Anhänger der verschiedenen Konfessionen. 1555 wurde im Augsburger Religionsfriede eine vorläufige Regelung gefunden: Der Landesherr bestimmte die Konfession seines Landes, der alle Untertanen zu folgen hatte. Zudem wurde durch die Confessio Augustana das Luthertum als Konfession anerkannt und sicherte den Anhängern Frieden und ihre Besitzstände.

Doch der Friede von Augsburg währte nicht lange. Calvinisten und Lutheraner gehörten den protestantischen Strömungen des 16. Jahrhunderts an. Beide Konfessionen waren ursprünglich von den Initiatoren als Reformationsmodelle der katholischen Kirche gedacht, führten aber dann doch zur Abspaltung von Rom. Doch auch zwischen den beiden protestantischen Konfessionen kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Kernpunkt war die so genannte Wahrheit der reinen und christlichen Lehre in ihren beiden Streitpunkten Abendmahl und Prädestinationslehre. Letztere besagt, dass schon vor der Geburt entschieden ist, wer von Gott auserwählt ist und wer nicht. Diese Erwählung werde bereits durch den Erfolg im Leben sichtbar. Deshalb sind Reformierte besonders arbeitsame Menschen, die nach Erfolg streben, da diese die sichtbare Erwählung Gottes auf Erden ist.

Beim Abendmahl hielt Luther an der Lehre der so genannten Realpräsenz fest, die aus dem Katholizismus stammt. Diese besagt, dass in Brot und Wein der Leib und das Blut Christi immer gegenwärtig sind. Der Calvinismus dagegen lehrte, die Hostie und Wein lediglich als Symbol für den Leib und das Blut Christi zu sehen sind. Die Abendmahlfeier wurde zu einer Gedächtnisfeier. Für die konfessionelle Frage wurde im Westfälischen Frieden von 1648 das Jahr 1624 als so genanntes Normaljahr festgelegt. Das bedeutet, dass die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Konfessionen der Länder als geltend betrachtet wurden, aber es den Untertanen auch erlaubt war, ihre Religion unabhängig von der Konfession des Landesherrn zu wählen.

Die Religion in den Testamenten der brandenburgisch-preußischen Herrscher und ihre Auswirkungen

Kurfürst Friedrich Wilhelm

Friedrich Wilhelm war Calvinist und kam 1640, während des Dreißigjährigen Krieges an die Macht. Er ließ direkt nach seinem Regierungsantritt mehrere Memoranden erstellen, die die Wichtigkeit einer schlagkräftigen Armee größte Priorität zusagten, da ohne dieses Heer das brandenburgisch-preußische Kurfürstentum nicht in der Lage gewesen wäre, aktiv eigene Politik zu betreiben.[4]Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S.72.

Schon zu Lebzeiten seines Vaters unternahm er 16jährig eine Bildungsreise in die Niederlande. Das dortige fortschrittliche Staatswesen, das auf kulturellem, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet in Europa führend war,[5]Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 64-65. beeinflusste ihn tief und nachhaltig[6]Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 69.. Er heiratete die oranische Prinzessin Luise Henriette und schenkte ihr das Amt Bützow, dass sie nach niederländischem Vorbild und mit Unterstützung von niederländischen Kolonisten zu einem Mustergut verwandelte, das ihr zu Ehren den Namen „Oranienburg“ erhielt.[7]Vgl. Nachama, Andreas: Preußische Köpfe. Der Große Kurfürst. Berlin 1989. S.40. Sie pflanzten zum Beispiel die Kartoffel als Kulturpflanze.

Politisch vertrat der Kurfürst einen gemäßigten Absolutismus, der keine Absichten zur Eroberung fremder Länder erkennen ließ, aber deutlich machte, dass alle Macht vom Herrscher ausginge. Jedoch prägte vor allem die Prädestinationslehre sein Leben. Er war überzeugt, ein Auserwählter Gottes zu sein, bestimmt, Brandenburg-Preußen zu leiten. Für die Erlangung der ewigen Seligkeit kam es für ihn entscheidend auf den rechten Glauben an. Im Politischen Testament von 1667 legte er daher seinem Nachfolger die Vorzüge der calvinistischen Konfession nahe.[8]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 37-38.

„die Reformirte Religion, welche auff das wahre wortt Gottes, vndt auff die Simbola der Apostellen allein gegrundet, vndt ohne Menschen zusatz ist, In allen Eweren Landen moge vortgepflantzet werden.“.[9]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): … Continue reading

Er war davon überzeugt, dass auch seine Nachfolger Prädestinierte sein würden, geboren, das Land zu regieren. Er mahnte seine Nachfolger, sich dieser Auserwählung entsprechend zu verhalten, immer im Sinne Gottes zu handeln und ihm für seine Wohltaten zu danken.[10]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 35.

Sein Nachfolger solle dreimal täglich zu Gott beten und um Weisheit, Verstand und Beistand bitten, um so seinem Volk mit gutem Beispiel voranzugehen. Zudem soll er Gott für sein Volk und sein Land danken, dass er besitzt.[11]Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 67. Vgl. auch: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst … Continue reading

Der Thronfolger solle zwar die anderen Konfessionen dulden, aber beispielsweise trotzdem die Reformierten bei der Wahl der Räte bevorzugen.[12]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S.37. Die Räte sollen neben der reformierten Religion staatskundig sein und zudem ehrbar und verschwiegen.[13]Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 69.

„nemlich das es solche leutte sein sollen, so solche qualitet haben, das Sie zuforders Gott furchten, vndt dem geitze von hertzen feindt, vber dehm verschwigen, eines erbahren lebens, aufrichtig gemuhtes, etwa Staadts kundig vndt Der Reformirten Religion sein.“.[14]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): … Continue reading

Indem der Kurfürst sein Testament mit der Bekräftigung seines Gottesglaubens und mit dem Bekenntnis zur Förderung der reformierten Religion eröffnete, machte er damit das religiöse, speziell die Lehre des Calvinismus zum Zentralmotiv des Testaments und zur Klammer für alle anderen Grundsätze staatlicher und kirchlicher Politik.[15]Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 104

Er war stets darauf bedacht, den Lutheranern entgegenzukommen. Auch Katholiken tolerierte er, betonte aber dabei, dass er ihnen nicht mehr Recht verschaffen würde, als es ihnen nach dem Westfälischen Frieden zugestanden werden müsse.

„Ewere von Gott vntergebene vnterthanen musset Ihr ohne ansehung der Religion als ein rechter landes Vatter lieben.“.[16]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): … Continue reading

Die Haltung des Kurfürsten zu den konfessionellen Problemen seiner Zeit kam während den Westfälischen Friedensverhandlungen deutlich zum Ausdruck. Er trat der katholischen Reaktion im Reich als Wahrer der gesamtprotestantischen Interessen entgegen und verwandte sich für die Gleichberechtigung der beiden evangelischen Konfessionen auf der Grundlage ihrer Einheit im evangelischen Bekenntnis.[17]Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 70.

Bei den Bündnissystemen spielte die Konfession eine wichtige Rolle. Seine Meinung zu dem katholischen Frankreich war gespalten. Die deutschen Reichsfürsten versuchten es zu isolieren, aber Frankreich konnte sich Friedrich Wilhelms Neutralität sichern. Trotzdem argwöhnte Friedrich Wilhelm, denn die französischen Ausdehnungspläne bedeuteten auch eine drohende katholische Restauration. Deshalb schloss Friedrich Wilhelm 1672 mit den englischen Niederlanden einen Vertrag, gegen Subsidien eine Armee von 20 000 Mann für den niederländischen Krieg gegen das verbündete Frankreich zu stellen.

Friedrich Wilhelm blieb jedoch lange Zeit der einzige Verbündete der Niederlande, bis sich durch den Pfälzischen Erbfolgekrieg die Politik der anderen Länder änderte.[18]Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 73. Nach dem Pfälzischen Erbfolgekrieg näherten sich Brandenburg-Preußen und Frankreich 1679 wieder an und verhinderten so immer wieder eine Einheitsfront des Reiches gegen Frankreichs Eroberungen.

Diese Nähe dauerte sechs Jahre bis zum Edikt von Nantes im Jahre1685. Der französische König Ludwig XIV. verwehrte den Hugenotten, die calvinistischen Franzosen, die gleichen Rechte wie den katholischen Untertanen und verbot die Ausübung der Religion. Friedrich Wilhelm bot durch das Edikt von Potsdam seinen französischen Glaubensgenossen an, in Brandenburg-Preußen siedeln. Zusätzlich gewährte er diverse wirtschaftliche und religiöse Vorteile. Hierdurch kam es zum offenen Bruch mit Frankreich.[19]Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S.79-80.

Friedrich III./I.

Friedrich nannte sich einen Christen und wollte damit die Gleichheit aller christlichen Konfessionen bekunden.[20]Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 136. Er erkannte nur eine Autorität in Glaubensdingen: die Bibel. Auslegungen von Theologen, selbst von Luther und Calvin, interessierten ihn nur sekundär.

Er vertrat offen die Meinung, dass sich Lutheraner und Calvinisten in den wesentlichen Punkten eigentlich nicht voneinander unterscheiden.[21]Vgl. Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984. S. 146.

„zum fünften hat mein Successer wol acht zu haben, was Er führ bedienten an nimt, und wan es möglich, daß sie ja von der reformierten religion sein. Ich meine aber damit nicht, daß die Lutteraner von allen bedienungen sollen gäntzlich ausgeschloßen sein; dan ein Churfürst von Brandenburg allezeit zu reflectieren hat, daß seine meiste unterthanen Lutterisch sein und also sie nicht wol führbey gehen kann, und auch den lutterischen dem reformierten führ zu ziehen hat, wan er capabler ist wie der glaubensgenoße; seint sie aber gleich, so ist der reformierte führ zu ziehen und zu beneficieren.“[22]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Erste Ermahnung Kurfürst Friedrichs III. an seinen Nachfolger. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus … Continue reading.

Dennoch regelte er im gleichen religiösen Geist wie sein Vater, das Leben seiner Bevölkerung nach den calvinistischen Glaubensvorschriften, wie zum Beispiel das Arbeitsverbot an Feiertagen.[23]Vgl. Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984. S. 146. Er hielt er sich an das religiöse Vermächtnis seines Vaters und legte dieses Verhalten in seinem Testament auch wiederum seinem Nachfolger nahe.[24]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 62. Auch er begann  sein Testament mit einem religiösen Bekenntnis.[25]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 59. Er war überzeugt, dass der Calvinismus der Glaube der Herrscher von Brandenburg-Preußen bleibt und seine Kinder und Enkel in diesem Glauben aufgezogen werden.[26]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 46. Dabei waren für Friedrich I. drei Punkte für die Glaubenserhaltung charakteristisch: Die Prädestination, die religiöse Toleranz gegenüber allen Konfession und die Union zwischen den beiden protestantischen Konfessionen, allerdings nicht als Einheit. So versuchte er immer wieder, Reformierte und Lutheraner zu versöhnen und zu einer Kirchenunion zusammenzuführen.[27]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 67. Damit war er allerdings seiner Zeit weit voraus, den diese Kirchenunion fand in Preußen erst 1817 statt. In der Frage der Prädestination formulierte er allerdings nicht das eindringliche Erwählungs- und Sendebewusstsein seines Vaters. Gericke begründet dies mit seinem mangelnden Selbstbewusstsein.[28]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 46.

In seiner zweiten Ermahnung von 1705 nimmt die Außenpolitik einen großen Stellenwert ein, die konfessionell bestimmt sein solle. Brandenburg-Preußen sollte speziell mit Kursachsen, den Generalstaaten, Schweden und auch Dänemark gute Nachbarschaft pflegen.[29]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 60-61.

1701 konnte er sich zum König in Preußen krönen, weil der preußische Teil außerhalb des Heiligen Römischen Reiches lag. Da sich aber nur Ostpreußen in brandenburgischem Besitz befand, konnte er sich lediglich zum König in Preußen und nicht zum König von Preußen krönen lassen. Für dieses lang geplante Ziel hatte er seine Finanzen in den Ruin getrieben, um mit den anderen Königshäusern mithalten zu können. Mit Kaiser Leopold fand er in einem günstigen Moment einen Verbündeten für die Erlangung der Königswürde. Die Akzeptant der Kaisers war für die andren europäischen Königshäuser ein wichtiges Zeichen zur Anerkennung durch die anderen europäische Königshäuser. Doch auch der Kaiser Leopold I. zögerte vor der Krönung, denn er fürchtete einen Machtanstieg für die protestantischen Fürsten und versuchte noch, Friedrich zum Übertritt in den katholischen Glauben zu bewegen. Das war allerdings völlig illusorisch, denn Friedrich hatte nicht nur seinem Vater geschworen, dem evangelischen Glauben treu zu bleiben, sondern hätte es sicher auch auf Grund seiner Überzeugung nicht getan.[30]Vgl. Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984. S. 68.

Friedrich Wilhelm I.

Friedrich Wilhelm I. schien in vielerlei Hinsicht das Gegenteil seines Vaters gewesen zu sein. Doch wollte er letztendlich nicht alles anders machen, sondern vieles besser. Für ihn wog das Staatsinteresse stärker als die Meinung des Regenten. Dabei waren ihm die beiden evangelischen Konfessionen gleichwertig.[31]Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 180.

„Wahs die Religion anlanget, so bin ich und werde mit Gottes hülfe Reformiret sehlich sterben, indeßen bin versicherdt, das ein Lutterischer, der dar gottsehlich wandeldt, eben so guht sehlich werde als die Reformirte“[32]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading

Er war von der Prädestinationslehre, der universellen Gnadenlehre[33]Die Gnadenlehre besagt, dass Gott allen Menschen ohne Unterschied seine Gnade bietet und gewährt. Das bedeutet, dass man Gnade nicht besitzen kann. Sie wird einem verheißen. und dem Halleschen Pietismus August Hermann Frankes geprägt. Franke lehrte den Pietismus mit seinen Idealen an den Schulen. Es waren die gleichen Ideale, mit denen Friedrich Wilhelm I. von Kindheit an aufwuchs.[34]Vgl. Mast, Peter: Die Hohenzollern in Lebensbildern. Graz, 1988. S. 106. Friedrich Wilhelm I. verstand sich ganz und gar als Herrscher durch Gottes Gnaden. Daher nahm auch in seinem Testament der Glaube eine entscheidende Rolle ein. Neben einem langen Beginn über das christliche Bekenntnis des Königs endet fast jeder Abschnitt mit der Ermahnung, ein gottgefälliges Leben zu führen. Die konfessionellen Einheitspläne seines Vaters verfolgte er nicht weiter, erklärte aber immer wieder, dass der  Unterschied zwischen Lutheranern und Reformierten nur auf den Zankereien der Prediger beruhe und für ihn ein gläubiger Lutheraner einem Reformierten in der Bedeutung gleich sei.[35]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 72.

„das ein Lutterischer, der dar gottsehlich wandeldt, eben so guht sehlich werde als die Reformirte und der unterseidt nur herrühre von die Prediger Zenckereien. Haltet dehrowegen Reformirte und Lutterahner in geleiche würde, tuet sie alle beide Religionen.[36]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading […]
An alle Consistorien in euere Prowincen müßet Ihr scharf anbefehlen, das die Reformirte und Lutterahner auf den kancellen keine Contrawersen tracktieren und absonderlich von der genadenwahl nichts davon tuchiren und sonsten auf den Kancellen nur blohs das reine wohrt Gottes Predigen und Keine Zenckereyen anfangen, sondern müßet Ihr ummer zu einigkeit der beyden Religionen zu bearbeiten trachten.“[37]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading.

Gleichzeitig ermahnte er die Prediger, sich nicht in weltliche Angelegenheiten zu mischen und nicht andere Konfessionen abzulehnen, sondern nur das Wort Gottes zu predigen und nichts anderes.[38]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 73.

„Mein lieber Successor mus die Prediger in beyden Religionen nicht laßen sich in weldtliche afferen mischen, den sie gerne in weldtliche sachen sich misch und müßen kurtz gehalten werden.“[39]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading.

Nur gegen Jesuiten hegte er eine große Abneigung und nannte sie zu vielem Bösen fähig.[40]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 73.

Friedrich Wilhelms außenpolitisches Ziel bestand in der Wahrung und der Festigung von dem, was seine Vorfahren und er erreicht hatten. Deshalb flehte er 1722 in seinem Testament seinen Nachfolger an[41]Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 141., niemals einen ungerechten Krieg anzufangen, da Gottes Gericht scharf sei.

„Bettet zu Gott und fnget niemahlen ein ungerechte Kirg an, aber qozu Ihr recht habet, da laßet nicht ab.[42]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading […]
Mein lieber Succeßor bitte ich umb Gottes willen kein ungerechten krihgk anzufangen und nicht ein agressör sein den Gott die ungerechte Kriege verbohten und Ihr iemahls müßet rechenschaft gehben von ieden Menschen, der dar in ein ungerechten Krig gebliben ist; bedenk was Gottes gericht scharf ist.”[43]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading.

Dabei stand für Friedrich Wilhelm I. im Vordergrund, dass dabei Menschen sterben könnten, was weniger Steuereinträge bedeutete.[44]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986 S. 84.[/f] … Continue reading

Die Nachricht, dass ein kaiserliches Heer in Salzburg einfiel und alle Salzburger Protestanten durchsuchte und teilweise abführte, kam in Windeseile nach Brandenburg-Preußen. Friedrich Wilhelm I., als Herrscher der führenden protestantischen Macht im Reich, erboste sich darüber und lud alle Salzburger Protestanten ein, nach Preußen zu kommen.[45]Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 297-298. Zum gesamten Einwanderungsedikt vom 2. Februar 1732 siehe S. 311. Die für Friedrich Wilhelm I. wichtige Glaubensfreiheit verband er so mit seinen ökonomischen Interessen, denn viele Teile seines Landes waren immer noch unterbevölkert. Schon 1721 hatte Friedrich Wilhelm I. ein besonderes Einwanderungsedikt erlassen, wonach Immigranten ausnahmslos drei Jahre Steuerfreiheit und Befreiung vom Militärdienst gewährt wurde. Sie sollten sich bevorzugt in kaum besiedelten Gebieten niederlassen. Dabei wurde ihnen sämtliches Bauholz und 12,5% der Baukosten erstattet.[46]Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 302-304. So verbanden sich christliche Gesinnung und wirtschaftlicher Nutzen zum Vorteil Preußens.[47]Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 318. Die Hugenotten behandelte er nicht mehr als religiöse Minderheit, sondern wertete sie in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für den Staat.[48]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986 S. 81.

„Was die francosen oder Refugirte betrift, mus mein Succeßor die Privilegia, die Kurfürst friderich Wilhelm gegehben confirmiren.”[49]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading.

Auch beim Militär hielt er es mit dieser religiösen Toleranz und gewährte seinen katholischen Soldaten mindestens einmal im Monat einen katholischen Gottesdienst. Friedrich Wilhelm I. wollte mit aller Macht verhindern, dass sein Sohn das Heer verkleinere und kündigte ihm und seinen Nachfolgern im Testament von 1733 schwere Strafen Gottes an, wenn er tatsächlich die Zahl der Soldaten verringere. Wenn er stattdessen im Sinne seines Vaters handele, wäre ihm der Segen seines Vaters sicher. Friedrich Wilhelm I. Gottesvorstellung orientiert sich stark an dem strengen, Gerechtigkeit fordernden Gott des Alten Testamentes und bat immer wieder um die Vergebung seiner Sünden. Auch er hatte die Prädestinationslehre der Calvinisten sehr verinnerlicht.[50]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 74. Der Mensch sei nicht von vornherein zum Guten oder Bösen auserwählt, sondern habe es durch seine Taten selbst in der Hand, ob er zu den Auserwählten gehören werde oder nicht. Dabei sah sich Friedrich Wilhelm I. verantwortlich für die Taten seines ganzen Volkes.[51]Vgl. Mast, Peter: Die Hohenzollern in Lebensbildern. Graz, 1988. S. 100. In diesem Geiste fühlte er sich auch verantwortlich für die Taten seines ältesten Sohnes Friedrich, der sich in Friedrich Wilhelms Augen nicht gottesgläubig verhielt.

Friedrich II.

Als aufgeklärter Herrscher stand für Friedrich II. der Staat und nicht der Herrscher an erster Stelle.[52]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 93. Im Verlauf seiner Regierungszeit konnte jeder so religiös leben, wie er wollte.[53]Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 12.

Während sein Vater Friedrich Wilhelm seinem Glauben entsprechend nur Gott Rechenschaft schuldete, sah sein Sohn seine Aufgabe darin, nach bestem Wissen im Interesse eines Staates zu handeln, als dessen erster Diener er sich sah. Er war ein religiöser Skeptiker, deshalb wurde ihm „Pflicht“ zu einer Art Ersatzreligion.[54]Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 152.

“Es ist sehr gleichgültig für die Politik, ob ein Souverän Religion hat oder nicht. Alle Religionen sind, wenn man sie betrachtet, auf ein mythisches System gegründet, mehr oder weniger absurd.”[55]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen … Continue reading.

Friedrich II. war ein Deist. Deisten glauben an Gott aus Gründen der Vernunft und kritisieren die Verabsolutierung der Bibel. Sie glauben an die Schöpfung durch einen Gott, nehmen aber an, dass dieser Gott im Folgenden keinen Einfluss mehr auf die Geschehnisse im Universum nimmt. Friedrich II. warnte vor der Vernichtung von Aberglauben und Volksfrömmigkeit zu Gunsten einer Religion der Vernunft. Er sah in der christlichen Moral einen „unverzichtbaren Aktivposten“ für das gesellschaftspolitische Leben. Da die Toleranz für den aufgeklärten, preußischen König aus der Überzeugung entstand, dass alle Religionen gleichgeartete oder ähnliche Moralposten haben, waren für ihn alle Konfessionsunterschiede gegenstandlos. In seinem Verständnis hatte ein Staatsführer darauf zu achten, dass jede Konfession und Religion in seinem Land gleichberechtigt den anderen gegenüber ist.[56]Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 14-15. Dieser Topos wird auch in der Ringparabel aus Lessings „Nathan der Weise“ erzählt. Er erkannte, dass die Duldung verschiedenartiger Bekenntnisse dem Staat ökonomische Vorteile verschaffe, Intoleranz statt dessen den wirtschaftlichen Kredit ruiniere.[57]Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 21. Toleranz war für ihn eine Frage der Zweckmäßigkeit und ein Mittel der Staatsräson (Staatszweck).“[58]Zit. nach: Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 22.. Toleranz als „ein humanitäres und ein machtstaatliches Anliegen gleichermaßen.“[59]Zit. nach: Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 28.. Nicht als Frage des Ob, sondern des Wie. Während seine Ahnen religiös Verfolgten Asyl gewährte, räumte es gewährte Friedrich II. auch politisch Verfolgten ein.[60]Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 26.. Dieser Durchbruch vollzog sich ab 1740, unabhängig der Konfession, ob Muslim oder Ungläubiger.[61]Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 246-248.

Friedrich II. besaß eine rationale Religiosität die den Rechtfertigungsglauben seiner Vorfahren gänzlich ablehnte.[62]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 68. Gericke sieht in dem übermäßigen formalistischen  Religionsunterricht, dem Friedrich II. ausgesetzt war, einen hauptsächlichen Grund für das Abstumpfen dessen religiöser Empfindung.[63]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 70. Dennoch bleibt er der protestantischen Religion nahe verbunden. In seinen „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg“ von 1751 begründet er durch den freiheitlichen Geist und die Unabhängigkeit zum Papst die Vorteile der protestantischen Religion.[64]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 80. Dem Katholizismus gegenüber war er aufgeschlossen und tolerant.

„Ich suche gute Freundschaft mit dem Papst zu halten, um dadurch die Katholiken zu gewinnen und ihnen begreiflich zu machen, daß die Politik der Fürsten die gleiche ist, selbst wenn die Religion, deren Namen sie tragen verschieden ist. Indessen rate ich der Nachwelt, dem katholischen Klerus nicht zu trauen, ohne zuverlässige Beweise seiner Treue zu besitzen.“[65]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen … Continue reading.

Er blieb jedoch skeptisch, was besonders die Sympathien des schlesischen Klerus‘ für Österreich betraf. Sein Eintreten für die Protestanten hatte auch  starke politische Gründe.

„Die große Zahl der Katholiken findet sich in Schlesien. (…) Die Priester sind ziemlich zuverlässige Leute, die Mönche neigen mehr zum Hause Österreich.“[66]Zit. nach.: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): … Continue reading.

Schluss

Nicht alle Herrscher Brandenburg-Preußens verfolgten religiöse Ansichten, aber die Religion bei spielte bei den ersten drei Landesherren eine wichtige Rolle. Dabei ergänzte jeder die Bedeutung der Religion um bestimmte Ausprägungen, die ihm besonders wichtig waren.  Für den großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelm, war es die Auserwählung, für seinen Sohn Friedrich III./I. der Glaube an die Prädestinationslehre und das erfolglose Streben nach einer Union der protestantischen Konfessionen. Bei Friedrich Wilhelm I. nahmen die Prädestinationslehre, die Gnadenwahl und der Pietismus großen Einfluss auf das Leben des preußischen Königs. Die pietistischen Ideale, die Friedrich Wilhelm I. auslebte und sie in der Bevölkerung und im Heer verankerte, führten schließlich zu „den“ so genannten preußischen Idealen und entwickelten sich vom religiösen zum gesellschaftspolitischen Ideal und verankerten sich die preußischen Ideale im ganzen Reich als Preußen zur führenden deutschen Macht aufgestiegen war und gelten noch heute als typische Eigenschaften der Deutschen.

Erst der Sohn von Friedrich Wilhelms I., König Friedrich II., der erste nicht-absolutistische Herrscher Preußens, stand die Religion nicht an erster Stelle der Staatsräson.

Ein wichtiger Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch die Testamente zieht, ist die religiöse Toleranz, Die Toleranz des zum Calvinismus konvertierten Johann Sigismund, der seiner Bevölkerung ihren lutherischen Glauben ließ, verpflichtete alle folgenden brandenburg-preußischen Herrscher zum Konsens zwischen den Konfessionen. Diese zunehmende Toleranz wurde auch  bei den Bündnissen sichtbar. Während Friedrich Wilhelm noch Gewissensbisse hatte, sich mit dem katholischen Frankreich zu verbünden, annektierte Friedrich II. das katholische Schlesien und akzeptierte damit von vornherein, dass aus einer bisher kleinen eine starke katholische Minderheit wurde, die immerhin ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachte.

Die Religion spielte eine wichtige Rolle im Leben der vier erwähnten Herrscher. Der Verdienst der brandenburgisch-preußischen Herrscher ist die Toleranz gegenüber den Konfessionen und die Cleverness  zu erkennen, dass diese wesentlich zum Staatswohl beiträgt.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

  • Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986.

Literaturverzeichnis

  • Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986.
  • Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984.
  • Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977.
  • Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981.
  • Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980.
  • Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001.
  • Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973.
  • Mast, Peter: Die Hohenzollern in Lebensbildern. Graz, 1988.
  • Nachama, Andreas: Preußische Köpfe. Der Große Kurfürst. Berlin 1989.
  • Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971.
  • Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 72.
2 Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 23.
3 Vater von Albrecht Friedrich.
4 Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S.72.
5 Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 64-65.
6 Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 69.
7 Vgl. Nachama, Andreas: Preußische Köpfe. Der Große Kurfürst. Berlin 1989. S.40. Sie pflanzten zum Beispiel die Kartoffel als Kulturpflanze.
8 Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 37-38.
9, 14 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 181.
10 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 35.
11 Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 67. Vgl. auch: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 180.
12 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S.37.
13 Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 69.
15 Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 104
16 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 184.
17 Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 70.
18 Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 73.
19 Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S.79-80.
20 Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 136.
21, 23 Vgl. Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984. S. 146.
22 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Erste Ermahnung Kurfürst Friedrichs III. an seinen Nachfolger. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 214.
24 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 62.
25 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 59.
26, 28 Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 46.
27 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 67.
29 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 60-61.
30 Vgl. Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984. S. 68.
31 Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 180.
32, 36 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 234.
33 Die Gnadenlehre besagt, dass Gott allen Menschen ohne Unterschied seine Gnade bietet und gewährt. Das bedeutet, dass man Gnade nicht besitzen kann. Sie wird einem verheißen.
34 Vgl. Mast, Peter: Die Hohenzollern in Lebensbildern. Graz, 1988. S. 106.
35 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 72.
37, 39 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 235.
38, 40 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 73.
41 Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 141.
42 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 237.
43 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 239.
44 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986 S. 84.[/f] Getreu diesem Gedanken reformierte er sein Heer. Er verdoppelte zwar die Anzahl der Soldaten, rief sie aber im Jahr für nur 2-3 Monate zusammen. Die restlichen Monate gingen sie ihrer gewohnten Arbeit nach und sorgten so für fortdauernde wirtschaftliche Erträge für das Königreich.

Dabei halfen ihm die pietistischen Ideale Frömmigkeit, Ehrlichkeit, Fleiß, Zuverlässigkeit, Anstand, Sauberkeit, Geduld, Sittsamkeit, Genügsamkeit, Ordnungsliebe und Pünktlichkeit. Diese Ideale wurden später zu den preußischen Idealen typisiert. Seine persönliche Herrschaft glitt dabei nie in Tyrannei ab, wurzelte er doch in der tiefen Überzeugung, dass er eines Tages seinem Schöpfer für all sein Tun Rechenschaft ablegen müsse.[fn]Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 121.

45 Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 297-298. Zum gesamten Einwanderungsedikt vom 2. Februar 1732 siehe S. 311.
46 Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 302-304.
47 Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 318.
48 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986 S. 81.
49 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 2355.
50 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 74.
51 Vgl. Mast, Peter: Die Hohenzollern in Lebensbildern. Graz, 1988. S. 100.
52 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 93.
53 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 12.
54 Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 152.
55 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 315.
56 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 14-15. Dieser Topos wird auch in der Ringparabel aus Lessings „Nathan der Weise“ erzählt.
57 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 21.
58 Zit. nach: Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 22.
59 Zit. nach: Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 28.
60 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 26.
61 Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 246-248.
62 Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 68.
63 Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 70.
64 Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 80.
65 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 317.
66 Zit. nach.: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 315.

Die Reformkleidung der Frauen

Diese Hausarbeit habe ich im Sommersemester 2006 im Proseminar “Lebensreform um 1900” bei Dr. Christina Niem (Kulturanthropologie, Uni Mainz) verfasst.

Einleitung

Die Epoche der „Lebensreform“ um 1900 war ein relativ kurzlebiges Zeitfenster auf dem Weg zu unserer heutigen modernen Gesellschaft. Sie begann Ende des 19. Jahrhunderts und dauerte bis ca. 1914 als die Auswirkungen des 1. Weltkrieges dem Leben seinen ureigenen Stempel aufdrückten. Der Höhepunkt war ca. von 1900 bis 1905. Die Lebensreformer folgten anthroposophischen Lebensweisen. Unter dem Leitsatz: „Zurück zur Natur“ entstand eine Gegenbewegung zur Verstädterung und der Industrialisierung. Propagierte Lebensweisen waren: eine vollwertige Ernährung, die ökologische Landwirtschaft, der Vegetarismus, natürliche Heilverfahren/Naturheilkunde, Nudismus/ FKK, Sexualreform, Siedlungsprojekte wie die Gartenstädte und der Monte Verità, Bodenreform, Antialkoholismus, Gymnastik und Sport, Impfgegnertum, Körperpflege und die Reformkleidung. Bekannte Reformer waren u.a. Maximilian Bircher-Benner, Wilhelm Bölsche, Otto Buchinger, Karl Buschhüter, Adolf Damaschke, Sebastian Kneipp, Arnold Rikli, Johannes Ude, Bruno Wille, Werner Zimmermann, Hugo Höppener (Fidus).

In diesem Gesamtrahmen kam der Reformkleidung eine beachtliche Bedeutung zu, da sie den Übergang zu unserer heutigen Frauenkleidung darstellte.

Grundsätzlich betrachtet besitzt Kleidung eine Zeichenfunktion. Sie ist ein Mittel mit der sich Menschen nach außen zur Allgemeinheit hin präsentieren. Die Allgemeinheit nimmt einen Menschen als erstes über seine Kleidung, sein Auftreten, wahr und taxiert ihn oft danach. Die Kleidung, die Teil der Sachkulturforschung ist, ist ein kultureller Indikator sozialer Prozesse. Aus ihr lassen sich Schlüsse auf die soziale Stellung ihres Trägers ziehen. Zudem ist sie ebenso Mittel zur Ausgrenzung wie auch zur Abgrenzung innerhalb einer Gesellschaft bzw. innerhalb geschlechtsspezifischer Differenzen. Durch die Kleidung lassen sich weiterhin Schlüsse über die Konformität oder Individualität einer Person ziehen. Helge Gerndt beschreibt in seinem Buch „Kleidung als Indikator kultureller Prozesse“ eben diese Eigenschaft der Kleidung. Die Thematik der Reformkleidung ist in speziellem Maße auch ein Punkt der Körperlichkeit, der Hygiene und Krankheit, dem Umgang mit Unterkleidung und der Vorsorge bei der Menstruation.

Ich untersuche in dieser Hausarbeit inwieweit die Bewegung der Reformkleidung der Frau eine für die Lebensreform typische Reformbewegung war mit den wichtigen lebensreformerischen Aspekte der Verwissenschaftlichung, Hygienisierung und Ästhetisierung. An der Kleidungsreform hatten zwei Gruppen hauptsächlichen Anteil, die sich allerdings nicht in allen Fragen einig waren. Für die erste Gruppe, die Lebensreformer, war die Reform der Kleidung Teil des ganzheitlichen Wandels. Die zweite Gruppe, die Jugendstil-Künstler, wollten eine Änderung der Kleidung, um aus ihr so ein architektonisches Meisterwerk zu machen.

„Status quo“ vor der Kleiderreform-Bewegung

Hosen symbolisierten im Abendland Männlichkeit.[1]Daher trugen früher kleine Jungen immer Kleider, bis sie ab der Pubertät Hosen tragen durften. Frauen dagegen ihr Leben lang nicht. In vielen anderen Kulturen dagegen, z.B. in  China und in Arabien, gehören Hosen bzw. hosenartige Beinkleider schon länger zur Alltagskleidung von Frauen.[2]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 11.

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit wurde von den Landesfürsten Kleiderordnungen für die verschiedenen Stände und Gruppen (z.B. Juden oder Prostituierte) erlassen. Nach dem langwierigen Zerfall der Stände orientierte man sich seit der Aufklärung an der Pariser Mode.[3]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 22. Mode bekam den Status eines Luxus-Gegenstandes. Sie war teuer und wollte man mit der Mode gehen, musste diese immer wieder neu gekauft werden.[4]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 126. Wer von unteren Gesellschaftsschichten aufsteigen konnte, weil er zu Vermögen gekommen war oder auch nur diesen Anschein erwecken wollte, dokumentierte dies durch die Mode der höheren, vermögenderen Schichten. Es war eine Mode, die durch Korsetts aus Fischbein und Metallstangen, Tornüre (auch Krinoline genannt)[5]Eine Tornüre oder Krinoline ist ein künstliches Gestell über dem Gesäß, das dem darüber getragenen Rock die modisch aufgebauschte rückwärtige Betonung. und möglichst verschiedene Stoffe mit vielen Applikationen und Accessoires geprägt war. Je üppiger die Kleidung gearbeitet war, umso mehr Luxus und Reichtum zeigte man nach außen.[6]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 123. Nach dem Schönheitsideal jener Zeit wurde die weibliche Brust und das Gesäß sehr betonend herausgestellt und der Bauch möglich flach gedrückt. Als seitliche Silhouette entstand so eine S-Kurve.[7]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 31. Hierzu trug man eine aufgetürmte Lockenfrisur.

Anna Kühn errechnete in ihrem Buch das Gewicht der durchschnittlichen Frauenkleidung. Ein Hemd, ein weißes Beinkleid[8]Der Begriff „Beinkleid“ bezeichnet hier den Unterrock, der Begriff „geschlossenes Beinkleid“ eine Unterhose. Unterröcke gefährdeten die Gesundheit, da sich durch die Wärme Bakterien … Continue reading, ein Korsett, eine Kleidertaille, 2 Unterröcke und ein Kleiderrock ergaben ein Gewicht von 4,3kg. Dabei wogen alleine die drei Röcke 2,7kg und machen somit mehr als die Hälfte des Gesamtgewichtes aus. Allerdings wurden oft mehr als 3 Röcke getragen, im Winter war es meistens die doppelte Menge.[9]Vgl. Kühn, Warum können wir, 1901. S. 170. Da die Röcke aufsaßen, musste das beachtliche Gewicht alleine von den Hüften getragen werden. Ein Umstand, der auch angesichts der Einschnürung der Taille oft zu einer Überbelastung und Deformierung der Organe und zu Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt beitrug.

Die verbesserte Frauenkleidung bei den Frauenbewegungen

Außerhalb Deutschlands

Erste Veränderungen der Frauenkleidung entstanden bei Gruppierungen wie den Frühsozialisten und Quäkern. Diese lehnten hierarchische Strukturen ab, propagierten die Geschlechtergleichheit und waren so eine wichtige ideologische Basis in Sachen einer verbesserten Frauenkleidung im Allgemeinen und der Etablierung einer Frauenhose als Unterkleidung im Besonderen.[10]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 43.

In den USA entwarf die Quäkerin Amelia Bloomer ein Kostüm, das aus einer Jacke, einer langen Unterhose und einem kürzeren Rock darüber bestand und verbreitete es in ihrer Zeitschrift „The Lily“ 1851. Dieses Kostüm hatte sie nach einem Hosenkostüm eines Schweizer Sanatoriums entworfen, das sie bei einer Bekannten sah. Es sollte vor Kälte, Krankheiten und peinlichen Momenten schützen, bequem sein und man sollte sich darin sehr gut bewegen können.[11]Vgl. ebd. S. 50f. Doch die allgemeine Empörung des Establishments über die vermeintliche Vermännlichung der Frau und die Angst der Frauen vor einer gesellschaftlichen Isolation schreckte diese vor dem Tragen dieses Kostüms ab.[12]Vgl. ebd. S. 60. Das Bloomer-Kostüm fand daher keine Akzeptanz. Allerdings berichtete die ausländische Presse hierüber und so verbreitete sich  dieses Thema auch in Europa.

In England kam es um 1880 mit dem „Aesthetic Movement“ zu einer Neugestaltung der Frauen-kleidung, indem man auf mittelalterliche Schnittformen zurückgriff. In Norwegen standen die gesundheitlichen Aspekte im Vordergrund. Angesichts der Schädigung der weiblichen Organe durch das Tragen schwerer Kleidung wollte man die Last auf die Schultern verlagern. Fröken Christine Dahl brachte ihre Entwürfe zum deutschen internationalen Kongress 1896 mit und stellte sie dort vor. Ihre Kleidung hatte sie nach dem amerikanischen Vorbild entworfen und berücksichtigte hygienische Grundsätze.[13]Vgl. Stamm, Reformkleidung, 1976, S. 45. Aber, sowohl in Norwegen wie auch in England kam die neue Art der Kleidung ebenso wenig bei der breiten Bevölkerung an wie die Jahrzehnte vorher in den USA.

Innerhalb Deutschlands

Seit den 1880er Jahren beschäftigte sich die deutsche Presse mit den ausländischen Reformbestrebungen der Frauenkleidung.[14] Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 90. Besonders die Modezeitschrift „Gartenlaube“ kritisierte die vorherrschende Mode und verwies auf die gesundheitliche Gefährdung der Frau. Die Zeitschrift forderte, dass die Kleidung den Gesundheitskriterien der Ärzte (siehe Kapitel 4.1) entsprechen müsse und plädierte für das Tragen eines geschlossenen Beinkleides. Dessen Akzeptanz bedingte aber auch eine Verhaltensänderung der Frauen bei der Verrichtung der Notdurft und im Umgang mit der Menstruation. Die Zeitschrift stellte jedoch die herrschende Mode nicht in Frage.[15]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 27. Die breite deutsche Gesellschaft kritisierte die neuen Bestrebungen. Nur wenige Frauen hatten den Mut, die reformierte Kleidung zu tragen, zu groß war die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung. Trotzdem drangen die Gedanken der Reformer mit der Zeit immer tiefer und breiter in die Gesellschaft ein.

Institutionalisierung: Der Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung

Ausgelöst durch das Bloomers-Kostüm wurde in Berlin vom 19.-26. 9.1896 mit internationaler Beteiligung der „Internationale Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen“ abgehalten. Einen Monat später gründete sich der „Verein für Verbesserung der Frauenkleidung“ mit dem Motto „gesund – praktisch – schön“. Seine Leitsätze standen alle unter dem gesundheitsgefährdenden Aspekt der für die Änderung der Frauenkleidung sprach.[16]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 46f. Die Leitsätze waren: Vereinfachung der Unterbekleidung, Entlastung der Hüften, freie Gestaltung des Obergewandes mit Anlehnung an die Mode, Verkürzung des … Continue reading Mit der Gründung des Vereins nahmen sich nun auch verstärkt bürgerliche Frauen des Themas Frauenkleidung an. Der Verein forderte zwar eine verbesserte Kleidung, allerdings in Anlehnung an die herrschende Mode. 1) Ein anliegendes Hemd und Beinkleid oder Hemdhose aus durchlässigem, waschbarem Geweben, 2) Ein Leibchen oder Büstenhalter an Stelle des Korsetts und ein geschlossenes Stoffbeinkleid an Stelle der Unterröcke. 3) Ein fußfreies Straßen- und Arbeitskleid.[17]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 95. Da sich die Korrekturen auf die Untergewänder bezogen, war der Unterschied zur herrschenden Mode nach außen kaum sichtbar, wenn man von der Forderung des fußfreien Arbeitskleides absieht. Das neuartige Mieder ersetzte das Korsett und hatte den gesundheitlichen Vorteil, dass das Schnüren entfiel und somit das schwere Gewicht der gesamten Kleidung von den Schultern und deren kräftigen Knochen gehalten wurde und nicht mehr von der fragilen Taille.[18]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 27. Vom 11.-24. April 1897 fand die erste Ausstellung des „Vereins für Verbesserung der Frauenkleidung“ in Berlin statt, an der sich 35 Firmen aus Industrie und Handwerk beteiligten und die 8.500 Besucher zählte.[19]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 48. Auf den folgenden Seiten geht Brigitte Stamm die Thematik tiergehender ein. Durch intensive Aufklärungsarbeit und Vortragsveranstaltungen von Frauenbewegungen und Ärzten wollten die Reformer ihre sozialreformerischen Ideen verbreiten. Durch Auskunftssitzungen, Vorträge, Ausstellungen oder Ausstellungsbeteiligungen und Drucksachen (Bilderbögen, Flug- und Merkblätter und Vereinszeitschriften) machte man das Thema in der Öffentlichkeit präsent.[20]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, 51f. Der Verein hatte allerdings kaum Mitglieder aus der breiten Gesellschaft und war somit keine Organisation der breiten Masse.[21]Vgl. ebd. S. 87.

Die „lebensreformerischen Aspekte“ bei der Reformkleidung

Hygienisierung und Verwissenschaftlichung

Die gesundheitliche Gefährdung durch das Tragen des Korsetts und der Schleppe wurde von Ärzten schon seit Jahrzehnten angemahnt. Das Interesse, die Frauenkleidung zu verbessern war bei den Medizinern hauptsächlich von dem Wunsch nach gesundem Nachwuchs geprägt. So war das Interesse an einer gesünderen Kleidung erst einmal ein Mittel zum Zweck, für die Frauen aber letztendlich ein wichtiger Nebeneffekt.[22]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 38f.

Um 1900 waren Korsett und Schleppe am Straßenkleid Hauptkritikpunkte der Mediziner.

Dem Korsett schrieb der Arzt Neustätter viele Krankheiten zu.[23]Vgl. Stamm, Reformkleid in Deutschland, 1976, S. 38f. Mädchen wurden schon früh geschnürt, weil man so am effektivsten die Taille in die gewünschte Form schüren konnte. Die Straßenschleppe entstand durch einen eng an den Oberschenkeln anliegender Rock, der immer auf dem Boden schleifte und so Dreck und Exkremente vom Boden von der Straße in die Wohnung trug.[24]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 118f. Zwar versuchten die Frauen, die Schleppe hochzuhalten, brauchten dafür aber unbedingt beide Hände, was bei Einkäufen oder Regen nicht möglich war. Auf diese Weise wurde besonders die Tuberkulosegefahr thematisiert.[25]Vgl. ebd. S. 101f. 1908 verschwand die Schleppe dann aus der Mode.[26]Vgl. ebd. S. 121.

Das Bild des „schwachen“ und immer krankenden Geschlechtes wurde durch die herrschende Mode verstärkt. Einerseits war die Frau durch die beschränkte Bewegungsfreiheit sehr auf die Hilfe ihre männlichen Mitmenschen angewiesen und erkrankte andererseits durch die Folgen des Schnürens und die unhygienischen Folgen der Schleppe und der offenen Beinkleidung.

Neben den Ärzten beschäftigten sich auch Soziologen mit der Mode. In dieser Arbeit seien als Beispiel Georg Simmel und sein Werk „Philosophie der Mode“ (1895) und Werner Sombart mit „Mode und Wirthschaft“ (1902) genannt. Beide Autoren betrachteten aus verschiedenen Perspektiven die Mode als gesellschaftliches Phänomen. Sombart aus nationalökonomischer, Simmel aus sozialpsychologischer Sicht.

Mode war für Simmel eine Möglichkeit zur Anerkennung für labile, unselbstständige Menschen. Sie lädt zum Nachahmen ein und zur äußerlichen Abgrenzung. Sombart kam nach Gesprächen mit Großindustriellen zum Schluss, dass Kleidung nicht von ihren Trägern bestimmt wird, sondern von den Herstellern. Diesen sei allerdings nur der Profit wichtig. Die Mode trägt nach seiner Meinung zur Vereinheitlichung und nicht zur Individualisierung bei. Er formulierte in seinem Werk aber keine Verbesserungsvorschläge.[27]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 92-95f. Einig waren sich beide in der Meinung, dass die herrschende Mode eine Begleiterscheinung der Industrialisierung und Urbanisierung des 19. Jahrhunderts sei. Die Nervosität dieser Epoche könne man auch in der ständig wechselnden Mode erkennen.[28]Vgl. Ebd., S. 90.

Ganz besonders nahmen sich aber die Lebensreformer der Verbesserung der Frauenkleidung an. Sie forderten eine natürlichere Kleidung, die den Körper nicht beeinträchtigt, sondern in dem man sich völlig frei bewegen konnte.[29]Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974. S. 9. Der Nudist Hugo Höppener, genannt Fidus, entwarf mit seinem Lehrer Karl Wilhelm Diefenbach für seine Kinder und Frauen … Continue reading Die herrschende Mode war ein Spiegel der industrialisierten Gesellschaft, die sich immer weiter von der Natur und der Natürlichkeit entfernte und sich selber krank machte.[30]Vgl. Linse, Das „natürliche“ Leben, 1998. S. 444.

Ein Lebensreformer war auch der Arzt und Zoologe Gustav Jäger. Er gehörte zu den wichtigsten frühen Vertretern der Kleiderreform. Er propagierte in seinem Werk „Die Normalkleidung als Gesundheitsschutz. Gesammelte Aufsätze aus dem „Neuen Deutschen Familienblatt“ (1872-1880)“ von  1881 seine Jägersche Normalkleidung aus Wolle, die sehr schnell Zuspruch fand.[31]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 23f. Er entwickelte zu den Körperausdünstungen eine Seelentheorie, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann.[32]Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974, S. 108f. Ebenso: Stamm Reformkleid in Deutschland, 1976, S. 16f.

Heinrich Lahmann[33]Lahmann hatte Medizin studiert und unterhielt das Sanatorium „Weißer Hirsch“ bei Dresden., ein Kritiker Jägers, kritisierte die Wollkleidung als gesundheitsschädlich, da sie eine permanente Hautreizung bewirke. An ihrer Stelle wollte Lahmann die Baumwolle verwendet wissen, da sie luftdurchlässig sei, den Schweiß aufsauge und die Haut weder verkühle noch reize und erhitze.[34]Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974, S. 109. Dieser Meinung war auch der Pfarrer Sebastian Kneipp. Für ihn war es wichtig, dass Menschen nicht nur angemessene Kleidung trugen, sondern für eine Abhärtung des Körpers sorgten, um seltener krank zu werden. Auch propagierte er ein richtiges Maß an Kleidung, da zu viel Kleidung auch krank machen könne.[35]Vgl. Kneipp, So sollt ihr leben, S. 35f. Er hatte die Erfahrung gesammelt, dass Rheumakranke in Wolle gekleidet oftmals Krämpfe von Kopf bis Fuß hatten, über kalte Füße klagten und dass ihnen das Blut in den Kopf schoss. Bei Kleidung aus Leinen aber machte er diese Beobachtung sehr selten.[36]Vgl. ebd. S. 42. So konstatierte er, dass man in Wolle mehr schwitzte, da die Wolle keine Körperwärme ableite und der eigene Schweiß kühle und man friere. Für den Sommer empfahl er daher eine lockere Tuchhose aus Baumwolle als Unterkleidung, für den Winter eine Leinenunterhose.[37]Vgl. Kneipp, So sollt ihr leben, 1890, S. 44f. Als Oberbekleidung sollte man nichts zum Schnüren oder Binden tragen, sondern nur Kleidung die Schultern getragen wird und bei der Arbeit kein Hindernis ist.[38]Vgl. ebd. S. 51. Alle Lebensreformer waren sich einig, dass Kleidung luftdurchlässig sein müsse, um „allen durch die Haut entweichenden ausscheidungsbedürftigen Stoffen freien Durchgang“ zu gewähren. Neben nicht einengender Kleidung und geschlossener Unterwäsche sowie einem guten Material erkannte man auch die Wichtigkeit der Bewegung. Sport wurde im 19. Jh. zunächst nur von Männern ausgeübt. Bei Frauen befürchtete man eine Gefährdung der Fortpflanzungsorgane. Da aber seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bekannt war, dass Bewegung die Gesundheit stärkt und viele Krankheitssymptome verschwinden lässt, empfahl man nun Frauen Spazierengehen oder maßvolles Tanzen, um so das „schwache Geschlecht“ nicht zu überfordern. Um 1900 fand dann aber auch für Frauen der Sport eine gesellschaftliche Akzeptanz. Hierfür  brauchte man jedoch lockere Kleidung, um sich frei bewegen zu können. Sport, Turnen und Gymnastik waren neue gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Möglichkeiten, die es Frauen erlaubte, Kleiderexperimente zu wagen die später in die Alltagskleidung einflossen.[39]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 104. 1900 wurden erstmals Frauen bei den Olympischen Spielen zugelassen.[40]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 31. In der Kunst bracht der Ausdruckstanz eine neue Repräsentation des weiblichen Körpers auf die Bühnen.[41]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 151f.

Ästhetisierung

Die Jugendstil-Künstler waren in allen Bereichen der Lebensreform anzutreffen, besonders in der Gartenstadtbewegung. Aber auch bei der Reformkleidung, die sie nach architektonischen Idealen neu entwarfen. Diese Ideen hatten in der englischen Arts-And-Crafts-Bewegung ihren Ursprung. Sie propagierten einen schlanken Frauenkörper, der von der Kleidung umflossen und nicht geformt wurde.[42]Vgl. ebd. S. 26.

Für die Kleiderreform wichtige Jugendstil-Künstler waren Alfred Mohrbutter, Richard Riemerschmid, Peter Behrens, Gustav Klimt und besonders der Wortführer Henry van de Velde (1863-1957), ein belgischer Architekt, Designer und einer der wichtigsten Jugendstil-Künstler. Unter dem Einfluss der englischen Arts and Crafts-Bewegung begann van de Velde, Möbel und Inneneinrichtungen zu entwerfen. Er zog nach Deutschland, wurde Leiter der Kunstgewerbeschule Weimar und im selben Jahr Gründungsmitglied des Deutschen Werkbundes. Nach dem 2. Weltkrieg zog er in die Schweiz.[43]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 98f.

Er wollte, dass neue Formen Kunst und Leben durchdringen sollten. Deswegen entwickelte er eine neue Ästhetik der Frauenkleidung, die in den Stil der Moderne integriert werden sollte.[44]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 90.

Van de Velde übte in 8 Punkten Kritik an der herrschenden Mode.[45]Vgl. Stamm Reformkleid, 1976. S. 53f. Er kritisierte besonders den Historismus mit seiner Stoffvielfalt, unsichtbare Nähte und Imitationen von Seide, Spitze, Samt und Wolle. Die Materialgerechtigkeit der Jugendstil-Künstler benutzte für einen bestimmten Zweck einen bestimmten Stoff.[46]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 113f. Kleidung, die nicht den natürlichen Anforderungen entspreche, sei moralisch verwerflich und ein Kleidungsstück verliert seine Funktion, wenn eine unlogische Konstruktion Gliedmaßen und Gelenke nicht erkennen lässt und so die Schönheit der weiblichen Gestalt verloren geht.[47]Vgl. ebd. S. 116-118. Das zentrale Anliegen den Jugendstils sei es, alle Bereiche des Lebens künstlerisch neu zu durchdringen, durch Vernunft, Logik, Schönheit und Moral adäquate Gestaltungsprinzipien zu finden.[48]Vgl. ebd. S. 121.

Auf mehreren Ausstellungen um 1900 in deutschen Städten hatten auch Lebensreformer die Möglichkeit dort ihre selbstentworfenen Kleider zu präsentieren. Die dort ausgestellten Kleider zeigten deutlich, dass jeder Künstler unterschiedliche Zielsetzungen verfolgte. So war es für den einen die Dekoration, für einen anderen die malerische Auffassung und für den Dritten das architektonische Prinzip am wichtigsten. Ab 1903 konnte man im Berliner Warenhaus Wertheim solche Künstlerkleider sogar kaufen. Dadurch wurde die Reformidee deutlich popularisiert.

Die Jugendstil-Künstler gehörten zum „Deutschen Werkbund“. Er wurde 1907 in München gegründet und beschäftigte sich mit Einsetzen des 1. Weltkrieges u.a. auch intensiv mit der Gestaltung der Frauenkleidung.[49]Vgl. ebd. S. 138. Daran war Anna Muthesius, die Frau des Initiators des Deutschen Werkbundes, in besonderem Maße beteiligt. Sie forderte, Frauen sollten nicht alle gleich aussehen, sondern unterschiedliche Kleidung, passend zu ihrem Charakter und ihrer Ästhetik tragen und so ihre Individualität ausdrücken. Sie sollten lernen, einen eigenen Geschmack zu entwickeln[50]Vgl. ebd. S. 144f.. Gleiches forderte auch der Künstler Alfred Mohrbutter. Ihm gefiel das Reformkleid der Lebensreformer aus ästhetischen Gründen nicht, er schätzte aber dessen Funktion.[51]Vgl. Mohrbutter, Das Kleid der Frau. Darmstadt, 1904, S. 9f.

Viele Jugendstilkünstler wie van de Velde und Mohrbutter verhielten sich in der „Korsettfrage“ zurückhaltend. Aber der Architekt und Publizist Paul Schultze-Naumburg forderte in seinem Buch „Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung“ die Abschaffung des Korsetts aus hygienischen und ästhetischen Argumenten. Er berücksichtigte alle ästhetischen Gestaltungsprinzipien bei seinen Überlegungen, wie man Kleidung ohne Korsett am Körper befestigen könne. Er unterstützte die Aufhängung der Kleidung an den Schultern. Dort verbiege sie nichts und hindere auch nicht am Atmen.[52]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 140f. Schultze-Naumburg ermahnte die Frauen auch, sofort nach dem Ablegen des Korsetts mit Gymnastik und sonstiger Bewegung zu beginnen.[53]Vgl. ebd. S. 172f.

Auch für Carl Stratz waren Gesundheit und Schönheit unmittelbar verbunden. Stratz ließ Frauen vermessen und suchte dafür Frauen unterschiedlicher Figur, um so besser den Mittelwert zwischen unterster und oberster Grenze zu finden und errechnete damit für verschiedene Körperteile. Diese Werte wurden für unsere heutigen Konfektionsgrößen wichtig.[54]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 165f.

Die Betonung der Natürlichkeit des Körpers, die Befürwortung des antiken, griechischen Typus in der Aktdarstellung spielte für ihn eine große Rolle. Das Ideal des nackten, unverkümmerten menschlichen Körpers bildete die Grundlage für die neu zu entwerfende Kleidung und führte nicht nur bei Stratz, sondern bei allen Jugendstil-Künstlern zu einer Wiederaufnahme der Renaissance- bzw. des antiken Kleidungsstils.[55]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 125. Die Anknüpfung an die Antike oder die Beschäftigung mit anderen, meist außereuropäischen Völkern, legitimierte den Blick auf den nackten Frauenkörper nach Schultze-Naumburg. Er stellte zudem die These auf: Je höher die vermeintliche Entwicklung der Rasse, desto ausgeprägter die sekundären Geschlechtsmerkmale. Am ausgeprägtesten wäre die „weiße Rasse“.

Stratz erläutert in seinem Buch „Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung“ drei Formen von Nacktheit: Die „natürliche Nacktheit“ zeigt sich bei „niederen Rassen“, die keine Schamhaftigkeit bei Nacktheit zeigten, sondern sich in natürlichen Stellungen fotografieren lassen. Europäerinnen zeigen dagegen die „sinnliche Nacktheit“ mit Niederschlagen der Augenlider als Äußerung des Schamgefühls und unwillkürliche Bedeckung der Brüste und des Intimbereiches. Die dritte Form der Nacktheit sei die „künstlerische Nacktheit“. Diese Form ist weit von den anderen entfernt und Folge der Rückwendung zu der Natur und der Natürlichkeit, wie Gott den Menschen geschaffen hat.[56]Vgl. Stratz, Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung, 31904, S. 22.

Der breite Durchbruch

Noch 1894 war es üblich, dass die Frau den Haushalt führte, aber nicht außerhalb des Grund-stückes arbeitete. 1900 war es der Normalfall, dass die Frau den Haushalt erledigte, aber auch außerhalb des Grundstückes arbeitete. Die öffentliche Meinung, dass sich eine Frau um Haushalt und Nachwuchs kümmern und nicht außerhäuslicher Arbeit nachgehen soll, war im Alltag nicht mehr umsetzbar.[57]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 33. Viele Arbeiterfamilien waren so arm, dass nicht nur die Frauen, sondern sogar Kinder mithelfen mussten; sowohl im Haushalt als auch in außerhäuslichen Arbeiten.[58]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 152.

Wenige Jahre später veränderte sich die Pariser Mode. Der Pariser Modemacher Paul Poiret stellte 1911 eine neue, vereinfachte Mode vor mit überschlanken Hüften und dem Hosenrock – die Resonanz war aber hauptsächlich negativ.[59]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 223. Diese neue, vereinfachte Mode hemmte das Bekanntwerden der Reformkleidung.[60]Vgl. Stamm, Reformkleid in Deutschland. Berlin, 1976. S. 140.

Im ersten Weltkrieg sah man, dass Frauen durchaus in der Lage waren, so genannte Männerberufe auszuüben. Für die Männerarbeit sollten die Frauen während ihrer Arbeitszeit vorerst die männliche Arbeitskleidung tragen.[61]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 212. Das waren lange Hosen und Kittelblusen oder Arbeitsjacken.[62]Vgl. ebd. S. 197f. Durch das nun selbstverständliche Tragen von Hosen bei Frauen – wenn auch nur zwangsläufig bei der Arbeit – verwischte die Grenzen zwischen den Geschlechtern allmählich. So ging die Frau gestärkt und mit neuem Selbstbewusstsein aus dem Krieg heraus. Sie war in ehemalige Männerdomänen unwiderruflich eingedrungen[63]und hatten auch gelernt bzw. lernen müssen, ohne den Mann auszukommen, für ihre Kinder zu sorgen und durch die eigene Arbeit den Lebensunterhalt zu sichern. So schienen eigentlich Jahrzehnte … Continue reading

Während der 1930er Jahre erlebte die Frau durch die NS-Ideologie einen „Rückschlag“, sollte sie doch wieder nur als Mutter und Ehefrau im Haushalt arbeiteten. Doch der zweite Weltkrieg brachte eine tiefe Zäsur und es waren die Frauen, die an Stelle der Männer, die als Soldaten eingezogen waren, auch schwere Männerarbeit in den Fabriken leisten mußten.[64]Vgl. ebd. S. 248-250.

Nach dem Krieg wurde die Frau weiterhin als Arbeiterin gebraucht, man denke nur an die legendären Trümmerfrauen. Mit dem Wiederaufbau der Industrie, die Arbeitskräfte brauchte, und der Wandlung der Gesellschaft wurden immer mehr Frauen berufstätig. Die Mode der Nachkriegsjahre war weiblich, aber man schätzte immer mehr das praktische an Hosen, besonders im Winter. Bei kleinen und größeren Kindern schätze man im Alltag besonders den Vorteil von Latzhosen, boten sie durch die Regulierungsmöglichkeiten eine mehrjährige Verwendung in der Wachstumszeit der Kinder. Später kamen die Halbhosen als Trainingshosen oder Skihosen, auch Lastexhosen genannt, hinzu. Die Kinder schätzten auch als Jugendliche und später als Erwachsene den Vorteil der Hosen, die immer modischer wurden. Besonders junge Menschen trugen gern und oft die neuen Frauenhosen, damals allerdings noch mit züchtigerem, seitlichem Reißverschluss und freuten sich, den „American Look“ tragen zu können. Mit der weitergehenden Liberalisierung der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Etablierung der Jeans glich sich auch der Hosenschnitt immer mehr jenen der Männer an, ja, Frau trug sogar eigentlich für Männer geschneiderte Jeans. Und diesmal blieb der laute Protest aus.[65]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 262f. Es ging nicht mehr um das Ob des Hosentragens, sondern um das Wie. Die Hose wurde nicht nur ein Modefaktor, sie wurde immer mehr Zeichen des Protestes von überwiegend  jungen Menschen, die sich gegen die Gesellschaft auflehnten. Zur Zeit der Studentenrevolten konnte man auch „Bloomers“ kaufen, die stark an die Pluderhosen des Bloomer-Kostüms erinnern.

Seitdem ist es völlig normal, dass Frauen zu allen Gelegenheiten  Hosen tragen.[66]Vgl. ebd. S. 268-270.

Schlusswort

Durch Ärzte und Wirtschaftler erfolgte eine Diskussion auf wissenschaftlicher Ebene, die Lebensreformer traten mit den Ärzten für eine Hygienisierung und damit verbesserte Lebensqualität ein und die Künstler des Jugendstils entwarfen Kleidung nach ihren ästhetischen Ideen.

Die Reformkleidung wurde in Deutschland von ca. 1898 bis 1910 getragen. Die Kleidung der Jugendstil-Künstler betrifft sogar nur den Zeitraum 1900 bis 1904. In dieser Zeit schaffte es die Reformkleidung nicht, sich gegen die herrschende Mode durchzusetzen. Erst durch die veränderten gesellschaftlichen Strukturen nach dem 1. Weltkrieg hielten ihre Ideale Einzug in die breite Gesellschaft. Hier ist eine Gemeinsamkeit mit anderen lebensreformerischen Themen zu erkennen. Ebenfalls, dass es für die breite Masse gedacht war, doch letztendlich auch durch den persönlichen Aufwand der Herstellung um 1900 nur für bürgerliche Frauen finanzierbar war, besonders die Kleidung der Künstler. Auch brauchten nicht-bürgerliche Schichten keine Unterscheidung zwischen Hauskleid und Abendkleid. Diese Unterteilung entspricht dem Prestige- und Repräsentationsbedürfnis gehobenerer Schichten.

Somit war die Reformbewegung der Frauenkleidung eine für die Lebensreform typische Ausprägung, da sie alle ihre Aspekte aufweist und Themen wie Natürlichkeit und entsexualisierte Nacktheit anspricht. Allerdings wurde sie erst nach dem 2. Weltkrieg durch die Massenproduktion für alle erschwinglich.

Die Gesellschaft wurde von Grund auf erneuert und die Frauen gingen mit einem stärkeren Selbstbewusstsein aus den Kriegsphasen hervor. Langfristig gesehen verfehlte sie aber ihre Wirkung nicht, sondern ebnete den Weg zu unserer heutigen individuellen Mode.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

  • Boehn, Max von: Die Mode. Menschen und Moden im 19. Jahrhundert 1878-1914. München 1919.
  • Jäger, Gustav: Die Normalkleidung als Gesundheitsschutz. Gesammelte Aufsätze aus dem „Neuen Deutschen Familienblatt“ (1872-1880). Stuttgart 1881.
  • Kneipp, Sebastian: So sollt ihr leben. Kempten 71890.
  • Kühn, Anna: Warum können wir die herrschende Kleidung nicht als gesund, praktisch und schön bezeichnen? o.O. 1901.
  • Mohrbutter, Alfred: Das Kleid der Frau. Darmstadt 1904.
  • Sombart, Werner: Wirthschaft und Mode. Ein Beitrag zur Theorie der modernen Bedarfsgestaltung. Wiesbaden 1912.
  • Stratz, Carl Heinrich: Die Schönheit des weiblichen Körpers. Den Müttern, Ärzten und Künstlern gewidmet. Stuttgart 31904.

Literaturverzeichnis

  • Fischer-Homberger, Esther: „Krankheit Frau“. In: Imhof, Arthur E. (Hg.): Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit. Berlin 1983. S. 215-229.
  • Gerndt, Helge: Kleidung als Indikator kultureller Prozesse. Eine Problemskizze. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 70 (1974). S. 81–92.
  • Krabbe, Wolfgang R.: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Göttingen 1974.
  • Linse, Ulrich: Das „natürliche“ Leben: Die Lebensreform. In: Richard van Cülmen (HG.): Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000. Wien/Köln/Weimar 1998. S. 435-456.
  • Ober, Patrizia: Der Frauen neue Kleider. Das Reformkleid und die Konstruktion des modernen Frauenkörpers. Kempten 2005.
  • Stamm, Brigitte: Das Reformkleid in Deutschland. Berlin 1976.
  • Welsch, Sabine: Ausstieg aus dem Korsett: Reformkleidung um 1900. In: Kai Buchholz (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Band 2. Darmstadt 2001.
  • Wolter, Gundula: Hosen, weiblich. Kulturgeschichte der Frauenhose. Marburg 1994.

 

Fußnoten

Fußnoten
1 Daher trugen früher kleine Jungen immer Kleider, bis sie ab der Pubertät Hosen tragen durften. Frauen dagegen ihr Leben lang nicht.
2 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 11.
3 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 22.
4 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 126.
5 Eine Tornüre oder Krinoline ist ein künstliches Gestell über dem Gesäß, das dem darüber getragenen Rock die modisch aufgebauschte rückwärtige Betonung.
6 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 123.
7 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 31.
8 Der Begriff „Beinkleid“ bezeichnet hier den Unterrock, der Begriff „geschlossenes Beinkleid“ eine Unterhose. Unterröcke gefährdeten die Gesundheit, da sich durch die Wärme Bakterien leicht bilden und vermehren konnten und außerdem wegen der Körperwärme und Feuchtigkeit gerne kleinen Insekten und Spinnen dort ansiedelten.
9 Vgl. Kühn, Warum können wir, 1901. S. 170.
10 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 43.
11 Vgl. ebd. S. 50f.
12 Vgl. ebd. S. 60.
13 Vgl. Stamm, Reformkleidung, 1976, S. 45.
14 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 90.
15, 18 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 27.
16 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 46f. Die Leitsätze waren: Vereinfachung der Unterbekleidung, Entlastung der Hüften, freie Gestaltung des Obergewandes mit Anlehnung an die Mode, Verkürzung des Straßenkleides. Stamm, Reformkleid in Deutschland, 1976, S. 47.
17 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 95.
19 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 48. Auf den folgenden Seiten geht Brigitte Stamm die Thematik tiergehender ein.
20 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, 51f.
21 Vgl. ebd. S. 87.
22 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 38f.
23 Vgl. Stamm, Reformkleid in Deutschland, 1976, S. 38f.
24 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 118f.
25 Vgl. ebd. S. 101f.
26, 48 Vgl. ebd. S. 121.
27 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 92-95f.
28 Vgl. Ebd., S. 90.
29 Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974. S. 9. Der Nudist Hugo Höppener, genannt Fidus, entwarf mit seinem Lehrer Karl Wilhelm Diefenbach für seine Kinder und Frauen lose fallende Kittel und Kleider, die weder einengten noch einschnürten. Fidus und Diefenbach bevorzugten die Nacktheit, entschieden sich aber nach dem ersten Nudistenprozess für sackähnliche Reformgewänder, bei denen das Gespür für Nacktheit im bekleideten Zustand nicht verloren ging.
30 Vgl. Linse, Das „natürliche“ Leben, 1998. S. 444.
31 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 23f.
32 Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974, S. 108f. Ebenso: Stamm Reformkleid in Deutschland, 1976, S. 16f.
33 Lahmann hatte Medizin studiert und unterhielt das Sanatorium „Weißer Hirsch“ bei Dresden.
34 Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974, S. 109.
35 Vgl. Kneipp, So sollt ihr leben, S. 35f.
36 Vgl. ebd. S. 42.
37 Vgl. Kneipp, So sollt ihr leben, 1890, S. 44f.
38 Vgl. ebd. S. 51.
39 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 104.
40 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 31.
41 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 151f.
42 Vgl. ebd. S. 26.
43 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 98f.
44 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 90.
45 Vgl. Stamm Reformkleid, 1976. S. 53f.
46 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 113f.
47 Vgl. ebd. S. 116-118.
49 Vgl. ebd. S. 138.
50 Vgl. ebd. S. 144f.
51 Vgl. Mohrbutter, Das Kleid der Frau. Darmstadt, 1904, S. 9f.
52 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 140f.
53 Vgl. ebd. S. 172f.
54 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 165f.
55 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 125.
56 Vgl. Stratz, Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung, 31904, S. 22.
57 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 33.
58 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 152.
59 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 223.
60 Vgl. Stamm, Reformkleid in Deutschland. Berlin, 1976. S. 140.
61 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 212.
62 Vgl. ebd. S. 197f.
63 und hatten auch gelernt bzw. lernen müssen, ohne den Mann auszukommen, für ihre Kinder zu sorgen und durch die eigene Arbeit den Lebensunterhalt zu sichern. So schienen eigentlich Jahrzehnte zwischen den zwanziger Jahren und der Vorkriegszeit zu liegen.[fn]Vgl. ebd. S. 238.
64 Vgl. ebd. S. 248-250.
65 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 262f.
66 Vgl. ebd. S. 268-270.

Juden in der Burschenschaft im 19. Jahrhundert

Diese Hausarbeit habe ich im Wintersemester 2005/06 im Seminar “Urburschenschaftlicher und nationaler Gedanke im 19. und 20. Jahrhundert” bei Dr. Helma Brunck (Geschichte, Uni Mainz) verfasst.

Einleitung

Juden repräsentieren 2006 in Deutschland einen Bevölkerungsanteil von 100.000 bei 80 Mio. Bis 1938 waren es 600.000 in Deutschland bei 60 Mio. Und 200.000 in Österreich. Diskriminiert wurden Juden in allen Zeitepochen, auch wenn es immer wieder auch friedlich Zeiten hab.

Viele Berufe waren ihnen verwehrt, wie z. B. der “ehrbare” Handwerksberuf. So ist es nicht verwunderlich, dass so viele Juden als Händler den Lebensunterhalt verdienten oder mit Geldgeschäften. Dieser Umgang mit Gold im Allgemeinen schürte den Neid der nicht jüdischen Bevölkerung. Eine militärische Laufbahn oder ein Studium waren ihnen in den deutschen Landen verwehrt. Das Leben wird in einem Judenviertel gestattet, in denen oft drangvolle Enge herrschte und in vielen Kommunen des Nachts zusätzlich abgesperrt wurde.

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit existierte die Rassenideologie des Antisemitismus’ noch nicht. Der Hass richtete sich nicht auf die Juden als “Rasse”, sondern auf das Judentum als unbekannte Gruppe, die sich überall ausbreitete. Sie wurden als „Chistusmörder“ beschimpft. Wenn etwas Negatives geschah, dass man sich nicht erklären konnte, Missernten, Pest oder andere Seuchen ausbrachen, gab man den Juden die Schuld. In Wut plünderte und zerstörte man ihre Häuser und beschimpfte, verletzte oder tötete viele. Berüchtigt sind die Gräueltaten der Horden des 1. Kreuzzuges, die entlang des Rheines zogen und alle Juden, denen man habhaft werden konnte, umbrachten.

In der großen Stadt Frankfurt am Main wurde ein Ghetto für die Juden errichtet, dass nur aus einer einzigen langen Straße bestand. In diesem Frankfurter Ghetto muss es schrecklich gewesen sein. In Heinrich Heines „Rabbi von Bacherach“ wird das Ghetto als ein heruntergekommenes Elendsviertel und Bakterienherd beschrieben.[1]Vgl. Heine, Rabbi von Bacherach, S. 15.

In der frühen Neuzeit und der Epoche der Aufklärung veränderte sich die Stellung der Juden in Deutschland zum positiven, die mit dem Namen Moses Mendelssohn (1729-1786) einhergingen.

Moses Mendelssohn kam als Kind alleine nach Berlin, um dort von einem Rabbiner unterrichtet und selbst Rabbiner zu werden. Anfangs sprach der nur Jiddisch, lernte jedoch schnell das Deutsche  und einige andere Sprachen durch die Lektüre verschiedenster deutschen und ausländischen Werke.[2]Werke, die nicht in Jiddisch geschrieben waren, waren jedoch damals Juden verboten zu lesen, da sie als „verderblich“ angesehen wurden.  Aber Mendelssohn hatte Glück und ebenso weltoffene … Continue reading Mendelssohn wurde über die deutschen Grenzen hinaus mit seinen populär-philosophischen Schriften bekannt, die von seinen Zeitgenossen sehr geschätzt wurde. Allerdings gerieten sie unter der Popularität von Kant und Herder schnell wieder in Vergessenheit. Mendelssohn war ein enger Freund von Ephraim Lessings und dient Lessing als lebendes Vorbild für seinen Nathan den Weisen.[3]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 100.

Mitz der Ausweitung der französischen Herrschaft über Deutschland nach der französischen Revolution auf die deutschen Lande und den Eroberungen durch Napoleon wurde die Aufklärung auch gesetzlich durch den Code Civil (1804) und das Hardenberg’sche Edikt (1812) deutlich gebessert und die Ghettos abgeschafft.

1812 erhielten die Juden zeitweise die Bürgerrechte mit der Einschränkung des §9, in dem sich der preußische König die Zulassung selbiger zum Staatsdienst vorbehält.

Der Wiener Kongress 1814/15 hob die Gleichberechtigung der Juden wieder auf. Erneut folgten Judenverfolgung und Pogrome. Es eine Zeit, in der viele Juden zum Schutz und um die Freiheit zu nutzen, zum Christentum übertraten.

Bei den Befreiungskämpfen der deutschen Staaten gegen Napoleon kämpften viele deutsche Juden mit und waren von der deutschen patriotischen Idee mindestens so sehr überzeugt wie ihre christlichen Landsmänner. Allerdings hatten jüdische Soldatenn keinen Anspruch auf staatliche Versorgung.  Aber mit dem Wiener Kongress 1814/15 erlitten sie einen herben Rückschlag, da sie immer noch keine volle Gleichberechtigung erhielten.[4]Vgl. Czermak, Christen gegen Juden, 118.

Die Burschenschaft und ihr Antijudaismus

[5]Der Begriff Antisemitismus, der den Hass gegen die jüdische Rasse beschreibt und in den 1880er Jahren erst geprägt wurde, war hier nicht der Auslöser. Und dennoch wurde hier die Wiege für ihn … Continue reading 1812 veröffentlichte Karl August Fürst von Hardenberg sein Edikt zur Judenemanzipation in Preußen. Da die Juden bereit waren, dasselbe wie Christen an Pflichten zu erledigen, wäre es nur schlüssig, dass diese auch dieselben Rechte genießen dürfen, begründetete er dieses Edikt.[6]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 134.

Schon zuvor gab es Arten von Toleranzedikten für Juden von Kaiser Joseph II. aus dem Jahr 1782, die amerikanische Unabhängigkeitsverfasung von 1787 und die schon erwähnte französische Verfassung von 1791.[7]Vgl. Czermak, Christen gegen Juden, 117.

Als Gegenreaktion auf die Hardenberg’schen Reformen gründeten Achim von Arnim[8](1781-1831), Jurastudium. Publizist, viele Reisen. Brachte  mit Brentano “Des Knaben Wunderhorn” heraus. und Adam Müller am 18. 1. 1811 in Berlin die Deutsche Tischgesellschaft. Ihr schlossen sich einige Akademiker an. Die Mitglieder bestanden zu einem großen Teil aus den gebildeten Schichten. Sie verband ein antijudaischer, teils auch schon antisemitischer und antifranzösischer Patriotismus. “Freie Meinungsbildung” und “demokratische Diskussionen” waren in den Statuten festgeschrieben. Die Zulassungsbestimmungen ließen nur “ehrhafte, sittliche, christliche Männer, aber keine Philister[9]Mit “Philister” sind in der Sprache der Studentenverbindung die “Alten Herren” gemeint, also ehemalig Aktive in einer Verbindung. Mitglied werden. Sie trafen sich einmal in der Woche, tranken Bier und hielten Reden. Die bekanntesten Tischreden sind Brentanos Philister Rede und Arnims “Über die Kennzeichen des Judentums” vom 1811, in der er die körperliche Stigmatisierung der Juden forderte. Sie hätten bestimmte Neigungen wie Spekulationen und Verschlagenheit, und frönen einem reaktionären Antikapitalismus. Der Vorwurf, der Jude sei von Natur aus ein Geldmensch, ein “Wucherer” und “Blutsauger” war in Wirklichkeit nie erloschen. Begeistert waren auch alle, als Arnim über die sittliche Verkommenheit der Juden und ihren abscheulichen körperlichen Merkmalen  wie Körpergeruch, Erbkrankheiten, Geruch nach Zwiebeln und Knoblauch und andere körperliche Eigenheiten wie zum Beispiel Blähungen.[10]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 104. Er mahnte die anderen Mitglieder, darauf zu achten, dass kein Jude in ihrem Verein Mitglied werden dürfe. Zur Überprüfung empfahl er “die Auflösung der Juden in ihre Bestandteile”.

Auch Johann Gottlieb Fichte[11](1762-1814), Professor für Philosophie. Erster Rektor an der neugegründeten Humboldt-Universität in Berlin. gehörte zum Kreis der Tischgesellschaft. Er war Philosoph und gilt mit Schelling und Hegel als wichtigster Vertreter des deutschen Idealismus’ und als einer der geistlichen Begründer der Burschenschaft. Er kritisierte das Duellwesen, die Trinksitten und Raufereien der damaligen Landsmannschaften und hegte die Idee einer gesamtdeutschen Organisation. Er definierte Nationen als biologische Wesen, die aus dem Volksgeist entstünden und träumte von seinem Ideal der deutschen Nation: Einer homogenen Gesellschaft ohne Adel, Zünfte und Juden.

Solche völkischen, antiliberalen und judenfeindlichen Ideen sind nicht nur in der Tischgesellschaft, sondern auch im Tugendbund Friedrich Ludwig Jahns, in Turnvereinen und Burschenschaften zu finden. In Jahns Turnbund waren Juden streng ausgeschlossen und als “Nicht-Deutsche” diffamiert.[12]Vgl. Sterling, Judenhaß, 148.

Jahn[13](1778-1852), erlagte als Schüler und Student keinen Abschluss. Gründer der Turnbewegung und damit verbunden des schulischen Turnunterrichtes. Wurde in Verbindung mit den Karlsbader Beschüssen … Continue reading äußerte sich offen und scharf antijüdisch und antifranzösisch. Er behauptete, Polen, Franzosen, Geistliche, Adel und Juden wären Deutschlands Unglück.[14]Vgl. Sterling, Judenhaß, 148. Er rief Studenten der Universität Jena und anderen Universitäten zum Kampf in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 gegen Napoleon auf. Seine Ideen und sein Gedankengut verbreiteten sich unter den Studenten. Das Wartburgfest 1817 fand auf seine Initiative statt. Ernst Moritz Arndt[15](1769-1860), studierte evangelische Theologie, Geschichte, Erd- und Völkerkunde, Sprachen und Naturwissenschaften und war Professor in Greifswald und Bonn. Wurde allerdings zeitweise wegen seiner … Continue reading Sein Gedicht “Was ist des Deutschen Vaterland?” wurde vertont und war eines der am meisten gesungenen Lieder der Burschenschafter. Wenig später nach der Rückkehr der Studenten aus der Völkerschlacht bei Leipzig gründeten sie am 12. Juni 1815 die Jenaischen Burschenschaft.

Auch der Einfluss von Professor Jakob Friedrich Fries[16](1773-1843), Professor für Philosophie. Zeitweise wegen Konakt zur burschenschaftlichen Bewegung entlassen. auf die Jenaer Burschenschaft war bedeutend. Fries forderte die Studenten auf, ihren Individualismus und die Humanitätsideale der Aufklärung aufzugeben und sich zu dem “deutschen Volkstum” zu bekehren. Von seinen Heidelberger und Jenaer Studenten verlangte er, zuerst die jüdischen Studenten als “Feinde unserer Volkstümlichkeit” auszuschließen. Es gab aber auch eine andere Heidelberger Verbindung, die “Teutonen”, die gegen die so genannten “Friesianer” und kämpften für die Zulassung von Juden in Burschenschaften eintraten[17]Vgl. Sterling, Judenhaß, 119.. Fries war der einzige Professor, der an der Bücherverbrennung anlässlich des Wartburgfestes anwesend war.[18]Vgl. Sterling,  Judenhaß, 148.

In den Statuten zur Deutschen Burschenschaft wurde 1815 nichts zur Judenfrage und zum Waffenzug niedergeschrieben. Dennoch gab es schon von Anfang an Burschenschaften mit stark antijüdischen Ideologien. Die Jenaer Burschenschaft der “Unbedingten” beispielsweise nahm in ihre eigene Verfassung den Artikel auf, dass “nur ein Deutscher und Christ” in die Burschenschaft eintreten könne.[19]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 156f. Auch die Gießener Verbindung “Die Schwarzen” leiteten ihre “Christlichkeit” aus der germanischen Volkstümlichkeit als Gegenprinzip zur Jüdischen her.[20]Vgl. Sterling,  Judenhaß, 148.

Am 18. Oktober 1819 wurde im Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig und an den Zufluchtsort Luthers auf der Wartburg ein Gedenkfest von der Jenaer Burschenschaft veranstaltet. Es wurden Reden und ein Festgottesdienst gehalten. Spät in der Nacht verrichtete der härteste Kern eine Verbrennung von “nicht-deutscher” Literatur und Symbolen der unterdrückung. Mit dabei war das Werk “Germanomanie” von dem jüdischen Schriftsteller Saul Ascher als sinnbildliche Ermordung Aschers.[21]Veröffentlichte 1815 seine Schrift mit dem programmatischen Namen “Germanomanie” und verurteilte darin Nationalismus und Deutschtümelei Germanomanie” war eine abwertende … Continue reading Diese Szenen ließen Heine 1820  in seinem Werk Almansor schreiben: “Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.”.[22]Zit. nach: Heine, Almansor, S. 10.

Keiner von den in diesem Kapitel aufgezählten sich antijüdisch äußernden Personen kannte die Realität des Judentums.  Sie sahen das Judentum als eine durch Religion verschwommene Krämer- und Trödlerkaste an, die über die ganze Welt verbreitet war. Da eine Händlerkaste aber kein Staat sei und ein Staat sowieso nicht über die ganze Erde verbreitet sein konnte, hatten die Juden kein Vaterland, konnten somit nicht für ein Vaterland kämpfen und schon gar nicht für das deutsche und deshalb konnte ein deutscher Staat die Juden nicht als Bürger aufnehmen.[23]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 155.

Fries erläuterte einmal, dass man ihm die jüdische Eigenschaft gelobt habe und auch bewiesen habe, dass die Zahl der jüdischen Verbrecher sehr gering sei. Fries antwortete, er wisse, dass sie sich gern von Mord und Totschlag zurückhielten, solange noch einige Gefahr dabei sei, aber ein Christ nenne diese Eigenschaft  Feigheit, die man nicht zu den Tugenden, sondern zu den Lastern zähle. Diese überhebliche Anmerkung war einer der radikalen Äußerungen, die den Jenaer Studenten Karl Sand anstachelten, den reaktionären Dramatiker Kotzebue am 23. März 1819 zu ermorden. Als Rechtfertigung gab er nur seine Überzeugung an. Nach seiner Auffassung heilige die eigene Überzeugung alle Mittel. Damit hob er die Überzeugung zu einem universellen Richt- und Rechtfertigungsschwert. Das reichte den Richtern nicht als Rechtfertigung und er wurde zum Tode verurteilt. Nachdem ein Selbstmordversuch scheiterte, fand er sich erfolgreich in einer Rolle als Märtyrer für die Nationalbewegung ein. Die schnelle Reaktion der Obrigkeit waren die Karlsbader Beschlüsse.[24]Verbot der Burschenschaftem, Überwachung der Universitäten, Pressezensur, Entlassung und Berufsverbot für liberal und national gesinnte Professoren, Exekutionsordnung, Universitätsgesetz, … Continue reading Doch die Beschlüsse engten die Burschenschaften und die nationale Bewegung nicht so entscheidend ein, wie dies erforderlich gewesen wäre. Zusätzliche Wut bei den Burschenschaftern auf. Als sich in Würzburg ein älterer Professor zugunsten der Juden äußerte, begannen die Studenten aus Spott vor seinem Haus “Hep-Hep[25]Abkürzung für “Hierosolyma est perdita”: Jerusalem ist verloren. Der Ruf soll auf einen Schlachtruf von römischen Soldaten während der Belagerung Jerusalems im Jahr 70  zurückgehen. … Continue reading! Jud’ verreck’!” zu rufen und warfen ihm Bestechlichkeit vor. Wie eine Lunte weitete sich die Aktion rasend schnell in der ganzen Stadt aus. Auch das Kleinbürgertum beteiligte sich daran, alle jüdischen Gebäude und Häuser zu zerstören und zu plündern. Die Tumulte wurden immer zerstörerischer. Manche erinnerte der Zustand an eine Radierung Merians von 1617, die einen Progrom im Frankfurter Ghetto zeigt, ein anderer Augenzeuge wähnte sich im Jahr 1419 und nicht 1819.[26] Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 108f.

Am Ende gab es zahlreiche Verwundeten und Tote. Die Behörden reagierte nich und erst als Soldaten eingriffen, trat Ruhe ein. Der Hass vieler Menschen blieb und sie forderten die Ausweisung aller Juden aus Würzburg.[27]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 160. Wie in Würzburg war es in vielen anderen Städten.

Da alles zerstört worden war, flohen viele Juden aus der Stadt ohne Hab und Gut auf das Land.[28]Vgl. Graetz, Geschichte der Juden, 334 und Elon, Aus einer anderen Zeit, 108. Ca. 90% der deutschen Juden waren arm oder sehr arm. 10% der sehr armen waren Bettler. Diese armen Würzburger Juden wehrten sich nicht gegen die Angriffe, weil sie entweder zu eingeschüchtert waren oder darin vertrauten, dass die Ordnung wieder hergestellt werden würde. Die Zurückhaltung des jüdischen Bürgertums jener 10% lässt vermuten, dass es sich nicht für das Schicksal des jüdischen Kleinbürgertums und der jüdischen Armen interessierte.[29]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 111.

Die gleichen Vorgänge gab es in den folgenden Wochen auch in anderen deutschen Städten an der Küste, am Rhein und besonders südlich des Mains.[30]Vgl. Graetz, Geschichte der Juden, 335. Überall musste die Obrigkeit für Ordnung sorgen. Der Koblenzer Polizeichef schreibt in einem Bericht, die Erregung habe dermaßen überhand gewonnen, dass Übergriffe auf Juden als verdienstvoll angesehen würden.[31]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 109f.

Ursachen für das Eingreifen des christlichen Kleinbürgertums in diese Tumulte gibt es viele. Politische Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Verbitterung nach den Jahren nach den Befreiungskriegen, dürftiges Ergebnis des Wiener Kongresses, Passivität des Bundestages, schwere Wirtschaftskrisen[32]Nach der Aufhebung der Kolonialsperre konnte Handel und Gewerbe mit England nicht mehr mithalten., steigende Brotpreise nach Missernten und dadurch resultierende Armut[33]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 160.. Die Unruhen zeigen eindringlich die Verflechtungen von lokalen Anlässen und politisch-sozialen Bedingungen mit historischen Traditionen. Beachtenswer sind die Unterschiede in den deutschen Ländern. Obwohl es in Preußen mehr reiche Juden gab als anderswo, gab es dort kaum Unruhen.

Rühs war ein weiterer geistiger Begründer der deutschen Burschenschaft. Rühs rühmte sich damit, nie mit Juden verkehrt zu haben und kein jüdisches Haus betreten zu haben.

Schon 1815 hatte der Berliner Geschichtsprofessor Friedrich Rühs ein Flugblatt mit dem Titel “Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht” verteilt. Darin teilte er die Ansicht, dass man den Juden keine Bürgerrechte gewähren dürfe und sie in die Schranken weisen und ausstoßen solle. Er bezeichnete die Juden als “geduldetes Volk”,  als Menschen ohne politische Rechte und als ortsansässige Fremde, da Deutschland nicht die Heimat der Juden wäre[34]Vgl. Kirchner (Hg.): Rabbi von Bacherach, S. 51. Ebenso: Kirchner, Heine und das Judentum, 72.. Fries schrieb eine Rezension über Rühs’ Flugblatt  “Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden”[35]“[…] Nicht, den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg. […] Die Judenschaft ist ein Ueberbleibsel aus einer ungebildeten Vorzeit, welches man nicht … Continue reading und stimmte darin Rühs’ Meinung nicht nur zu, sondern steigerte durch die Wahl seines Vokabulars die Aggressivität. Er erklärte dem Judentum den Krieg, weil sie rückständig wären. Er bezeichnete das Judentum als “Völkerkrankheit”, die sich wie Schmarotzer am Elend der anderen bereichere. Gleichzeitig nannte er die Juden aber auch Brüder. Hier wird deutlich, dass Fries nicht gegen die Juden als Menschen, sondern gegen das Judentum als Konfession wettere. Seine Forderungen waren:

  • Es soll versucht werden, die Juden zur Emigration zu überreden oder ins Ghetto zu bringen, da er ihnen nur dort Schutz versichern kann. Zudem soll kein Christ in persönliche Abhängigkeit von einem Juden kommen.
  • Jüdische Kinder müssen auf öffentliche christliche Schulen gehen und vor ihrem Ausbildungsabschluss auf ihre Christlichkeit überprüft werden. Zudem müssen sie unterschreiben, dass sie der jüdischen Lehre nicht anhängen.
  • Der Staat soll die Juden nur als Religionspartei und nicht als politische Partei schützen. Außerdem forderte er das mittelalterliche Schutzjudentum und das Judenabzeichen in Form einer “Volksschleife” wieder einzuführen.

Noch weiter geht Hartwig Hundt-Radowsky[36](1780-1835), lernte Jahn und dessen Ideologie kennen und verfasste rachsüchtige, antinapoleonische Kriegslyrik. in seinem Flugblatt “Judenspiegel”: Jüdische Männer sollten entweder kastriert, an Engländer für Indien verkauft oder wegen ihres Spürsinns für Kostbarkeiten als Bergbauarbeiter eingesetzt werden.[37]Vgl. Kirchner (Hg.):  Rabbi von Bacherach, S. 57-59. Hundt-Radowsky empfahl, ihnen den Mund zuzukleben, damit sie nichts stehlen können.. Die jüdischen Frauen dagegen sollten wegen ihrer Schönheit ins Bordell gebracht werden und so die Bordell-Besucher durch den Juden nachgesagten Knoblauch- und Zwiebel-Mundgeruchs zu mehr Sittlichkeit zwingen.[38]Vgl. Sterling, Judenhaß, 69.

Juden in der Burschenschaft bis 1831

Heinrich Heine

Einer der bekanntesten deutschen jüdischen Burschenschafter dieser Zeitspanne ist Heinrich Heine. Er wurde am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf als Chaim Heine geboren. Er wuchs in Düsseldorf als Sohn eines Tuchhändlers in einer Zeit auf, als das linksrheinische Deutschland zum napoleonischen Frankreich gehörte. Durch die napoleonischen Gesetze zur Emanzipation der Juden, wuchs er frei auf.[39]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit. 97. In Bonn, Göttingen und Berlin studierte er Jura und wurde von seinem wohlhabenden Onkel Salomon aus Hamburg finanziert. Heine war nicht sonderlich begeistert, Jura zu studieren.[40]In seinen Memoiren schrieb er: „[…] Sie [Heines Mutter] meinte jetzt, ich müsse durchaus Jurisprudenz studieren. […] Da eben die neue Uni­versität Bonn errichtet worden, wo die … Continue reading Im Wintersemester 1819 schrieb er sich an der Universität in Bonn ein. Aber er hörte kaum juris­tische Studien, sondern viel lieber Geschichte, Literatur und Sprachwissenschaft.[41]Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 113.

Heine schrieb während seiner Bonner Studienzeit sein relativ unbekanntes Theaterstück Almansor, aus dem der viel­zitierte Satz „Das war das Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ stammt.[42]Vgl. Decker, Heinrich Heine, 61.

Heine wurde Mitglied in der Bonner Burschenschaft Alemannia, der etwa die Hälfte aller Bonner Studenten angehörten.[43]Vgl. Kopelew, Ein Dichter kam vom Rhein, 67. Ebenso: Liedtke, Heinrich Heine, 34. Diese gerade neu gegründete Verbindung hatte keine streng burschenschaftliche Ausrichtung.[44]Vgl. Liedtke, Heinrich Heine, 36. Sie bestand nicht auf der christlich-deutschen Ausbildung, sondern auf der Kommunikation der Studenten unterein­ander und so wurde auch der Jude Harry Heine aufgenommen. Heine war kein Aktivist, sondern besuchte nur gelegentlich ihre Treffen.[45]Vgl. Hädecke, Heinrich Heine,  110f. Während einer Burschenversammlung beispielsweise verstand sich die Versammlung als Gericht und forderte schließlich die Todesstrafe für den preußischen König. Heine war darüber entsetzt und diskutierte mit seinen Mitbrüdern. Am Ende stimmte die Mehrheit für die Hinrichtung. Daraufhin sagte Heine, dass er sehr traurig über dieses Urteil sei. Denn wenn man einmal im Namen der Freiheit zu foltern begänne, dann wäre der Anfang meistens leicht, aber das Ende schwer.[46]Zit. nach: Kopelew, Ein Dichter kam vom Rhein, 71f. Wie bei vielen Heine-Zitaten sollte sich seine Befürchtung als wahr herausstellen.

Nach zwei Semestern verließ Heine Bonn, da der Familienrat beschlossen hatte, dass er an der anerkannten Universität in Göttingen weiterstudieren solle. Göttingen war noch wenige Jahre vor Heines Immatrikulation 1820 einer der in Europa angesehensten Universitäten, verlor dann aber stetig mehr den guten Ruf. Als Heine nach einem Fußmarsch von Bonn nach Göttingen dort eintraf, herrschte ein kühles, unpersönli­ches, unkameradschaftliches Klima.[47]Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 122. Heine fühlte er sich von Anfang an in Göttingen sehr unwohl und suchte manch­mal Abwechslung bei der Burschenschaft Guestphalia.[48]Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 187.

An einem Tag aßen Heine und der Studenten Wilhelm Wiebel auf Eutin im „Englischen Hof“ und unterhielten sich über Verschiedenes und schließlich über den „Heidelberger Fall“, der in der Literatur nicht näher erläutert wird. Wenn eine Studentenverbindung eine andere in Verruf bringe, so ist das eine Schweinerei findet Heine, worauf Wiebel antwortete, dass es eine Schweinerei sei, so etwas zu dem Vorgang zu sagen. Heine forderte sich Wiebels Name und Adresse und ließ ihm kurz darauf die Duellforderung zukommen. Duelle waren aber seit einigen Jahren verboten und Spitzel wurden von der Universität gut dafür bezahlt, Duelle zu verraten.[49]Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 124. So erhielten beide Stubenarrest. In dem folgenden Verhör söhnten sich beide aus. Trotzdem erhielt Heine vom Universitätsgericht im Januar 1821[50]Das gesamte Protokoll zur Gerichtsverhandlung ist zu lesen bei Schmidt, Heine in Göttingen, S. 136-143. das Consilium abeundi. Außerdem wurde er wegen einem „Vorgehen gegen die Keuschheit“, einem Bordellbesuch, aus der Burschenschaft ausgeschlossen. Manche Forscher vermuten,  dass es ein Vorwand war. Denn war es zwar verboten, aber unter Studenten durchaus üblich war, ein Bordell zu besuchen. Der wirkliche Grund für den Ausschluss aus der Burschenschaft war wohl  Heines jüdische Religion. Denn Juden war es seit dem geheimen Burschentag am 29. 9. 1820 in Dresden verboten, in Burschenschaften Mitglied zu sein.[51]„Als solches, die kein Vaterland haben und für unseres kein Interesse haben können, nicht aufnahmefähig, außer wenn erwiesen ist, daß sie sich christlich-teutsch für unser Volk ausbilden … Continue reading Nur mit einer Taufe konnte man das Gebot umgehen. Heine war tief verletzt. Wenige Jahre später rechnete er in seinen Reisebildern hart mit Göttingen ab.[52]Vgl. Heine, Reisebilder. Die Harzreise. S. 3. Siehe auch: Heine, Wintermärchen. Caput X, S. 211. Da er an Syphilis erkrankte, musste er Göttingen nicht sofort verlassen.[53]Vgl. Decker, Heinrich Heine, 73.

Heine zog weiter nach Berlin. Am 4. April 1821 trug sich Heine in die Matrikel der Stadt ein und lebte fortan im Berliner Zentrum. Auch hier gefiel es ihm nicht gut. Schuld daran war die harte Zensur seiner Schriften und die preußische Strenge. Ob Heine sich in Berlin auch einer Burschenschaft anschloss ist nicht bekannt, nach den Ereignissen in Göttingen aber unwahrscheinlich. Sein einsemestriges Studium in Berlin verlief ohne bekannte Zwischenfälle. Allerdings schloss er sich dem 1819 als Gegenreaktion zu den Hep-Hep-Unruhen gegründeten „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ an und befasste sich mit seiner Religion, obwohl er nie tief religiös war. Aber hier bekam er die Idee für ein Prosa-Stück namens „Der Rabbi von Bacherach“, was anfangs als historischer Roman gedacht war und als Fragment endete.

Noch mehr musste sich Heine nach seiner Promotion 1825 in Göttingen mit dem Judentum auseinandersetzen, da ihm drohte, wegen seiner Religionszugehörigkeit  keine Stelle zu bekommen. Aufgrund einer Verfügung von 1822 wurden Juden von akademischen Lehr- und Schulämtern ausgeschlossen.[54]Siehe § 9 des Emanzipationsediktes: “In wie fern die Juden zu andern öffentlichen Bedienungen und Staats-Aemtern zugelassen werden könne, behalten Wir Uns vor, in der Folge der Zeit, … Continue reading Anlass dazu war die Berufung des Rechtsphilosophen und Gegners der historischen Rechtsschule, Eduard Gans[55](1797-1839), stammte aus einer jüdischen Bankiersfamilie aus dem liberalen, assimilierten Judentum, studierte in Berlin und Göttingen Jura, Philosophie und Geschichte, bekam Einladung als … Continue reading, für eine Professur in Berlin. Gans war Vorsitzender des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ und ein Freund Heines. Diese neue Regelung wurde kurz vor Beginn der Amtseinführung von Gans in Kraft gesetzt und erhielt die Bezeichnung “Lex Gans”. Gans ließ sich taufen und konnte so den Lehrstuhl doch übernehmen.[56]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 166.

Heine plagten in dieser Zeit große Entscheidungsprobleme. Sein Judentum wurzelte in einer tiefen Antipathie gegen das Christentum. Aber er befasste sich mit dem Gedanken, dass er sich irgendwann taufen lassen musste, auch wenn er es nicht wollte.[57]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 127. Auch seine Familie drängte ihn zu diesem Schritt. Im Juni 1825 war es soweit und er ließ sich taufen.

Die Pfarrer bestanden meist darauf, dass man mit der Taufe einen neuen christlichen Vornamen annahm. Aus Harry Heine wurde nun Christian Heinrich Heine. Er bezeichnete später in Prosaaufzeichnungen den Taufzettel als “Entréebillet zur europäischen Kultur”.

Schon kurz nach seiner Taufe bedauerte er diesen Schritt, da sich die erhofften Vorteile nicht einstellten. In einem Brief an seinen Freund und ebenfalls Mitglied des Vereins, Moses Moser, klagte er, dass seine Taufe gar nichts an seiner beruflichen Situation geändert hätte.[58]„Ich bereue es sehr, daß ich mich getauft habe; ich sehe noch gar nicht ein, daß es mir seitdem besser gegangen sei.“ zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 29. Ein Grund dafür, dass er keinen Arbeitsplatz bekam, wird wohl auch seine politische Ansicht gewesen sein. Er fühlte sich immer noch mehr dem Judentum als dem Christentum zugetan. War doch seine Konvertierung nicht aus religiöser Überzeugtheit, sondern aus gesellschaftlicher Hoffnung geschehen. So sagte er, er sei getauft, aber nicht bekehrt.[59]Vgl. Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte, 38. Als der Dichter Graf von Platen ihn öffentlich wegen seiner jüdischen Verbundenheit angriff, machte Heine Platens Homosexualität publik und machte damit von Platen gesellschaftlich unmöglich.

Die Verfechter der christlich-deutschen Ausbildung der Studenten, wie zum Beispiel Jahn, Arndt oder Fries, betrachteten Heine argwöhnisch. Er entsprach ihrem Feindbild: Heine wollte zwar die deutsche Einheit und verfocht sie in seinen Schriften, mochte aber die Franzosen und war ganz und gar kosmopolitisch eingestellt. Er war ein zum Christentum konvertierter Jude, der sich aber weiterhin sich als Jude fühlte. Heine schrieb in seiner sarkastischen Art scharf gegen die „Deutschtümler“.

Zu diesem  Zeitpunkt lebte er schon in Paris, wohin er 1831 vor der preußischen Zensur geflüchtet war. Er arbeitete dort weiterhin als Schriftsteller, aber auch Pariser Korrespondent für die deutsche „Allgemeine Zeitung“.

1832 verschlechterte sich seine Krankheit, die er schon seit seinen Kindheitstagen mit sich trug. Bis heute ist man sich nicht sicher, welches Nervenleiden er hatte, aber es wird bei den meisten Forschern von Multipler Sklerose ausgegangen. Zeitgleich mit dem Ausbruch der Revolution 1848 in Deutschland wurde Heine für die letzten acht Jahre seines Lebens bettlägerig.[60]„Es war im Mai 1848, an dem Tage, wo ich zum letzten Male ausging“ zit. nach: Heine, Romanzero, S. 6. Er selbst bezeichnete diese Phase als „Matratzengruft“. Trotzdem schrieb er bis zu seinem Tod weiter. Er starb am 17. Februar 1856 in Paris.

Felix Mendelssohn Bartholdy

Felix Mendelssohn Bartholdy wurde am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren. Er stammte aus einer respektierten, wohlhabenden, jüdischen Familie und war ein Enkel des schon erwähnten berühmten Philosophen Moses Mendelssohn. Moses Mendelssohn starb kurz nach der Geburt seines Sohnes Abraham. Abraham erzog seine Kinder christlich, ließ Felix am 21. März 1816 protestantisch taufen und den Namenszusatz “Bartholdy” anfügen.

1811 zog die Familie wegen der französischen Besetzung nach Berlin zur verwitweten Frau von Moses Mendelssohns, der Großmutter von Felix.

Felix mochte besonders seine Schwester Fanny (*1805). Sie war wie Felix musikalisch hochbegabt. Beide bekamen als 2jähriger bzw. 6jährige 1811 ihren ersten Musikunterricht. 1818 trat Felix als 9jähriger zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auf und komponierte in den folgenden drei Jahren über 100 Werke.[61]Vgl. Konold, Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 31. 1825 zog er nach Paris, wo er drei berühmte Musiker seiner Zeit traf: Meyerbeer, Rossini und Cherubini.

Nach seinem Studium, über das man nichts genaues erfährt, übernahm er 1832-1835 zahlreiche Reisen nach England, wo er zu Dirigaten eingeladen wurde. 1835 zog Mendelssohn Bartholdy nach Leipzig, unternahm aber weiterhin Reisen nach England. Bei der Heimkehr einer dieser Reisen erreichte ihn die Todesnachricht seiner Schwester Fanny. Daraufhin brach er zusammen, zog sich zurück und machte mehrere Monate in der Schweiz Urlaub. Er erlitt innerhalb einer Woche zwei Schlaganfälle, fiel ins Koma und starb am 4. November 1847.

Die Denk- und Verhaltensweisen bei Mendelssohn Bartholdy und Heine waren verschieden: Heine war bei seiner Taufe bereits erwachsen und ließ sich nur aus gesellschaftlichen Gründen taufen. Mendelssohn Bartholdy hatte nicht diesen Konflikt, da sein Vater ihn früh in der christlichen Lehre unterwiesen hatte. Er hatte in seiner Kindheit wenig mit Theologie und Judentum zu tun. Trotzdem fühlte er sich solidarisch mit Juden. Nicht, weil er als Jude geboren worden war, sondern weil er sich ganz im Stil seines Großvaters als “human denkender aufklärungs-freundlicher, gottesfürchtiger Christ” sah.[62]Vgl. Werner 66f. Ein Zeitgenosse von ihm sagte scherzhaft, dass die Taufe das einzig Jüdische an ihm sei.[63]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 87. Heine war mit Abraham Mendelssohn und seiner Familie gut bekannt, verstand aber  Felix’ Einstellung nicht. Für ihn war es unvorstellbar, dass sich Mendelssohn Bartholdy als Enkel Moses Mendelssohns nicht mehr für die Emanzipation der Juden einsetzte. Dass Felix ganz im Sinne seines Großvaters dachte, verstand er wohl nicht. Heine verehrte Moses Mendelssohn. An Ferdinand Lassalle, einen anderen jüdischen Burschenschafter, schrieb Heine, dass er sich an Mendelssohn Bartholdys Stelle anders verhalten würde, wenn Mendelssohn sein Großvater wäre.

Wenn ich das Glück hätte, ein Enkel von Moses Mendelssohn zu seyn, so würde ich mein Talent nicht dazu hergeben, die Pisse des Lämmleins in Musik zu setzen.[64]Hier spielt Heine darauf an, dass es Mendelssohn Bartholdy nach langem Kampf gelungen war, Bachs nahezu vergessene Matthäus-Passion wiederaufzuführen. Heine fand es seltsam, dass ein Judenjunge den … Continue reading Aber auch wenn Heine Mendelssohn Bartholdys Einstellung nicht einverstanden war, mochte er ihn und verehrte ihn auch etwas.[65]Vgl. Heine, Geständnisse, S. 38.

Aber nicht nur das Christentum bzw. die christliche Musik verhalfen Mendelssohn Bartholdy zu seiner Karriere, sondern auch die Burschenschaft und Nationalbewegung halfen der Familie Mendelssohn Bartholdy beim gesellschaftlichen Aufstieg. Das wurde zu jener Zeit nicht vielen konvertierten Juden zuteil. Mendelssohn Bartholdy schrieb viele Männerchöre, die bei Gesangvereinen und auch Burschenschaftern gut ankamen. Besonders beliebt war “Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben” und das so genannte “Lied für die Deutschen in Lyon” (“Was uns eint als deutsche Brüder”).[66]Vgl. Lönnecker, Frühe Burschenschaft und Judentum, 78f.

Friedrich Julius Stahl

Friedrich Julius Stahl wurde am 16. Januar 1802 in Würzburg als Friedrich Julius Jolson geboren. Er wuchs im Haus seines Großvaters, einem Vorsteher der jüdischen Gemeinde München, auf. Er konvertierte in Erlangen unter dem Einfluss des neuhumanistischen Pädagogen und Schulreformers Friedrich Tiersch aus Überzeugung zum Protestantismus und nahm den programmatischen Namen “Stahl” an.

In Würzburg, Heidelberg und Erlangen studierte er Jura. In Würzburg wurde nicht streng nach den Karlsbader Beschlüssen durchgefasst und die Burschenschaften inoffiziell nicht aufgelöst.[67]Wahrscheinlich, weil Kronprinz Ludwig von Bayern Metternich feindlich gesinnt war. Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, S. 46. Stahl wurde sofort Mitglied in der Burschenschaft und war begeistert vom Leben mit Gleichgesinnten. Hier stand Stahl politisch für den gemäßigten, französischen Liberalismus ein. Durch seine intellektuelle Begabung und sein rhetorisches Talent war er bald in der Gruppe sehr angesehen. Schon im zweiten Semester wurde er Senior, Sprecher der Burschenschaft.[68]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, S. 47f.

Am 20. Juli 1820 beging die Würzburger Burschenschaft die Feierlichkeit zu ihrem zweijährigen Stiftsfest und lud die Burschenschaften aus Tübingen und Heidelberg ein.[69]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 50. Kurze Zeit später wechselte Stahl an die Universität in Heidelberg. Heidelberg war der Mittelpunkt der deutschen Romantik. Die Heidelberger Burschenschaft zeigte nationale wie nationalistische Bestrebungen, die sich auch in zwei Burschenschaften schied. Die “Allgemeine Burschenschaft” war eher humanitär-rationalistisch geprägt und nahm auch Ausländer und Nicht-Christen auf und die Burschenschaft um Fries, die streng deutsch-christlichen Idealen nachstrebte. Als Stahl nach Heidelberg kam, gab es dort nur noch die Burschenschaft um Fries. Stahl war in Heidelberg schon so bekannt und gefeiert, dass er noch während seines ersten Semesters zum Senior gewählt wurde. Während seiner Zeit gab es in Heidelberger Burschenschaft eine neue Verfassung, die die christlich-deutsche Ideologie als Grundlage hatte.[70]Vgl. Masur Friedrich Julius Stahl, 54f. Um seine Studien zu vollenden ging er nach Erlangen. Hier veränderte er sich. Aus nicht näher bekannten Gründen wandte er sich stärker dem Christentum und seinen Idealen zu als denen der Burschenschaft.[71]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 62. Er brach mit den burschenschaftlichen Forderungen und trat im Winter 1822 der Erlanger Burschenschaft bei, in der Absicht, sie aufzulösen. Sein politisches System befürwortete einen Gottesstaat mit einem starken, absolutistisch-herrschenden Monarchen, dem die Untertanen dienen müssen.[72]Vgl. Masur,  Friedrich Julius Stahl, 71. Mit den damaligen Forderungen der Burschenschaft nach einer Republik und Absetzung des Königs hinterging man nach Stahls Meinung den Staat. Stahls Absicht, die Burschenschaft aufzulösen, wurde aber verraten und um die wütenden Studenten zu beruhigen, erklärte er, dass die Anschuldigungen nicht stimmten. Die Burschenschafter glaubten ihm. Damit war aber Stahls Plan gescheitert.[73]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 69.

Im Juni 1823 erließ die Polizei in Erlangen Warnungen an die Studenten wegen der eigentlich verbotenen Verbindung. Die Regierung hatte von der Teilnahme Stahls am Streitberger Burschentag erfahren und fahndete nach ihm. Am 16. August verhörten sie Stahl. Bei der Vernehmung gab Stahl zu, in Streitberg gewesen zu sein, leugnete aber, die Namen der Deputierten zu kennen und auch, von einer Uni abgeordnet zu sein. Der Kommissar ordnete die Durchsuchung seiner Wohnung und Beschlagnahmung aller Papiere an. In seinem Zimmer befand sich zu diesem Zeitpunkt ein Brief, aus dem der Fortbestand der Erlanger Burschenschaft hervorgeht. Da man die Tür der Wohnung verschlossen fand, erbot sich Stahl,  von einem Nebenzimmer aus zu öffnen. Er wollte in der Zwischenzeit den Brief beseitigen. Allerdings waren ihm die Polizisten gefolgt und fanden den Brief. Stahl gestand nun auch den Vorbestand der Burschenschaft und verschwieg nichts mehr. Die Polizei löste die Verbindung sofort auf. Stahl verlor wegen daraufhin die Möglichkeit, als Staatsdiener zu arbeiten, was ihn hart traf. Am 27. August 1823 reichte er dem Direktorium der Uni seine Verteidigungsschrift ein mit der Bitte, sie an die höchste Stelle gelangen zu lassen. In dieser Schrift sprach er seine Richter direkt mit moralischen, religiös-ethischen Begründungen und rhetorische Fragen an. Der Ministerialkommissar erstattete am 23. 9. 1823 der Regierung einen Bericht zu Gunsten Stahls . Trotzdem verhängte das Direktorium der Universitäts- und Staatspolizei am 17. Januar 1824 über ihn die Relegation. Der Gnadenersuch an den bayrischen König war teils erfolgreich. Am 20. April war der Urteilsspruch des Königs Relegation auf 2 Jahre bei tadelfreiem Betragen und Nichtbeteiligung an gesetzeswidrigen Verbindungen.[74]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 75f.

Im März 1827 habilitierte er sich und wurde Professor in München, Erlangen und Berlin. In Berlin wurde er der Nachfolger von Eduard Gans. Seine Vorlesungen waren gesellschaftliche Ereignisse, zu denen sich sogar Mitglieder des Königshauses einfanden.[75]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 83. König Friedrich Wilhelm IV. ernannte ihn 1849 zum lebenslangen Mitglied der Ersten Kammer. Damit war er der Führer der reaktionören Bewegung … Continue reading Er wurde eine der prägenden Personen für den Konservatismus in Preußen. Bismarck schrieb von “unserem geliebten  Stahl”.[76]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 184. Stahl nutzte auf kirchlichem Gebiet seine Stellung als Mitglied des evangelischen Oberkirchenrates zur Lockerung der Union, zur Stärkung des Neuluthertums und zur Erneuerung der Herrschaft der Geistlichkeit über die Laienwelt.

Er verfasste zahlreiche religiöse und politische Schriften. Zu seinen Hauptwerken gehörte “Die Philosophie des Rechts” (1830-37). Er forderte die Anerkennung einer göttlichen Ordnung und einer darauf aufbauenden Staatsform. Am liebsten die konstitutionelle Monarchie. Er wurde so auf religiösem Gebiet strengster Verkünder des christlichen Offenbarungsglauben und auf politischem Gebiet glühendster Verfechter des Legitimitätsprinzips.

In seinem Werk “Der christliche Staat” argumentierte er, dass es der göttlichen Ordnung widerspreche, wenn Juden Führungspositionen einnahmen. Das verwundert, da er selbst als Jude geboren wurde. Jedoch muss man bedenken, dass Stahl als Junge “missioniert” wurde und aus echter Überzeugung zum protestantischen Glauben übergetreten war und nicht wie andere aus gesellschaftlichen Gründen. Seiner Meinung nach sollten die Juden volle bürgerliche, jedoch keine politischen Rechte erhalten. Politische Entschlossenheit erfordere einen autoritären Staat und keine Demokratie. Ausgerechnet seine Lehren von christlichen Staaten schürten den Antijudaismus.[77]Vgl. Lönnecker, Frühe Burschenschaft und Judentum, 78. So ist es auch nicht verwunderlich, das Stahl 1848 mit Beginn der Revolution aus der Hauptstadt floh. Seiner Meinung nach half nur das Christentum gegen die Revolution.

Der Gedanke an ein vereintes Deutschland war ihm erst in der Burschenschaft gekommen. Doch schien er es völlig vergessen oder verdrängt zu haben, weil er nun die Burschenschaft keineswegs mehr schätzte.[78]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 78. Nun predigte er die Tugend der Tradition, die Unfehlbarkeit der christlichen Lehre und das Recht des Monarchen, unumschränkt zu herrschen. Die Aufklärung war für ihn deshalb ein Übel, weil sie die göttliche Ordnung von Kirche und Thron zerstört habe[79]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 183.. Er starb schließlich am 10. August 1861 in Bad Brückenau.

Juden in der Burschenschaft ab 1831

Ludwig Bamberger

Ludwig Bamberger wurde am 22. Juli 1823 in Mainz als Sohn einer jüdischen Bankiersfamilie geboren.[80]Im Mainzer Archiv findet man unter der Signatur “ZGS / A-E, Bamberger” Zeitungsartikel mit dem Lebenslauf und dem Stammbaum Bambergers. Mainz war die erste Republik auf deutschem Boden, gegründet von französischen Jakobinern 1793. Die jüdische Gemeinde, die sich hier über die Jahrhunderte angesiedelt hatte, spürte auch nach Ende des napoleonischen Regimes noch die positiven französischen Einflüsse. Ihre soziale Lage hatte sich seitdem nicht verschlechtert.

Bamberger studierte in Mainz und Heidelberg Jura. In Heidelberg war er sehr beliebt, auch war er politisch sehr engagiert. Religionen allerdings waren ihm gleichgültig. Er hatte das Glück, etwas später als Heine geboren zu sein, da sich die Burschenschaften 1831 wieder für Juden geöffnet hatten und die Juden nicht mehr so sehr wie die in den 1820er und 1830er Jahren eingeengt wurden. Er war Mitglied in der Burschenschaft Wallhalla.

Am Morgen des 25. Februar 1848, kurz nach Bambergers Promotion, erreichte ihn die Nachricht einer erneuten französischen Revolution. Mit ein paar Freunden fuhr er mit dem nächsten Zug nach Paris und mischte sich unter das Treiben auf den Pariser Straßen. Bald jedoch bekamen Bamberger und seine Kommilitonen Zweifel und Angst um ihre beruflichen Chancen im Deutschen Bund, falls sie in Paris erkannt werden würden. So fuhren sie wieder zurück nach Heidelberg. Bei einem Umsteigestopp in Karlsruhe erfuhren sie, dass auch in Karlsruhe die Revolution ausgebrochen war. Die Unruhen breiteten sich auf Heidelberg aus. Auch dort forderte man nun auch in Heidelberg allgemeines Stimmrecht, Pressefreiheit und ein gesamtdeutsches Parlament.

Bamberger ging zurück in seine Heimatstadt Mainz, wo eine Woche nach den Märzunruhen in Berlin die Revolution ausbrach. Er wurde neuer Redakteur bei der Allgemeinen Zeitung und rief in ihr dazu auf, sich der Bewegung anzuschließen. Bamberger wurde in Mainz als großer Redner und Kolumnist als “roter Ludwig”  bekannt und von den Gleichgesinnten verehrt.[81] Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 153f. Auch als einer der Anführer der radikalen Demokraten machte er sich einen Namen. Schließlich gewährte der Großherzog von Hessen-Darmstadt die geforderten Rechte: Versammlungs- und Petitionsfreiheit, Pressefreiheit, Abschaffung verschiedener polizeilicher Vorschriften inklusive des Verbotes, in der Öffentlichkeit Pfeife zu rauchen.[82]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 165. Nach dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung war Bamberger zutiefst enttäuscht, verließ die Mainzer Zeitung und reiste dem Rumpfparlament nach. Als auch dieses scheiterte, ging er in die Schweiz. In den deutschen Ländern wurde er in Abwesenheit zuerst zu einer Zuchthausstrafe und 1852 zu Tode verurteilt. In der Schweiz machte er als Bankier Karriere. 1856 lernte er wenige Monate vor dessen Tod den todkranken Heine in Paris kennen.[83]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 186f.

Als 1867 der Großherzog von Hessen-Darmstadt eine Amnestie für die Veteranen von 1848 erließ und Hessen-Darmstadt Mitglied im norddeutschen Bund wurde, zog Bamberger zurück nach Mainz. Hier stürzte er sich sofort wieder in die Politik, trat der Nationalliberalen Partei bei und wurde ins Zollparlament gewählt.[84]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 192. Er war ein energischer Vertreter der Währungsunion und 1869/70 an der Gründung der Deutschen Bank beteiligt. Ein Jahr später wurde er persönlicher Berater Otto von Bismarcks. Nach dem preußischen Sieg 1871 über Frankreich empfahl der frankophile Bamberger, die Franzosen im Sinne einer schnellen Aussöhnung nicht zu sehr zu brüskieren. Ob der Missachtung war er sehr entsetzt.[85]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 195. 1871-1893 war er Mitglied des Reichstages als Abgeordneter des Wahlkreises Bingen-Alzey, den er als führendes Mitglied der nationalliberalen Fraktion meist sicher gewann, obwohl er wegen seiner Konfession oft angefeindet wurde. So z. B. von dem Antisemiten und seinem zeitweisen Fraktionskollegen Heinrich von Treitschke.[/fn]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 105. Ludwig Bamberger starb am 14. März 1899 in Berlin.

Berthold Auerbach

Berthold Auerbach wurde am 28. Dezember 1812 als Moses Baruch Auerbacher in Nordstetten[86]Heute Horb am Neckar. als Sohn eines Händlers geboren. Er besuchte die 1822 in Nordstetten eröffnete jüdische Gemeindeschule, da er nach dem Vorbild seines Großvaters ebenfalls Rabbiner werden sollte. Nach seiner Bar Mitzwa 1825 ging er auf die Talmudschule in Hechingen[87]Ich verbrachte dort ein trauriges Stück Leben.“, zit. nach Scheuffelen, Berthold Auerbach, 30. und wechselte 1827 nach Karlsruhe auf die Rabbinerschule. Die finanzielle Lage seiner Familie nach dem Tod seines Großvaters wurde so desolat, dass sie das Schulgeld für die Talmudschule nicht mehr bezahlen konnten. In Karlsruhe wohnte er bei seinem Onkel und begann eine lebenslange Freundschaft zu seinem entfernten Verwandten Jacob Auerbach (1810-1887) aus Emmendingen. 1830 wechselte er an das Obere Gymnasium nach Stuttgart und stand der verbotenen Schüler- und Studentenverbindung Amicitia nahe. Ab 1832 studierte er ein Semester Jura, dann Philosophie in Tübingen und wird Mitglied bei der Burschenschaft Germania. Er war von der Einheitsbewegung begeistert. So sagte er:

Ich bin Deutscher und kann nichts anderes sein. Ich bin Schwabe und will nichts anderes sein. Ich bin Jude. All das zusammen gibt die richtige Mischung.[88]Zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 169.

1833 immatrikulierte er in München, da ihm der politische Druck in Tübingen zu arg wurde.[89]Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 31f. Doch blieb er bei der Germania weiterhin Mitglied und feierte mit ihnen am 22. Juni 1833. In der darauffolgenden Nacht wurde er wegen staatsfeindlicher Umtriebe als radikal-liberaler Burschenschafter verhaftet und auf die Polizeiwache mitgenommen. Am 24. Juni wurde er aus der Haft entlassen, aber ins obergerichtliche Gefängnis[90]Wurde “Demagogenherberge” genannt, da dort fast nur verurteilte Burschenschafter saßen. in Tübingen versetzt, wo noch andere Burschenschafter saßen.[91]Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 34. Daraufhin zwangsexmatrikulierte ihn die Universität München, allerdings durfte er in Heidelberg sein Studium abschließen.[92]Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 29. Im Spätherbst 1835 bereitete er sich auf sein Rabbinerexamen vor, wurde dann aber wegen “der veralteten und doch nicht antiquierten Demagogengeschichte”[93]Zit. Nach: Scheuffelen, Berthold Auerbach, 40. nicht zu gelassen und wandte sich der Schriftstellerei zu. Er schrieb Artikel für die Zeitung “Europa”.[94]Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 40.

Am 12. Dezember 1836 kam es zur “Erledigung der Untersuchungssache gegen die Mitglieder der Tübinger Burschenschaft wegen Verdachts einer hochverrätherischen Verbrüderlichkeit”. Auerbach wurde zu zwei Monaten Festungshaft verurteilt, die er vom 8. Januar bis 8. März 1837 absaß. Danach kehrte er nach Stuttgart zurück.[95]Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 42.

Als Schriftsteller erreichte er 1843 seinen Durchbruch mit den “Schwarzwälder Dorfgeschichten” und beeinflusste damit u. a. auch Balzac, Turgenjew und Tolstoi. Als 1848 die Revolution durch Deutschland zog, hielt er sich in Heidelberg auf und freute sich riesig über den Ausbruch.

Er hatte lange keine Probleme mit Anfeindungen, obwohl er nicht konvertierte. Diesen außergewöhnlichen Status genoss er sehr.[96]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 171f. Noch in den 1870er Jahren erklärte er, dass die Integration der Juden nun eine unumstößliche Sache wäre.[97]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 209. Aber diese Freude wurde ihm allerdings bald genommen. Seine Lebensweisheit “Die Juden sind Kinder des Mitleids. Sie verstehen, Leid zu tragen, zu lindern, weit besser, als Freude zu schaffen.”[98]Zit. nach: Wolbe, Lebensweisheiten … Auerbachs, 17. brauchte er im Alter. 1880 berichtete er weinend einem Freund, dann man ihm “Hep-Hep” nachrufen hätte. Und das, wo er sein ganzes Leben für das deutsche Volk gearbeitet hätte und er niemandem mit seinem Patriotismus nachstehe.[99]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 219.

“Auerbach, über Nacht gealtert, ‘ein kranker, lebensmüder, gebrochener Greis, gelb und trocken die Haut, die Augen glanzlos’, wurde immer verzweifelter. Am 22. November 1880 verbrachte er den Nachmittag auf der Besuchertribüne des preußischen Abgeordnetenhauses, das über einen Antrag auf Rücknahme des Gleichstellungsgesetzes diskutierte. Niedergeschlagen kehrte Auerbach nach Hause zurück. Seine Verzweiflung und das, was zwei Generationen später die Tragödie aller deutschen Bürger jüdischen Glaubens werden sollte, resümierte er tags darauf in dem Satz: ‘Vergebens gelebt und gearbeitet!’.[100]Zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 220.

Schluss

Der Judenhass des frühen 19. Jahrhunderts war nicht wie im Mittelalter Ergebnis auf Unwissenheit begründet, sondern von wachsender Vertrautheit. Er richtete sich nicht gegen fremd wirkende Traditionalisten, sondern gegen die assimilierte jüdische Mittelschicht. Früher hatten die Menschen Furcht und manchmal blinden Hass gegen die unbekannte, geheimnisvolle Gemeinschaft. Nun empfand man Antipathie gegenüber einem Volk, das nun selbst Deutsch schrieb und sprach und das zu kennen man zutiefst überzeugt war. Aber es schien ihnen nur so.

In Realität war es eine extreme Form der Romantik, die sich in erster Linie gegen alles aus der Epoche der Aufklärung wehrte und das Christentum als deutsche “Staatsreligion” verstand und damit das Judentum in Deutschland nicht überlebensfähig machte. Aber sie richtete sich immer noch gegen das Judentum als Religion und Glaubensgrundsatz, nicht gegen die Juden als Menschen.

Diese extreme Meinung war allerdings nicht überall zu finden, sondern nur vereinzelt bei bestimmten Burschenschaften. Andere Burschenschaften spürten einen Zwang und zogen nach. Aber nicht aus Überzeugtheit, sondern aus “Mitläuferzwang”. Natürlich gab es dennoch einige sehr radikale Burschenschaften, wie die schon beschriebenen Jenaer Unbedingten und Gießener “Schwarzen”, um die sehr puritanischen Brüder Follen, der in Christus sein Vorbild sah und genauso rein und konsequent, wie er sein wollte. Hier manifestierte sich die Trennung zwischen aufgeschlosseneren “Arminen” und extrem nationalen “Germanen”.

Diese Arbeit soll mit dem Vorurteil aufräumen, Juden wären im frühen 19. Jahrhundert in Burschenschaften nicht   willkommen gewesen, denn das kann man so pauschal nicht sagen.

Juden konnten sicher durch Assimilation in manche Burschenschaften schon vor 1831 eintreten. Viele deutsche Juden, meist aus dem Bürgertum, konvertierten in dieser Zeit oft aus eigenem Antrieb aus meist pragmatischen Gründen zum Christentum. Der Taufakt geschah wie bei Heine und Gans eher beiläufig. Meist konvertieren nicht-praktizierende Juden und wurden zu nicht-praktizierenden Christen. Aber die Religion anzunehmen war eine Möglichkeit, seine politische Identität zu beweisen. Nur die aufgeklärten Christen erwarteten von den Konvertiten nicht, dass sie tatsächlich an die Dogmen glaubten, an die sie selbst nicht mehr glaubten. Andere Gründe waren das Stigma des „dreckigen Juden“ loszuwerden, in den Staatsdienst aufgenommen zu werden oder überhaupt eine berufliche Chance zu erhalten. Dieses ist bei Heinrich Heines Leben zu beobachten.

Felix Mendelssohn Bartholdy bekam von dem Judenhass wenig mit, da ihn sein Vater früh taufen ließ und ihn auch christlich erzog. Auf Grund seines aufklärerischen Gedankengutes fühlte er aber mit dem Schicksal der Juden mit. Anders Friedrich Julius Stahl, der in seinem späteren Leben aus christlicher Überzeugtheit gegen die Juden und auch die Burschenschaften wetterte, obwohl er beiden einmal angehört hatte.

1831 wurden Burschenschaften dann wieder zugelassen, wo von auch Bamberger und Auerbach sehr profitierten. Sie hatten in ihrer Studienzeit keine großen Probleme zu beweisen, dass sie auch für die deutsche Einheit kämpfen. Erst in den 1880er Jahren, als die Emanzipation schlagartig umkippte und der Antisemitismus geboren wurde, spürten auch sie, wozu Judenhass möglich war und verzweifelten daran. Wie wäre die Emanzipation von 1812 ausgegangen, wenn sie eins oder zwei Generationen früher zur Zeit Moses Mendelssohns proklamiert worden wäre?

Es war fatal für die Juden, dass es in die Zeit des heraufkommenden Nationalismus fiel, der Deutschland für 100 Jahre beeinflusste.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

  • Mainzer Stadtarchiv, Signatur ZGS / A-E, Bamberger.
  • Heine, Heinrich: Der Rabbi von Bacherach. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Hamburg 1884. Elfter Band. S. 3.
  • Heine, Heinrich: Almansor. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Hamburg 1884. Vierter Band. S. 3.
  • Heine, Heinrich: Reisebilder. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Hamburg 1884. Fünfter Band. S. 3.
  • Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Hamburg 1884. Zweiter Band. S. 189.
  • Heine, Heinrich: Romanzero. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Dritter Band. Hamburg 1884. S. 3.
  • Heine, Heinrich: Geständnisse. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Hamburg 1884. Achter Band. S. 3.

Literaturverzeichnis

  • Brunck, Helma: Die deutsche Burschenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. München 1999.
  • Czermak, Gerhard: Christen gegen Juden. Geschichte einer Verfolgung. Von der Antike bis zum Holocaust, von 1945 bis heute. Hamburg 1997.
  • Decker, Kerstin: Heinrich Heine. Narr des Glücks. Berlin 2005.
  • Dvorak, Helge: Burschenschaft und Judenfrage. Berühmte Juden als Burschenschafter. In: Burschenschaftliche Blätter 114/2. o. O. 1999.
  • Elon, Amos: Aus einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch-deutschen Epoche 1743-1933. Stuttgart 2005.
  • Graetz, Henrich: Geschichte der Juden. Band 11. o. O. 1900².
  • Haber, E. R.: Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte. Band 1. Stuttgart ³o. J..
  • Hädecke, Wolfgang: Heinrich Heine. Eine Biographie. München 1985.
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  • Huber, E. R.: Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte. Band 1. Stuttgart ³2000.
  • Jacob, Heinrich Eduard: Felix Mendelssohn und seine Zeit. Bildnis und Schicksal eines Meisters. Frankfurt/Main 1981.
  • Kampmann, Wanda: Deutsche und Juden. Studiun zur Geschichte des deutschen Judentums. Frankfurt 1994.
  • Kirchner, Hartmut (Hg.): Heinrich Heine. Der Rabbi von Bacherach. Ein Fragment. Stuttgart 2004.
  • Kirchner, Hartmut: Heinrich Heine und das Judentum. Bonn 1973.
  • Koehler, Benedikt: Ludwig Bamberger. Ideologie statt Realpolitik. Stuttgart 1987.
  • Konold, Wulf: Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit. o. O. 1984.
  • Kopelew, Lew: Ein Dichter kam vom Rhein. Heinrich Heines Leben und Leiden. o. O. o. J.
  • Kortländer, Bernd (Hg.): Die Worte und die Küsse sind wunderbar vermischt… . Stuttgart 2005.
  • Kruse, Joseph A.: “Ich Narr des Glücks”. Heine Heine 1797 – 1856. Bilder einer Ausstellung. Stuttgart 1997 .
  • Liedtke, Christian: Heinrich Heine. Hamburg 1997.
  • Lönnecker, Harald: Frühe Burschenschaft und Judentum. In: Burschenschaftliche Blätter 114/2. o. O. 1999.
  • Masur, Gerhard: Friedrich Julius Stahl. Geschichte seines Lebens. Aufstieg und Entfalung 1802-1840. Berlin 1930.
  • Scheuffeler, Thomas (Hg.): Berthold Auerbach. 1812-1882. Marbach a. N. 1986.
  • Schmidt, Roderich (Hg.): Heine in Göttingen. Göttingen 2004.
  • Sterling, Eleonore: Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815-1850). Frankfurt 1969.
  • Werner, Eric: Mendelssohn. Leben und Werk in seiner Sicht. Zürich/Freiburg i. Br. 1980.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Heine, Rabbi von Bacherach, S. 15.
2 Werke, die nicht in Jiddisch geschrieben waren, waren jedoch damals Juden verboten zu lesen, da sie als „verderblich“ angesehen wurden.  Aber Mendelssohn hatte Glück und ebenso weltoffene Unterstützer.
3 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 100.
4 Vgl. Czermak, Christen gegen Juden, 118.
5 Der Begriff Antisemitismus, der den Hass gegen die jüdische Rasse beschreibt und in den 1880er Jahren erst geprägt wurde, war hier nicht der Auslöser. Und dennoch wurde hier die Wiege für ihn gelegt.
6 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 134.
7 Vgl. Czermak, Christen gegen Juden, 117.
8 (1781-1831), Jurastudium. Publizist, viele Reisen. Brachte  mit Brentano “Des Knaben Wunderhorn” heraus.
9 Mit “Philister” sind in der Sprache der Studentenverbindung die “Alten Herren” gemeint, also ehemalig Aktive in einer Verbindung.
10 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 104.
11 (1762-1814), Professor für Philosophie. Erster Rektor an der neugegründeten Humboldt-Universität in Berlin.
12, 14 Vgl. Sterling, Judenhaß, 148.
13 (1778-1852), erlagte als Schüler und Student keinen Abschluss. Gründer der Turnbewegung und damit verbunden des schulischen Turnunterrichtes. Wurde in Verbindung mit den Karlsbader Beschüssen sechs Jahre inhaftiert, 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt und zog sich dann aus dem öffentlichen Leben zurück. Motto: “Haß alles Fremden ist des Ddeutschen Pflicht.”
15 (1769-1860), studierte evangelische Theologie, Geschichte, Erd- und Völkerkunde, Sprachen und Naturwissenschaften und war Professor in Greifswald und Bonn. Wurde allerdings zeitweise wegen seiner antifranzösischen Propaganda und den Karlsbader Beschlüssen verfolgt. Erst 1840 als 71jähriger rehabilitiert, lehrte er bis ins hohe Alter. War 1848 Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung.[/fn| war wie Jahn ein Juden- und Franzosen-Hasser. Die Nationalsozialisten sahen ihn 100 Jahre später als ihren Wegbereiter an. Wie Jahn kämpfte er gegen die Leibeigenschaft und für die Mobilisierung gegen Napoleon. Dafür wollte er Nationalgefühle wecken. Seine Schriften waren nicht nur Anregungen für die Gründung der Burschenschaften, sondern auch des Wingolf-Bundes.[fn]Der Wingolfbund ist eine christliche, nicht schlagende, aber farbentragende Studentenverbindung.
16 (1773-1843), Professor für Philosophie. Zeitweise wegen Konakt zur burschenschaftlichen Bewegung entlassen.
17 Vgl. Sterling, Judenhaß, 119.
18, 20 Vgl. Sterling,  Judenhaß, 148.
19 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 156f.
21 Veröffentlichte 1815 seine Schrift mit dem programmatischen Namen “Germanomanie” und verurteilte darin Nationalismus und Deutschtümelei Germanomanie” war eine abwertende Bezeichnung für deutschen Nationalismus und Patriotismus mit Ablehung der anderen und Herofizierung der eigenen Kultur.
22 Zit. nach: Heine, Almansor, S. 10.
23 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 155.
24 Verbot der Burschenschaftem, Überwachung der Universitäten, Pressezensur, Entlassung und Berufsverbot für liberal und national gesinnte Professoren, Exekutionsordnung, Universitätsgesetz, Preßgesetz und Untersuchungsgesetz.
25 Abkürzung für “Hierosolyma est perdita”: Jerusalem ist verloren. Der Ruf soll auf einen Schlachtruf von römischen Soldaten während der Belagerung Jerusalems im Jahr 70  zurückgehen. Anderen Quellen  zufolge stammt er aus der Zeit der Kreuzzüge bei den antijudaischen Progromen im Rheinland. Das lateinische Wort lässt vermuten, dass gebildete Menschen hinter den Krawallen standen. Die Initiatoren waren meist “ehrenwertrte” Bürger, Studenten und Professoren.
26 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 108f.
27, 33 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 160.
28 Vgl. Graetz, Geschichte der Juden, 334 und Elon, Aus einer anderen Zeit, 108.
29 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 111.
30 Vgl. Graetz, Geschichte der Juden, 335.
31 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 109f.
32 Nach der Aufhebung der Kolonialsperre konnte Handel und Gewerbe mit England nicht mehr mithalten.
34 Vgl. Kirchner (Hg.): Rabbi von Bacherach, S. 51. Ebenso: Kirchner, Heine und das Judentum, 72.
35 “[…] Nicht, den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg. […] Die Judenschaft ist ein Ueberbleibsel aus einer ungebildeten Vorzeit, welches man nicht beschränken, sondern ganz ausrotten soll. Die bürgerliche Lage der Juden verbessern heißt eben das Judenthum auszurotten, die Gesellschaft prellsüchtiger Trödler.” Zit. nach: Kirchner, Rabbi von Bacherach, S. 52-56.
36 (1780-1835), lernte Jahn und dessen Ideologie kennen und verfasste rachsüchtige, antinapoleonische Kriegslyrik.
37 Vgl. Kirchner (Hg.):  Rabbi von Bacherach, S. 57-59. Hundt-Radowsky empfahl, ihnen den Mund zuzukleben, damit sie nichts stehlen können.
38 Vgl. Sterling, Judenhaß, 69.
39 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit. 97.
40 In seinen Memoiren schrieb er: „[…] Sie [Heines Mutter] meinte jetzt, ich müsse durchaus Jurisprudenz studieren. […] Da eben die neue Uni­versität Bonn errichtet worden, wo die juristische Fakultät von den berühmtesten Professoren besetzt war, schickte mich meine Mutter unver­züglich nach Bonn.“ zit. nach: Kruse, “Ich Narr des Glücks”, S. 99.
41 Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 113.
42 Vgl. Decker, Heinrich Heine, 61.
43 Vgl. Kopelew, Ein Dichter kam vom Rhein, 67. Ebenso: Liedtke, Heinrich Heine, 34.
44 Vgl. Liedtke, Heinrich Heine, 36.
45 Vgl. Hädecke, Heinrich Heine,  110f.
46 Zit. nach: Kopelew, Ein Dichter kam vom Rhein, 71f.
47 Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 122.
48 Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 187.
49 Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 124.
50 Das gesamte Protokoll zur Gerichtsverhandlung ist zu lesen bei Schmidt, Heine in Göttingen, S. 136-143.
51 „Als solches, die kein Vaterland haben und für unseres kein Interesse haben können, nicht aufnahmefähig, außer wenn erwiesen ist, daß sie sich christlich-teutsch für unser Volk ausbilden lassen wollen.“ zit. nach: Hädecke, Heinrich Heine, 124f.
52 Vgl. Heine, Reisebilder. Die Harzreise. S. 3. Siehe auch: Heine, Wintermärchen. Caput X, S. 211.
53 Vgl. Decker, Heinrich Heine, 73.
54 Siehe § 9 des Emanzipationsediktes: “In wie fern die Juden zu andern öffentlichen Bedienungen und Staats-Aemtern zugelassen werden könne, behalten Wir Uns vor, in der Folge der Zeit, gesetzlich zu bestimmen.“ zit. nach: Huber, Dokumente, S.  49.
55 (1797-1839), stammte aus einer jüdischen Bankiersfamilie aus dem liberalen, assimilierten Judentum, studierte in Berlin und Göttingen Jura, Philosophie und Geschichte, bekam Einladung als Hochschulprofessor als besonders fähiger Akademiker für die Universität Berlin. Als Professor empfing er studentische Fackelzüge und organisierte Unterschriftsaktionen für die sieben entlassenen Göttinger Professoren, den “Göttinger Sieben”. Er sah die Französische Revolution als entscheidenden Wendepunkt in der europäischen Geschichte und die Juli-Revolution 1830 als notwendige Entwicklung im Sinne des liberalen Bürgertums. Sein Staatsideal war das eines preußischen Staates als konstitu­tioneller Monarchie unter Führung eines aufgeklärten, starken Souveräns. Sein größter akademischer Widersacher war von Savigny.
56 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 166.
57 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 127.
58 „Ich bereue es sehr, daß ich mich getauft habe; ich sehe noch gar nicht ein, daß es mir seitdem besser gegangen sei.“ zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 29.
59 Vgl. Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte, 38.
60 „Es war im Mai 1848, an dem Tage, wo ich zum letzten Male ausging“ zit. nach: Heine, Romanzero, S. 6.
61 Vgl. Konold, Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 31.
62 Vgl. Werner 66f.
63 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 87.
64 Hier spielt Heine darauf an, dass es Mendelssohn Bartholdy nach langem Kampf gelungen war, Bachs nahezu vergessene Matthäus-Passion wiederaufzuführen. Heine fand es seltsam, dass ein Judenjunge den Leuten die bedeutenste christliche Musik wiederbringen müsse. Er war aber bei der Uraufführung anwesend.
65 Vgl. Heine, Geständnisse, S. 38.
66 Vgl. Lönnecker, Frühe Burschenschaft und Judentum, 78f.
67 Wahrscheinlich, weil Kronprinz Ludwig von Bayern Metternich feindlich gesinnt war. Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, S. 46.
68 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, S. 47f.
69 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 50.
70 Vgl. Masur Friedrich Julius Stahl, 54f.
71 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 62.
72 Vgl. Masur,  Friedrich Julius Stahl, 71.
73 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 69.
74 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 75f.
75 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 83.

König Friedrich Wilhelm IV. ernannte ihn 1849 zum lebenslangen Mitglied der Ersten Kammer. Damit war er der Führer der reaktionören Bewegung Preußens.[fn]Vgl. Scheuffeler, Berthold Auerbach, 27.

76 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 184.
77 Vgl. Lönnecker, Frühe Burschenschaft und Judentum, 78.
78 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 78.
79 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 183.
80 Im Mainzer Archiv findet man unter der Signatur “ZGS / A-E, Bamberger” Zeitungsartikel mit dem Lebenslauf und dem Stammbaum Bambergers.
81 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 153f.
82 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 165.
83 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 186f.
84 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 192.
85 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 195.
86 Heute Horb am Neckar.
87 Ich verbrachte dort ein trauriges Stück Leben.“, zit. nach Scheuffelen, Berthold Auerbach, 30.
88 Zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 169.
89 Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 31f.
90 Wurde “Demagogenherberge” genannt, da dort fast nur verurteilte Burschenschafter saßen.
91 Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 34.
92 Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 29.
93 Zit. Nach: Scheuffelen, Berthold Auerbach, 40.
94 Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 40.
95 Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 42.
96 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 171f.
97 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 209.
98 Zit. nach: Wolbe, Lebensweisheiten … Auerbachs, 17.
99 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 219.
100 Zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 220.

Rebellion gegen die Geistlichkeit – Anne Hutchinson und die antinomische Krise

Diese Hausarbeit habe ich im Wintersemester 2002/03 im Seminar “Puritanismus im kolonialen Nordamerika” bei Prof. Dr. Helmut Schmahl (Geschichte, Uni Mainz) verfasst. Es ist meine allererste Hausarbeit, die ich verfasst habe.

Nachträglich habe ich den Text gegendert und den Begriff Native Americans ergänzt.

Einleitung

1531 hatte sich Heinrich VIII. von der römischen Kirche gelöst und die englische Staatskirche gegründet. Im Gegensatz zu den anderen protestantischen Konfessionen geschah diese Abspaltung primär nicht aus Gründen von Glaubensfragen wie bei den Reformatoren. Entscheidender Anlass war die Weigerung des Papstes, die Ehe von Heinrich VIII. mit der Spanierin Katharina von Aragon aufzulösen, damit dieser mit der Hofdame Anna Boleyn eine neue römisch-katholisch legitimierte Ehe eingehen konnte. Durch den Federstrich der Trennung von Rom fand in den glaubenspolitischen Wirren der folgenden Jahre eine Hinwendung der englischen Staatskirche, des Anglikanismus, zu der protestantischen Glaubensrichtung statt. Die romtreuen Kleriker versuchten verständlicherweise, diesen Prozess aufzuhalten bzw. dem gegenzusteuern oder gar rückgängig zu machen. Allerdings oft mit der Folge, hingerichtet zu werden, wie beispielsweise Thomas Morus.

So bildeten sich innerhalb der englischen Kirche zwei Gegenströme. Jene, die eine Wiederangliederung in die römisch-katholische Kirche wünschten und jene, die die Inhalte der protestantisch-calvinistischen Lehren übernehmen wollten. Zu allem spielte auch die große Politik, besonders die Position England als politischer Kontrapunkt zum erzkatholischen Spanien, eine Rolle.

Calvin war ein Reformator aus der französischen Schweiz, der etwa zeitgleich mit Luther lebte. Seine Lehre beruht hauptsächlich auf der doppelten Prädestinationslehre, die besagt, dass manche Erwählte in den Himmel kommen, die anderen, die Nichterwählten, in die „Hölle“. Nach seiner These macht sich diese Erwählung schon auf Erden bemerkbar, denn den Erwählten ist bereits dort Erfolg beschieden.

Die Anhänger der calvinistischen Glaubensrichtung nannten sich in Frankreich Hugenott*innen und in England Puritaner*innen*innen, abgeleitet vom Englischen to purify = reinigen. In England wollte man neben der Durchsetzung der eigenen Glaubens Richtung innerhalb der anglikanischen Kirche im Besonderen den nach Meinung der Puritaner*innen*innen noch zu sehr vorhandenen Einfluss (man nannte die Katholik*innen abschätzig Papisten) der katholischen Kirche reinigen.

In diesen Wirren wurde Anne Hutchinson am 20. Juli 1590 als Anne Marbury, Tochter des Geistlichen Francis Marbury und seiner zweiten Ehefrau Bridet Dryden, Tochter des John Dryden of Canon’s Ashby in Northhamptonshire, in der Kirche von Alford, Lincolnshire getauft.[1]Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436.

Der Antinomismus

Das Wort Antinomismus wird aus den griechischen Wörtern anti = gegen und nomos = Gesetz zusammengesetzt. Damit ist speziell das alttestamentliche Sittengesetz gemeint, wie es in der Bibel im Pentateuch steht und dem niemand mehr verpflichtet sei. Denn durch die Ankunft des Messias, Jesus von Nazareth, sei das Alte Testament und damit auch der Alte Bund abgeschlossen. Durch den Tod von Jesus wurde nicht nur die gesamte Menschheit von ihren Sünden erlöst, sondern Gott schloss zudem mit allen Menschen der Erde einen Neuen Bund.

,,Indem er von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten für veraltet erklärt, was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem Untergang nahe.” (Hebr 8,13)

Der Antinomismus betont die menschliche Glaubensfreiheit und die göttliche Gnade. Diese Ideologie geht zurück bis zu Paulus, der diese Glaubensüberzeugung mit seinen Briefen hervorbrachte. Die Antinomist*innen formulierten, da der Heilige Geist die Menschen erfülle, geht dieser eine persönliche Union mit den Menschen ein. Somit gehören alle gläubigen Christ*innen zu den Erretteten und kommen Kraft dessen in den Himmel. Der Heilige Geist lenke die Handlungen des Menschen. Der Mensch sei nicht mehr an ein Gesetz, speziell das Sittengesetz gebunden, da er gar nicht mehr sündigen könne, weil ansonsten der Heilige Geist und damit Gott selbst in der Dreifaltigkeit sündigen würde, was schließlich nicht möglich sei. So die Überzeugung der Antinomist*innen.[2]Vgl. Röm 6,14. vgl. Röm 3,23-26. Doch die Missbrauchsmöglichkeit, die sich aus dieser Sichtweise ableitete und zur Anarchie führen könnte, bereitete vielen Menschen Sorge.[3]Vgl. Pesch, Otto Hermann: Antinomismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche Band 1. Freiburg im BreisgaVgl. Pesch, Otto Hermann: Antinomismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche Band 1. Freiburg … Continue reading

Anne Hutchinson in England

Annes Vater Francis, Diakon an der Christ Church in Cambridge, sprach offen über seine puritanischen Lehren, von denen Anne schon einige in frühem Alter aufnahm. Die puritanischen Äußerungen des Vaters missfielen den Verantwortlichen der Church of England so sehr, dass sie ihn für ein Jahr ins Gefängnis steckten. Aber auch nach seiner Freilassung blieb er bei seinen selbst für die Anglikaner radikalen Meinungen und nahm es in Kauf, deswegen immer wieder verhaftet und verhört zu werden. Der Marbury‘sche Haushalt repräsentierte gleichzeitig puritanische Zucht und Bildung’. Anne lernte leben und schreiben. Sie verehrte ihren Vater, der den Prinzipien der traditionellen Kirche widersprach, las viele seiner Bücher über Religion und Theologie und unterstützte seine Meinung. 1605 zog die Familie nach London.[4]Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436. Ebenso: Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 11-12.

Am 9. August 1612 heiratete Anne Marbury als 22jährige den Kaufmann William Hutchinson aus Alford, Lincolnshire. Bis 1633 wurden ihnen 15 Kinder geboren. Von Alford aus fuhr die Familie sonntags oft nach Boston (England), um die Predigt von Reverend John Cotton zu hören, den Anne sehr bewunderte. Wie ihr Vater predigte auch dieser die Reinigung der Kirche und wetterte gegen den seiner Meinung nach drohenden Verfall. Cotton wurde von zwei wesentlichen Thesen getrieben. Erstens war auch er Meinung, dass die katholische Kirche immer noch einen zu starken Einfluss auf die Church of England habe und dass dieser Einfluss diese Institution letztendlich zerstören würde. Zweitens war er beseelt von der Idee, in Amerika eine Kirche mit religiöser Freiheit aufzubauen.[5]Vgl. Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 26.

Die Massachusetts Bay Colony

Als im November 1620 die Passagiere der Mayflower nicht wie geplant in Virginia, sondern weiter nördlich landeten, wurden sie dort ansässig. Sie gründeten eine Siedlung und schlossen schließlich mit dem englischen König einen Vertrag für dieses Stück Land: den Mayflower Compact. Das Ziel war, eine Zuflucht für Puritaner*innen*innen zu schaffen, damit diese dort nach ihrer religiösen Ideologie leben können. Zur Erreichung dieses Ziels gründete man nach der Landung eine Kapitalgesellschaft, die Massachusetts Bay Company, die in England für die Durchsetzung dieses Zieles kämpfte. Im März 1629 war es dann soweit: Festgelegt in der königlichen Charta (Massachusetts Bay Charta) für das Gebiet zwischen dem Fluss Merrimack und dem Charles River am 4. März 1629. In dieser Charta wurde festgeschrieben, dass es dort einen von den sogenannten Freemen gewählten Governor und einen Deputy Governor gibt, die zusammen mit 18 Assistants den General Court bilden und Minister genannt wurden. Als Freemen galten alle Männer, die sich in die Siedlung eingekauft hatten und somit Mitglied waren. Die Massachusetts Bay Colony kann man als Kirchenstaat bezeichnen, denn der Governor war gleichzeitig das weltliche und das geistliche Oberhaupt. 1630 landete der schon in England gewählte erste Governor der Siedlung, John Winthrop. Der englische König hatte allerdings in dem Vertrag übersehen, England als den Sitz der Gesellschaft festzulegen. Somit war es nicht notwendig, dass die Mitglieder des General Court ihre jährliche Versammlung in England abhalten mussten und die Pfarrer brauchten so nichts mit dem König abzustimmen und konnten praktisch autonom regieren. Die Gesetze der Massachusetts Bay Colony waren jedoch nicht wirklich liberal. Wenn es denn überhaupt eine Wahl in der Lebensweise gab, bestand diese lediglich in der Religionsfreiheit. Die strengen puritanischen Gebote im Zusammenleben der Massachusetts Bay Colony galten für alle Bewohner, ob sie puritanischen Glaubens waren oder nicht.

Sie bestand von 1628 bis 1681 und war eine englische Siedlung am Massachusetts Bay, an der Ostküste Amerikas um Boston und Salem.

Da die Puritaner*innen*innen in den 1630er Jahren starken Zulauf hatten, brauchte die Kolonie in Massachusetts ihre Gesetze nicht zu liberalisieren. Erst Ende des 17. Jahrhunderts, als die immigrierte Generation verstorben war, wurde die Härte der puritanischen Vorschriften gelockert, um neue Mitglieder zu gewinnen. Die nach kommenden Generationen konnte sich nicht mehr mit der erzkonservativen Glaubensüberzeugung ihrer Väter und Großväter identifizieren; sie erschien ihnen veraltet. Bernard Bailyn nennt dies einen problematic anachronism.[6]Vgl. Bailyn, Bernard: The Peopling of British North America. New York 1986. S. 91.

Anne geht ihren Weg

Ihre Ankunft

1633 emigrierte Annes ältester Sohn Edward mit John Cotton nach Amerika und wurde in der Massachusetts Bay Colony sesshaft. 1634 folgte ihm die Familie an Bord der Griffin nach.[7]Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436.

Damit waren sie Teil der großen Auswanderungswelle von 1630 bis 1642, in der allein 21.000 Puritaner*innen*innen von England aus in die Massachusetts Bay Colony auswanderten.[8]Vgl. Bailyn, Bernard: The Peopling of British North America. New York 1986. S. 25-26.

Schon an Bord der Griffin sprach Anne immer wieder über ihre persönlichen Überzeugungen, der die anderen Schiffsinsassen nicht unbedingt positiv gegenüberstanden, was zu Spannungen führte. Sie überraschte allerdings damit, dass sie den Tag der Ankunft in der Massachusetts Bay exakt voraussagte: der 18. September 1634. Anne war überzeugt, hellseherische Momente zu haben; es ist aber nicht überliefert, ob sie diese bewusst bzw. vorsätzlich zu ihrem Vorteil ein setzte. Sie wird beschrieben als selbstlose Frau, die nicht nach Macht strebte. In der Öffentlichkeit habe sie als hilfsbereit gegolten, half bei Geburten und kümmerte sich um die Kranken. Mit ihrer Rolle als Frau und Mutter sei sie zufrieden, gewesen und damit eigentlich eine vorbildliche Goodwife, wie man die puritanischen Frauen nannte. Sie wird als stets fröhlich und fromm beschrieben, aber sie war auch eine Frau mit einer hohen Intelligenz und einer für die damalige Zeit ungewöhnlich guten Bildung. Damit war sie vielen anderen Personen überlegen. Sicherlich trug dies zu ihrer Selbstsicherheit und Durchsetzungsfähigkeit bei. Das Schicksal der Native Americans berührte sie im Besonderen, da jene nicht an Jesus Christus glaubten und damit nicht zu den Erretteten gehören würden.[9]Vgl. Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 91.

Die Stellung der Frau in der Massachusetts Bay Colony

Frauen wurden in der Massachusetts Bay Colony auf Grund der Vorschriften völlig unterdrückt. Nur den Männern sei Intelligenz gegeben, so die allgemeine Auffassung der Minister in Massachusetts. Frauen sollten sich um die Familie und um den Haushalt kümmern.[10]Vgl. Adams, Charles M.: The Colonial Period of American History. New Haven 1934. S. 477.

Sie wurden grundsätzlich als geistig minderwertig und sittlich schwach an gesehen, schon alleine aus dem Grunde, dass Eva zuerst die Sünde im Paradies begangen hatte. Sie sollten den Inhalten der Predigten entsprechend leben, durften nicht selbst vor Menschen sprechen (egal ob in der Kirche oder an einem anderen Ort) und ihre Meinung darlegen. Dabei stützte man sich auf eine Aussage des Apostels Paulus in einem seiner Briefe, die von den Ministern Massachusetts in ihre Vorschriften übernommen wurde.

Es ist möglich, dass sich Anne von dieser zweiten Bibelstelle im Korinther-Brief leiten ließ als sie meinte, man solle die Heilige Schrift nicht buchstäblich auslegen, sondern sich dabei von der Nächstenliebe als Kernbotschaft des Neuen Testamentes leiten lassen. Gerade diese Nächstenliebe und der Neue Bund, den Anne Hutchinson den Covenant of Grace, Bund der Gnade, nannte, waren ihr sehr wichtig.

Anne war mit Leib und Seele Hausfrau und Anhänger des puritanischen Glaubens. Mit den meisten puritanischen Prinzipien war sie durchaus einverstanden. Seit ihrer Kindheit machte sie sich Gedanken zu theologischen Fragen, die sie bei privaten Treffen gegenüber anderen äußerte. Sie wollte sich hiermit nicht außerhalb der puritanischen Kirche stellen, noch wollte sie jemanden verletzen. Allerdings weckte sie mit ihren differenzierten Ansichten zum Alten und Neuen Bund den Zorn der puritanischen Führer.

Cotton warnte sie bereits bei ihrer Ankunft im September 1634 in Amerika, ihre Gedanken und Lehren besser für sich zu behalten. Aufnahme in die Kolonie fand nur, wer ,,I have been guilty of wrong thinking[11]Zit. nach: Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 90. gelobte, wobei sie, um für sich ein reines Gewissen zu behalten, bei dieser Aussage keineswegs an ihre religiöse Doktrin gedacht haben soll, sondern an familiäre Angelegenheiten. Sie war wohl ernsthaft bereit, einen Kompromiss zu schließen um Mitglied der Massachusetts Bay Colony zu werden. Vor allem wollte sie ein Mitglied der Kongregation Cottons zu werden, den sie noch immer verehrte.

Dieser allerdings brachte Annes Ansichten keinerlei Verständnis entgegen, sondern pure Ablehnung. Nach seiner Vorstellung vergeudete sie ihre Zeit und auch er vertrat die Ansicht, dass sie sich nicht in die von Gott gegebene Rolle einfüge. Anne war in der Annahme nach Amerika gekommen, dass sie im Gegensatz zur Situation in England, in der Massachusetts Bay Colony ihre Glaubensvorstellungen leben und ihre Meinung frei äußern könne. Die Hoffnung täuschte.

Ihre Informationstreffen und die Verbreitung ihrer Doktrin

Anne gewann recht bald Ansehen für ihre Intelligenz und Bildung, und auch ihre Herzlichkeit machte sie beliebt. Sie begann zweimal pro Woche Informationstreffen für andere Frauen in ihrem Haus abzuhalten, um sich über die vorangegangene sonntägliche Predigt ihre Meinung zu äußern und mit den Frauen hierüber zu diskutieren. Besonders die Verbannung des Dissidenten Roger Williams vergrößerte den Zustrom der Frauen zu den Treffen enorm. Es waren schließlich fast 100 Frauen. Später riskierte es Anne, bei diesen Treffen auch ihre eigenen Vorstellungen darzulegen und darüber zu diskutieren. Sie wollte, dass jede Frau des Kreises ihre eigene Meinung finden solle, die nicht unbedingt mit der Predigt des Pastors übereinstimmen musste. So befürwortete sie, den Covenant of Grace, den Neuen Bund.

Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt -, nicht aufgrund eurer Werke, damit keiner sich rühmen kann.“[12]Eph 2,8-9: Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt -, nicht aus Werken, damit keiner sich rühmen kann.

So kam Anne zu ihrer Doktrin, dass bereits und allein der Glaube an Gott die Menschen befreit und man als Christ somit zu den Erretteten, den ewig Lebenden gehört.

Auf den alttestamentlichen Gesetzen und dem absoluten Gehorsam der Kirche und dem Staat gegenüber basierte aber die politische Ordnung der Massachusetts Church. Anne stellte mit ihren Gedanken den Grundpfeiler dieser Glaubensrichtung in Frage. Die Frauen der Treffen jedoch sprach ein Gott des Vergebens der (Erb-)Sünde und der Nächstenliebe viel mehr an als ein Gott, der auf ewig verdammt. Durch die Vorstellung, dass bereits allein der Glaube an Jesus Christus den Menschen erlöst, wurde die Autorität der Pfarrer ins Wanken gebracht. Im Nebeneffekt förderten die Treffen der Frauen deren Sozialisierung, wurde ihnen doch ansonsten keine geistig anregende Möglichkeit geboten.

Auch John Winthrop, ab 1637 wieder erster Minister (Govenor), vertrat ebenfalls das zeittypische niedere Bild der Frauen und hatte eine sehr puritanische Vorstellung, was diese tun und lassen sollten. Er sah die Treffen sehr negativ. und bezeichnete sie als ,,disorderly and without rule“[13]Zit. nach: Holliday, Carl: Woman‘s Life in Colonial Days. Boston 1992. S. 440..[14]Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436.

Zu Annes Freunden gehörten unter anderem so einflussreiche Männer wie ihr Schwager, der Reverend John Wheelwright, der die Schwester ihres Mannes, die Quäkerin Mary Hutchinson, geheiratet hatte. Des weiteren Captain John Underhill und ein weiterer Quäker mit Namen William Coddington und Sir Henry Vane, der Jüngere, der zeitweise Governor in der Kolonie war, die Quäkerin Mary Dyer, die Anne schon aus Alford kannte und die mit ihr nach Massachusetts ausgewandert war. Doch die Anhänger dieser neuen protestantischen Glaubensgemeinschaft der Freunde des Lichtes, Quäker*innen genannt, wurden von den strenggläubigen Puritaner*innen*innen verfolgt.

Winthrop bezichtigte beispielsweise Sir Henry Vane des Antinomismus und so kam auch Anne Hutchinson durch die Bekanntschaft in den Verdacht, eine Antinomistin zu sein. Anne aber war mit der Ideologie der Massachusetts Bay Colony im Wesentlichen einverstanden und befolgte deren Gesetze.[15]Vgl. Pesch, Otto Hermann: Antinomismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche Band 1. Freiburg im Breisgau 31993. Sp.765.

Ihre Ideologie

Wie bereits erwähnt, war nach Auffassung von Anne jeder Gläubige gerettet und erfüllt vom Heiligen Geist. Aus diesem Grund und der Haltung Jesus‘ zur Nächstenliebe auch seinen Feinden gegenüber, war Anne zum Beispiel gegen die Verfolgung der Native Americans, da sie Menschen aus demselben Fleisch und Blut wären. Zudem vertrat Anne die Überzeugung, dass man keine Gebete auswendig lernen müsse. Gebete seien kein Druckmittel. Beten solle man, wenn das Bedürfnis da sei, und man solle sich dabei von Gott inspirieren lassen, wenn man die Worte formuliere.

Ebenso wie gegen festgelegte Gebete wandte Anne sich gegen die Verehrung des Sonntages als den einzigen heiligen Tag in der Woche. Vielmehr sei jeder Tag ein Tag Gottes, an dem man seine Werke und seine Schöpfung preisen solle.

Das Sittengesetz als moralische Instanz, wie auch die gesamte Ideologie der Bibel sei für jeden in einer Weise geltend, wie dieser sie auslege. Wohlgemerkt nach Annes Auffassung nicht buchstäblich, sondern in einem tieferen Sinn[16]Er hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig., der für jeden Menschen so unterschiedlich ist, wie die Menschen untereinander verschieden sind. Anne argumentierte, dass seit Christi Tod der Mensch mit seiner Lebensweise nicht mehr an den Alten Bund und somit auch nicht an das Sittengesetz gebunden sei, außer wenn ihn der Heilige Geist dazu bewegt. Alle, die das Gegenteil predigten, das waren für Anne in der Kolonie die Pfarrer außer Cotton, waren nicht dazu fähig, die Menschen zu lehren. Dennoch waren sie Annes Meinung nach errettet, glaubten sie doch an Jesus Christus.

Mit dem Gedanken aber, dass für jeden nur die eigene Auslegung entscheidend ist, machte sie sozusagen die Prediger überflüssig. Sie untergrub außerdem den Anspruch des Puritanismus als reinste der christlichen Religionen (alle anderen Religionen galten als heidnische) und somit den Missionierungscharakter als Erwählte. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, würde es bedeuten, dass man keine Kenntnisse der Bibel und der puritanischen Lehren braucht, um von Gott erwählt zu sein. Auch würde dies für jede andere christliche Religion gelten. Die Minister waren empört, war doch ihrer Meinung nach der noch so jungen Kolonie der Reinen in Gefahr, umgedreht zu werden. Aber auch Teile der Bevölkerung waren schockiert über die Ansichten Annes.

1634 bis 1637 war der 1634 erst 20jährige Henry Vane, Sohn eines englischen Gemeinderates, Governor der Kolonie und wie zuvor schon erwähnt, Sympathisant von Anne. Anfangs waren die Bewohner begeistert von dem jungen Mann. Als er jedoch öffentlich behauptete, eine persönliche Union mit dem Heiligen Geist eingegangen zu sein, waren sie so schockiert, dass sie sich von dem vermeintlichen Antinomist*innen enttäuscht abwendeten. Sein Gegenkandidat Winthrop setzte bei seiner Propaganda für die Wahl zum Governor besonders auf die Rückbesinnung zum Ursprünglichen des Puritanismus und damit für eine Restauration, die in Massachusetts wieder für eine Ordnung nach seiner Vorstellung sorgen sollte. Es erstaunt nicht, dass es zur Wahl Winthrops zum neuen Governor kam. Vane kehrte enttäuscht nach England zurück.[17]Vgl. Speck, W. A./Billington, L.: Calvinism in Colonial North America 1630-715. In: Menna Prestwich (Hg.): International Calvinism 1541-1715. Oxford 1985. S. 265.

Einige wollten Annes Schwager Reverend John Wheelwright als dritten Minister neben Winthrop und Cotton. Er sollte die Aktivitäten Annes zügeln. Doch Winthrop stellte sich gegen Wheelwright und versagte seine Nominierung. Wheelwright war von der abweisenden Haltung des neuen Governors sehr gekränkt. Winthrop versuchte, die Wogen zu glätten und bot Wheelwright die Fasttags Predigt im Januar 1637 an, doch Wheelwright lehnte, immer noch gekränkt, ab. Nun war Winthrop seinerseits verärgert und zitierte ihn gleich zu Beginn seiner Legislaturperiode vor den General Court, das Gericht der Kolonie, das ihn dann verbannte. Ende des Jahres, am 22. Dezember 1637, verließ er die Kolonie Richtung New Hampshire.

Der Prozess

Im November 1637 zitierten die Minister der neuenglischen Kolonie Anne Hutchinson vor Gericht. Noch im Jahr zuvor war man nicht so besorgt, schrieb Winthrop zu diesem Zeitpunkt doch in sein Tagebuch einen Eintrag über die Angeklagte, der mit ,,One Mrs. Hutchinson […][18]Zit. nach: Miller, Perry/Johnson, Thomas H.: The Puritans. New York u.a. 1938. S. 129.

beginnt. Es schien ihm nicht weiter erwähnenswert. Man klagte Anne wegen Ketzerei (heresy) und der Verhetzung (sedition) an. Vor Gericht ließ man ihr zwei Möglichkeiten. Entweder sie widerrufe alles und würde wieder ein ,,profitable member here among us” oder ,,the court may take such course that you may trouble us no further.[19]Zit. nach: Hutchinson, Thomas: The Examination of Mrs. Ann Hutchinson at the court at Newton. In: Lawrence Shaw Mayo (Hg.): The History and Providence of Massachusetts. Band 2. Cambridge 1936. S. … Continue reading

Argumente von Anne Hutchinson

Anne wählte von beide Optionen die letztere, denn ihr war es vermutlich wichtiger, vor Gott ein reines Gewissen zu bewahren, als Mitglied in der Massachusetts Bay Colony zu bleiben. Geschickt und engagiert verteidigte sie sich selbst und man bemerkte ihr großes Wissen über die Heilige Schrift. Hier konnten ihr die Minister nichts widerlegen, sonst hätten sie behaupten müssen, die Bibel wäre falsch. Wahrscheinlich erst durch das Eingehen auf ihre ,,immediate revelations“ und den Bezug zu Abraham³¹ lieferte sie einen griffigen Vorwand für eine Verurteilung. Die geschickte Verteidigung war für die Pfarrer schlimm, konnte doch eine Frau nicht intelligenter sein als Männer. Dies sei ein Ding der Unmöglichkeit. Anne müsste vom Teufel besessen sein.

Bei der anschließenden Abstimmung im Gerichtssaal stimmten daher alle Personen bis auf drei[20]Eine Enthaltung, zwei Gegenstimmen von Coddington und einem Mr. Colborn. für ihre Verbannung. Als Anne Hutchinson fragte, weswegen sie verbannt werde, bekam sie die nichtssagende Antwort: „Say no more, the court knows wherefore and is satisfied.”[21]Zit. nach: Holliday, Carl: Four Woman’s Life in Colonial Days. Boston 1992. S. 44.

Wegen des bevorstehenden Winters verbrachte sie die nächsten Monate in der Obhut von Marschalls Joseph Weld.[22]G., G.: Hutchinson, Mrs. Anne. In: Dictionary of national Biography. Band 10. Oxford 1973. S. 338.

Bei einem Besuch bei Cotton in Boston versuchten dieser und ein anderer Reverend namens John Davenport, Anne von ihren Fehlern zu überzeugen. Ob Cotton dies tat, um Anne in seiner Kongregation zu behalten oder aus tatsächlicher Überzeugung, ist nicht bekannt. Zweimal hatte Anne die Chance, in der Öffentlichkeit alles zu widerrufen, zweimal blieb diese ungenutzt. So wurde sie schließlich auch der Lüge bezichtigt und am 22. März 1638 exkommuniziert.

Das tragische Ende

Eine Verbannung war in jener Zeit eine harte Strafe, denn die Kolonie bot auch Schutz. Außerhalb der Kolonien war Indianerland und man war weitgehend auf sich allein gestellt. Letztendlich blieb Anne die Möglichkeit entweder nach England zurückzukehren oder aber nach Aquidneck ziehen, das Roger Williams gegründet hatte. Sie entschied sich für letzteres. Im Frühjahr zog Anne mit Familie und Bediensteten in die neugegründete Kolonie südlich von Massachusetts, den heutigen Staat Rhode Island.

1642 starb Annes Mann. Anne zog aus unbekannten Gründen mit den meisten Verbliebenen der Familie Hutchinson weiter nach Hell Gate in Long Island, einem niederländisch besiedelten Gebiet, der heutigen Pelham Bay. Dort wurden im August oder September 1643 nicht nur Anne, sondern auch fast alle ihre Kinder und Bediensteten und viele weitere Personen bei einem Angriff von Native Americans getötet.

Der Tod von Anne Hutchinson im sogenannten Massaker von Hell Gate[23]Vgl. ebd. S. 437. führte in der Massachusetts Bay Colony zu unterschiedlichen Reaktionen. Die puritanischen Führer, allen voran Winthrop, fühlten keine Reue. ,,Proud Jezebel has at least been cast down.“ Viele Bewohner jedoch machten Winthrop für Annes tragischen Tod verantwortlich.

Captain John Underhill, Anhänger von Anne Hutchinson und von vielen als Antinomist tituliert, vergalt den Angriff mit einem noch größeren Massaker und brachte 250 Männer, Frauen und Kinder um und begann damit den sogenannten dreijährigen Krieg.[24]Vgl. Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 137.

Die überlebenden drei Kinder Anne Hutchinsons waren ihr ältester Sohn Edward, der in die Massachusetts Bay Colony zurückkehrte und dort von 1658 bis 1675 Deputy Governor war. 1675 wurde er im King Phillipp‘s War nach Brookfield geschickt, um mit den Native Americans in Nipmuck zu verhandeln, die ihn jedoch ermordeten. Er war der Urgroßvater des späteren Governor der Kolonie, Thomas Hutchinson, der auch die Gerichtsverhandlung seiner Ur-Urgroßmutter Anne veröffentlichte, aus der an einigen Stellen zitiert wurde. Edwards jüngere Schwester, Faith, heiratete Thomas Savage, den Oberbefehlshaber in dem schon erwähnten Krieg König Philipps.

Das jüngste Kind von Anne Hutchinson, Susanna (geboren 1633), wurde bei dem Angriff der Native Americans entführt und später von Niederländern freigekauft. 1651 heiratete sie in Bolton John Cole.[25]Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 437.

Schluss

Anne hatte erkannt, dass sich die Puritaner*innen und von dem Neuen Testament als Basis des christlichen Glaubens entfernten und sich damit in die falsche Richtung bewegten. Auch der zentrale Punkt, nach der alle Menschen vor Gott gleich sind, fand sie in der puritanischen Auslegung nicht ausreichend berücksichtigt. Sie konnte letztendlich nicht wirklich etwas bewegen, aber sie war ein Mahner und bezeugte großen Mut, in dem sie ihre Ansichten nicht leugnete. Dass ihr Vorbild bei den anderen Frauen wirkte, macht sie zu einer Vorreiterin der weiblichen Emanzipation bereits zu einer Zeit, in der Frauen noch als vermeintliche Hexen denunziert und getötet wurden.

Mit ihrer Priorität auf Nächstenliebe und der Gleichheit der Menschen war sie dem allgemeinen Zeitgeist weit voraus. Es ist auch ein Stück jenes Demokratieverständnisses, das sich in der pluralistischen Gesellschaft der USA ausgeprägter und früher als in der Alten Welt entwickelte.

Ihre Intelligenz und die für die damalige Zeit besonders für Frauen ungewöhnliche Bildung machte sie für die Männer der Massachusetts Bay Colony zu einer Bedrohung. Sie entstammte einer gebildeten englischen Familie und hatte so ei ne hervorgehobene gesellschaftliche Stellung in England. Sie gab alles auf, um nach der Auswanderung den freien Glauben leben zu können. Bereits drei Jahre später war dieser Traum mit der Ausweisung zu Ende. Bemerkenswert ist, dass ihr Mann nur in Bezug auf die Hochzeit und seinen Tod erwähnt wird. Anne war wohl eine so starke Persönlichkeit, dass ihr die ganze Familie folgte. Bleibt zu hoffen, dass auch im 21. Jahrhundert immer wieder neue Anne Hutchinsons den Mut finden, für ihren Glauben und die Rechte der Frauen ein zutreten.

Literaturverzeichnis

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  • Hutchinson, Thomas: The Examination of Mrs. Ann Hutchinson at the court at Newtown. In: Lawrence Shaw Mayo (Hg.): The History and Providence of Massachusetts. Band 2. Cambridge 1936.
  • Miller, Perry/Johnson, Thomas, H.: The Puritans. New York u.a. 1938.
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  • Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436.
2 Vgl. Röm 6,14. vgl. Röm 3,23-26.
3 Vgl. Pesch, Otto Hermann: Antinomismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche Band 1. Freiburg im BreisgaVgl. Pesch, Otto Hermann: Antinomismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche Band 1. Freiburg im Breisgau 31993. Sp. 765.
4 Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436. Ebenso: Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 11-12.
5 Vgl. Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 26.
6 Vgl. Bailyn, Bernard: The Peopling of British North America. New York 1986. S. 91.
7 Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436.
8 Vgl. Bailyn, Bernard: The Peopling of British North America. New York 1986. S. 25-26.
9 Vgl. Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 91.
10 Vgl. Adams, Charles M.: The Colonial Period of American History. New Haven 1934. S. 477.
11 Zit. nach: Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 90.
12 Eph 2,8-9: Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt -, nicht aus Werken, damit keiner sich rühmen kann.
13 Zit. nach: Holliday, Carl: Woman‘s Life in Colonial Days. Boston 1992. S. 440.
14 Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436.
15 Vgl. Pesch, Otto Hermann: Antinomismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche Band 1. Freiburg im Breisgau 31993. Sp.765.
16 Er hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.
17 Vgl. Speck, W. A./Billington, L.: Calvinism in Colonial North America 1630-715. In: Menna Prestwich (Hg.): International Calvinism 1541-1715. Oxford 1985. S. 265.
18 Zit. nach: Miller, Perry/Johnson, Thomas H.: The Puritans. New York u.a. 1938. S. 129.
19 Zit. nach: Hutchinson, Thomas: The Examination of Mrs. Ann Hutchinson at the court at Newton. In: Lawrence Shaw Mayo (Hg.): The History and Providence of Massachusetts. Band 2. Cambridge 1936. S. 367. Ebenso: Holliday, Carl: Four Woman’s Life in Colonial Days. Boston 1992. S. 44.
20 Eine Enthaltung, zwei Gegenstimmen von Coddington und einem Mr. Colborn.
21 Zit. nach: Holliday, Carl: Four Woman’s Life in Colonial Days. Boston 1992. S. 44.
22 G., G.: Hutchinson, Mrs. Anne. In: Dictionary of national Biography. Band 10. Oxford 1973. S. 338.
23 Vgl. ebd. S. 437.
24 Vgl. Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 137.
25 Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 437.