Vom Kaiserreich zur Kommerzialisierung: Deutschland und der moderne Fußball

„Moderner Fußball“ ist ein Schlagwort. Ein Schlagwort, das in Zeiten von wankendem 50+1, zunehmender Kommerzialisierung, zerstückelter Spieltage etc. vorwiegend negativ konnotiert ist. Aber war der Fußball vorher alt? Antik? Natürlich mitnichten. Etymologisch betrachtet, bedeutet modern nichts anderes als „modisch/nach heutiger Mode“. Synonyme sind Adjektive wie aktuell, neu(artig), zeitgemäß und meinen damit auch fortschrittlich und etwas, das gerade eben („modo“) beliebt geworden ist. Ähnlich definiert es auch der Duden. So gesehen geht es bei der Frage nach modernem Fußball um die Phase, in der Fußball bei der Masse der Bevölkerung und nicht nur ein paar Nerds beliebt und in der die ursprüngliche Form weiterentwickelt wurde.
Es soll hier nur um den Beginn des modernen Fußballs in England und Deutschland (genauer gesagt: im deutschen Kaiserreich) gehen und um die Frage, was oder wer verursachte, dass er modernisiert wurde. Der Beitrag ist ein in Fließtext gebrachtes Brainstorming, das ausdrücklich zum Kommentieren anregen soll. Allerdings geht es hier wirklich nur um die Anfänge des Fußballs, d.h. um etwa die Phase 1820-1900 in England und 1870-1930 in Deutschland.

Dieser erste von zwei Teilen befasst sich mit dem Beginn des modernen Fußballs in England.

Dieser Beitrag erschien erstmals 2019 auf 120minuten.net

Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gab es in England football, in Frankreich soule, in Italien calcio. In Deutschland, genauer gesagt dem damaligen deutschen Kaiserreich, gab es vor dem 19. Jahrhundert kein Fußballspiel. Es konnte also nicht auf schon bekannte Formen zurückgreifen, die in der Folgezeit reguliert wurden. Fußball war unbekannt. Und daher musste er erstmal Fuß fassen, um modernisiert werden zu können. Denn das Wort modern setzt ja voraus, dass es schon eine Vorform, eine antike Form zuvor gab.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kamen die in England beliebten Sportarten wie Cricket, Baseball und beide Fußballvarianten, Rugby und (Assoziations-)Fußball, nach Deutschland. Denn die in Deutschland lebenden Engländer und englische Langzeittouristen wollten nicht auf die liebgewonnenen Sportarten verzichten, die auch die Kontaktaufnahme zu anderen Engländern der Umgebung sehr erleichterte. In diesen Jahrzehnten entwickelte sich das reglementierte Fußballspiel vom Schüler- und Studentensport zu einem in der englischen Gesellschaft verankerten Freizeit- und Bewegungsvergnügen.

Deutsche, die in Kontakt zu Engländern standen – beispielsweise Ärzte, Sprachlehrer, Uniprofessoren oder Journalisten – beobachteten den Sport der Engländer, fanden mitunter Gefallen an Fußball und imitierten ihn. Das passiert vor allem in den so genannten Engländerkolonien in Deutschland. Diese befanden sich vor allem in Residenzstädten wie Hannover, Braunschweig, oder Dresden, oder in Universitätsstädten wie Heidelberg oder Göttingen. Auch in im 19. Jahrhundert beliebten Kurorten – Wiesbaden, Baden-Baden oder Cannstatt sind hier Beispiele – und in Handelsstädten wie Frankfurt, Berlin, Hamburg oder Leipzig waren häufig Engländer anzutreffen.

Soziale Herkunft der Fußball-Liebhaber: Engländer in Deutschland und Konrad Koch

Es waren aber nicht nur die in Deutschland lebenden Engländer, die den Fußball in Deutschland bekannt machten, sondern auch Konrad Koch, der Thomas Arnolds Ideologie und Leben profund während seines Studiums erforscht hatte. Koch muss von Arnold begeistert gewesen sein, denn er kopierte ihn und führte als Lehrer das Fußballspiel 1874 am Martino-Katharineum in Braunschweig ein, um die Jugendlichen fit zu machen und um die Basis für eine athletische Elite zu legen. Wie in England wurde Fußball als Winterspiel in den kalten Monaten des Jahres gespielt, während im Sommer Leichtathletik im Vordergrund stand. Übrigens hat Konrad Koch nicht Assoziationsfußball spielen lassen, sondern Rugby – wie Thomas Arnold als Schulleiter der Privatschule in Rugby. Da jedoch Assoziationsfußball in Deutschland wesentlich mehr und schneller Verbreitung fand als Rugby, unterstützte er diesen ab den 1890er Jahren. Koch versuchte, in Deutschland eine Fußballbegeisterung zu entfachen, wie es in England damals gerade passierte. Aber der Funke sprang in Deutschland nicht über. Als die erste Assoziationsfußballmannschaft in Deutschland gilt der Lüneburg College Football Club, bei dem den Namen der Spieler nach auch aus Deutschland stammende Schüler spielten.

Vgl. Hock, Hans-Peter: Der Dresden Football Club und die Anfänge des Fußballs in Europa. Hildesheim 2016. S. 18-20. Wer mehr zu Konrad Koch wissen möchte, sei Malte Oberschelps 2015 erschienene Biografie über Koch sehr empfohlen.

Denn in Deutschland war das Turnen die Körperertüchtigung Nummer Eins. Anfang des 19. Jahrhunderts beliebt geworden, war das Turnen eng mit studentischen Verbindungen und dem Einheits- und Nationalgedanken verbunden. Die aus England kommenden Sportarten wie Rugby oder Assoziationsfußball, Tennis oder Cricket wurden argwöhnisch beobachtet, weil sie eben aus England stammten und nicht deutschen Ursprungs, also nicht Teil der deutschen Kultur waren. Dazu kamen die Übersetzungsschwierigkeiten des englischen Begriffs sports, der letztendlich einfach in den deutschen Sprachgebrauch übernommen wurde. Auch Fachbegriffe wie offside, hand, to center oder goal wurden zunächst übernommen.

Die Spielbewegung und der Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen

Im November 1882 erließ der preußische Kultusminister, Gustav von Goßler, den nach ihm benannten Spielerlass. Er ermunterte darin die preußischen Kommunen, Spielplätze zu bauen und Turnen (später auch Bewegungsspiele/Sport) als regelmäßigen Teil des Unterrichts zu integrieren. Gleichzeitig sollten schulfreie Spielenachmittage etabliert werden.

Neun Jahre später, am 21. Mai 1891, gründeten von Goßler und der preußische Abgeordnete Emil Freiherr von Schenckendorff den Zentralausschuss zur Förderung von Jugend- und Volksspielen (ab 1897 Zentralausschuss zur Förderung von Volks- und Jugendspielen), kurz ZA. Der ZA war dabei kein Zusammenschluss von Fußball-Liebhabern verschiedener sozialer Herkunft, sondern bestand vor allem aus Mitgliedern der Nationalliberalen Partei und dessen Alldeutschen Verbandes (gemeinsame Ziele: Stärkung des deutschen Nationalbewusstsein, Pro-Imperialismus), somit vor allem Politikern, Beamten und Armee-Angehörigen. Ihr vorrangiges Ziel war aber nicht, den Sport politisch zu vereinnahmen, sondern vielmehr eine philanthropische, erzieherische, militärische und sozialdarwinistische Mischung, eine „gesunde“ Elite an sportlichen Deutschen und damit potentiellen Soldaten heranzuziehen. Daher versuchten die engagierten Persönlichkeiten, die Gräben zwischen Turnern und Sportlern aufzufüllen und zwischen ihnen zu vermitteln. Turnen und Sport (zeitgenössisch auch Bewegungsspiele genannt) sollten parallel existieren und sich ergänzen. Um diese Absicht zu erreichen, versuchte der ZA, die einzeln wirkenden Kräfte in Deutschland zu bündeln, um so das gemeinsame Ziel schnell zu erreichen. Dazu gehörte der Zentralverein für Körperpflege in Volk und Schule, der Deutsche Bund für Sport, Spiel und Turnen, das Komitee für die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen zu Athen 1896 und später der 1911 gegründete Jungdeutschlandbund, in dessen Bundesleitung auch viele Mitglieder des ZA vertreten waren und der sich wie der ZA in der vormilitärische Ausbildung engagierte.

Wie versuchte man, die Ziele zu erreichen? Nun, durch einen intensiven Lobbyismus in Militärbehörden und Schul- und Stadtverwaltungen, Englandreisen, regelmäßige und verschiedene Zielgruppen ansprechende Veröffentlichungen und eine enorm große Werbetätigkeit. Die Geldmittel kamen aus dem preußischen Kultusministerium und anderen deutschen Landesregierungen.

Der ZA erreichte letztendlich seine Ziele der Verbreitung der Sportarten und die nationale Ausrichtung dieser.

Der Deutsche Fußballbund

In den 1890er Jahren entstanden eine Reihe von neuen Vereinen und auch erste regionale Fußballverbände, zum Beispiel in Berlin (Bund Deutscher Fußballspieler 1890, Deutscher Fußball- und Cricketbund 1891). Doch während Vereine in England gewachsene Gemeinschaften waren, gab es in Deutschland eine hohe Fluktuation in den Vereinen und daher auch einen geringen Zusammenhalt der Spieler. Die Identifikation mit einem Club war also nicht gewachsen – das kam dem ZA ungelegen. Seine Versuche, einen gesamtdeutschen Verband zu gründen, scheiterten zunächst an Unstimmigkeiten zwischen den Verbänden. Nach einigen Jahren der Vermittlung gab es Ende Januar 1900 in Leipzig einen neuen Versuch, einen deutschen Verband zu gründen. Nun stimmten 60 der 86 Vereine für die Gründung des Deutschen Fußballbundes. Die Gründungsmitglieder waren sowohl regionale Verbände (Verband südwestdeutscher Fußballvereine, beide Berliner Verbände und der Hamburg-Altonaer Fußball-Bund) als auch einzelne Vereine aus Prag, Magdeburg, Dresden, Hannover, Leipzig, Braunschweig, München, Naumburg, Breslau, Chemnitz und Mittweida – also aus dem ganzen damaligen Deutschland. Der Spielausschuss des DFB erstellte in den kommenden Jahren einheitliche Statuten und Spielregeln nach englischem Vorbild (1906 herausgegeben) und es gab einen regelmäßigen Spielbetrieb um die Deutsche Meisterschaft (ab der Saison 1902/1903) und den Kronprinzenpokal (ab der Saison 1908/1909).

Im DFB entschied man sich für die nationale und gegen die kosmopolitische Ausrichtung. Denn so erhielten sie vor den Turnern den Vorzug, um die Exerzierplätze als Spielfeld benutzen zu dürfen. Als Wehrsport wurde der Stereotyp eines Fußballers mit soldatischen Idealen aufgeladen: Kampf und Opfermut bis zur letzten Minute, Pflichttreue und Treue zur eigenen Mannschaft sowie Charakterstärke und Idealismus. An diesem Ideal hat sich bis heute wenig geändert und es ist auch der Grund, weshalb in Deutschland die Legalisierung von entlohntem Fußball noch vehementer abgelehnt und stigmatisiert wurde als in England. Vieles ist in Deutschland wie in England verlaufen, nur etwa 50 Jahre später, aber nicht in diesem Punkt: Während Fußball in England modern wurde, als er legaler Profifußball wurde und viele Menschen direkt oder indirekt durch das Fußballspiel Erwerbsmöglichkeiten fanden, wurde Fußball in Deutschland durch das Militär und das soldatische Ideal, also durch das deutsche Amateurideal, modern. Das änderte sich auch nicht, als der Profifußball etwa 50 Jahre nach der Legalisierung in England auch in Deutschland legalisiert wurde. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb in Deutschland das Begriffspaar moderner Fußball mittlerweile stark negativ konnotiert ist und die 50+1-Regelung nicht schon längst über den Haufen geworfen wurde. Es ist aber vielleicht auch der Grund dafür, dass häufig und des Geldes wegen wechselnde Spieler als Söldner(!) beschimpft werden, weil sie nicht bis zu ihrem letzten Atemzug ihrer Mannschaft treu blieben – bewusst sehr pathetisch formuliert.

Währenddessen stieg die Mitgliederzahl des DFB rapide an und versiebzehnfachte sich zwischen 1904 und 1913.

Wie schon gesagt, Goßlers Idee ging also auf, Fußball wurde Wehrsport. Schon vor 1910 spielte die Marine ihre eigene Fußballmeisterschaft aus, ab 1911 auch das Landesheer. Der DFB wurde wie der ZA Mitglied in staatlichen, militärisch geprägten Jugendorganisationen wie dem 1911 gegründeten Jungdeutschland.

Als Wehrsport musste sich Fußball nun aber endgültig von dem Vorwurf des undeutschen Sportes lösen und Sprachbarrieren  beseitigen. Daher gab es ab den 1890er Jahren immer wieder Artikel in Zeitungen, Pamphlete und auch Bücher, die die englischen Begriffe eindeutschten.

Moderner Fußball: Die Fußballbegeisterung wird Teil der deutschen Gesellschaft

Viele deutsche Soldaten lernten das Fußballspiel erst als Wehrsport während des ersten Weltkrieges kennen; liebten und lebten ihn. Die Spiele dienten hier, in dem reinen Stellungskrieg, vor allem zur psychischen Stabilisierung von Truppeneinheiten und zur Hebung deren Stimmung, fand aber auch durch seinen klassennivellierenden Charakter allgemeine Beliebtheit bei den nichtadeligen Milieus. Diese Begeisterung endete nicht mit dem Kriegsende – im Gegenteil. Manche spielten Fußball fortan in Vereinen und viele weitere wurden begeisterte Zuschauer. 1920 hatte der DFB die 500.000er Marke seiner Mitglieder geknackt. Jetzt begann der Fußball, auch in Deutschland ein Massenphänomen zu werden.

In dieser Zeit, in der Weimarer Republik, nahm Fußball eine Mittlerrolle zwischen der deutschen Bevölkerung und der Reichswehr ein. Dabei war die Grenze zwischen zivilem und Militärsport fließend. Das Wort Kampf wurde in den 1920er Jahren zu einem Schlüsselbegriff: Kampfspiele, Kampfbahn, Kampfgemeinschaft, usw. Der Fußball diente als vormilitärisches Feld, um trotz dem Verbot einer Armee, die kommende Generation an die Tugenden der Soldaten heranzuführen. Außerdem tarnten sich viele paramilitärische Vereinigungen als Sportclubs wie die Box- und Sportabteilung der NSDAP. Diese wurde aber schon verhältnismäßig früh, nämlich im November 1921, von Hitler in Sturmabteilung, SA, umbenannt.

Waren Sportarten wie Fußball nach Ende des ersten Weltkrieges ein gutes Ventil, um die psychische Belastung der Kriegsjahre zu kompensieren, bargen sie damit aber in der Zwischenkriegszeit ein deutliches Gewaltpotenzial. Viele, die das Fußballspiel während des Krieges kennengelernt hatten, spielten einen derart unfairen Fußball oder benahmen sich als Zuschauer mit Platzstürmen und Gewaltandrohungen gegen Schiedsrichter und Gegner so rüde, dass Fußball zu Beginn der 1920er Jahre nicht nur breite Beliebtheit erfuhr, sondern gleichzeitig einen sehr schlechten Ruf erlangte. Der sehr angesehene Schiedsrichter Peter Joseph „Peco“ Bauwens legte 1925 wegen des Verhaltens der Spieler und Zuschauer in der Halbzeit des Spieles 1. FC Nürnberg gegen MTK Budapest schlicht sein Amt nieder.

Zu der Problematik von Fußball in der Weimarer Republik und Bauwens vgl. Eisenberg, Christiane: „English Sports“ und deutsche Bürger. Eine Gesellschaftsgeschichte 1800-1939. Paderborn 1999. S. 306-339.

Dabei entwickelte sich der Fußball durch die zahlreichen Zuschauer zu einem veritablen Wirtschaftsgut. Diesen verlorenen Respekt versuchte der DFB abermals durch die Verknüpfung mit dem soldatischen Ehrbegriff wiederherzustellen – erfolgreich.

Die ersten Radioübertragungen

Unterstützung erfuhr der Fußball in Deutschland wie in England durch Journalismus, Getränke- und Bauindustrie, Wettbüros, Fotografie und Sportartikelhersteller. Auch Zigarren- und Zigarettenfabriken sowie Schnapsbrennereien profitierten von dem Sport, denn es war auf den Zuschauerrängen üblich, sich zwischendurch mit einem Schluck aus dem Flachmann oder einer Zigarre zu stärken. Neu und in diesem Fall ganz elementar war für Sportinteressierte das moderne Medium Radio, dessen Verkaufszahlen sich zwischen 1923 und 1926 rapide anstiegen. Es war für Sport und Medium eine Win-Win-Situation: Das Radio beflügelte das Interesse, Sport zu verfolgen und die an Sport Interessierten kauften sich Radios. Wann das erste Spiel in Deutschland übertragen wurde, ist umstritten: War es das Spiel Preußen Münster gegen Arminia Bielefeld am 1. November 1925 oder das vom Rundfunkpionier Bernhard Ernst kommentierte DFB-Endspiel zwischen der SpVgg Fürth und Hertha BSC (Ende 1925)? Wie dem auch sei, der DFB unterstützte zunächst die Rundfunkübertragungen von Fußballspielen, um 1928 stark zurückzurudern: Um nicht die Zuschauerzahlen und damit Einnahmen der Vereine zu gefährden, wurden die Übertragungsrechte nur für das DFB-Endspiel sowie drei Länderspiele vergeben. Diese deutlichen Einschränkungen führten zu heftigem Protest der Zuschauer und tatsächlich wurden ab 1932 wieder mehr Fußballspiele via Radio übertragen; vor allem solche Spiele, bei denen eine Reduzierung der Zuschauerzahl nicht zu befürchten war.

Der DFB war kein Einzelfall. U.a. auch England und Schweden ließen die Übertragungen teils verbieten (Schweden) oder diskutierten über ein generelles Verbot (England).

Moderner Fußball: Profifußball wird (zum ersten Mal) legal

Mitte der 1920er Jahre kam es in Deutschland zu den ersten ernsten Anläufen, dass Fußballspieler ein bezahlter Beruf wird. Denn durch den Dawes-Plan (1925) und seine Unterstützungen begannen viele Städte, neue Stadien zu errichten, um mit Hilfe der Fußballbegeisterung die städtischen Kassen zu füllen. Um die Hypotheken schneller zurückzuzahlen und das Stadion auszulasten, musste man attraktive Spiele bieten und daher Fußballergrößen in die Vereine der Stadt locken. Außerdem war ab 1925 die Teilnahme Deutschlands an den Olympischen Spielen wieder möglich. Der Ehrgeiz , eine besonders schlagkräftige Mannschaft nominieren zu können, war deshalb groß. Unter der Hand gezahlte Zuwendungen waren längst die Regel.

Der DFB blieb bei seinem soldatischen Ideal des Fußballers, den der ehrenvolle Verdienst leitete, nicht der finanzielle . Bei Zuwiderhandlung drohte die Disqualifikation aus Meisterschaft und Pokalwettbewerb. Dabei war der Wunsch vieler Vereine, wettbewerbsfähig zu anderen Ländern zu sein. Bereits 1925 hatte der DFB eine Satzungsänderung verabschiedet, die es deutschen Vereinen stark erschwerte, gegen ausländische Profimannschaften zu spielen. (Der Boykott wurde erst 1930 auf Druck der FIFA aufgehoben.)

Durch die finanziellen Verluste der Weltwirtschaftskrise, die insbesondere die untere Mittelschicht (Angestellte, Facharbeiter) traf, gab es ab 1929 erneut deutliche Bemühungen, den Berufsfußball einzuführen. Bezahlungen der Fußballer unter der Hand waren mittlerweile die Regel, aber der DFB blieb weiterhin bei seinen Prinzipien. Mehr noch, im August 1930 sperrte er 14 Schalker Spieler und zudem mehrere Schalker Funktionäre und verhängte eine empfindlich hohe Geldstrafe von 1000 Reichsmark gegen den Verein. Der Grund: Schalker Spitzenspieler waren Arbeiter in der Schachtanlage Consolidation, wurden aber nur mit leichteren Aufgaben betraut und mussten also nicht unter Tage arbeiten, erhielten dafür aber deutlich mehr Lohn als ihre Kollegen. Die Bestrafung als abschreckendes Exempel für alle anderen Vereine ging für den DFB komplett nach hinten los: Viele weitere erfolgreiche Vereine bedrängten den Verband, die Strafen zurückzuziehen und drohten andernfalls mit dem Austritt. Der Westdeutsche Fußballverband forderte die Trennung in Amateurfußball und Berufsfußball. Noch lehnte der DFB ab, aber als es noch 1930 zur Gründung des Deutschen Professionalverbandes innerhalb des Westdeutschen Fußballverbandes und zu einer Reichsliga (gegründet von Sportjournalisten) kam, lenkte er ein. Schalke wurden die drakonischen Strafen erlassen. Aber der Profifußball wurde noch nicht legalisiert. Das Drängen der Vereine blieb und zwei Jahre später fürchtete der DFB die Spaltung des Fußballs wohl so sehr, dass er wie ca. 50 Jahre zuvor Alcock in England den Fußballsport legalisiert, um ihn dann besser kontrollieren zu können. Doch zu der für 1933 geplanten Reichsliga kam es nicht. Daran hatten nicht direkt die Nationalsozialisten Schuld; ihnen wären professionelle Sportler vielleicht sogar entgegengekommen. Nein, Felix Linnemann, seit 1925 Vorsitzender des DFB wurde 1933 mit der Leitung des Fachamts Fußball im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen betraut und machte direkt die in seinen Augen erzwungene Legalisierung des Profifußballs rückgängig.

Moderner Fußball: Profifußball wird (wieder) legal

1950, noch vor der Neugründung des DFB, beschloss die Delegiertenversammlung der Landesverbände, ein Vertragsspielerstatut zur Legalisierung des bezahlten Fußballs. Ein Spieler, der noch einem weiteren Beruf nachging, durfte dennoch nicht mehr als 320 DM monatlich erhalten, d.h. nicht mehr als den Lohn eines Facharbeiters. Aus dem Jahresgehalt errechnete sich die Ablösesumme. Zur der gehörte auch immer ein Gastspiel des neuen Vereines.

1954 wurde Deutschland überraschend Weltmeister. In den Folgejahren nahm die Bedeutung der Nationalmannschaft wegen fehlender Erfolge jedoch spürbar ab. Viele Spieler wechselten zu Vereinen ins Ausland, wo der Profifußball längst etabliert war und sie höhere Gehälter erhielten. Beispielsweise nach Italien, wo Helmut Haller (1962-1968 FC Bologna, 1968-1973 Juventus Turin), Karl-Heinz Schnellinger (1963-1964 AC Mantua, 1964-1965 AS Rom, 1965-1976 AC Mailand) oder auch Horst Szymaniak (1961-1963 CC Catania, 1963-1964 Inter Mailand, 1964-1965 FC Varese) spielten. Um dem Trend entgegenzuwirken, beschloss der DFB auf seinem Bundestag 1962 die Einführung einer Berufsspielerliga, der Bundesliga. Neben Amateurspielern und Vertragsspielern gab es nun auch Lizenzspieler, die ein dreimal so hohes Gehalt wie Vertragsspieler erhalten und einen Teil der Transfersumme kassieren konnte. Aber die Bestimmungen waren in den 1960er Jahren noch recht restriktiv, weshalb in der ersten Bundesligasaison nur 34 Spieler Fußball als Vollzeitberuf ausgeübt haben sollen. Sie brauchten einen guten Leumund, durften aber ihren Namen nicht für Werbezwecke zur Verfügung stellen und so weiteren Lohn erhalten und die Gesamtbezüge aus Lohn, Handgeld, Prämien und Ablösesummen durften nicht 1200 DM monatlich übersteigen.

Für den DFB lohnte sich die Einführung der Bundesliga: Die Nationalmannschaft hatte wieder Erfolg und da in den 1960er Jahren schon viele Haushalte über einen Fernseher verfügten, konnte sich der DFB durch Fernsehübertragungsgebühren, Werbeeinnahmen und Sponsorengelder finanzieren.

Für die Vertrags- und auch Lizenzspieler war das Fußballspiel innerhalb der vom DFB gesetzten Grenzen nicht rentabel und so verwundert es nicht, dass es in der Saison 1970/71 zu einem so großen Bestechungsskandal kam und der DFB abermals zum Umdenken gezwungen wurde. 1972 wurde der Markt geöffnet – seitdem steigen die Einkommen der Fußballprofis kontinuierlich. Die Liberalisierung der elektronischen Medien und das Bosmanurteil vom Dezember 1995 haben diesen Effekt noch einmal deutlich verstärkt.

Fazit: Moderner Fußball durch Eventisierung und Taktik

Doch wann hielt der moderne Fußball nun tatsächlich Einzug in Deutschland? Je nach Betrachtungsweise gibt es dafür drei Möglichkeiten:

  1. Macht man den modernen Fußball an der allgemeinen, nationalen Begeisterung fest, so war es der erste Weltkrieg.
  2. Verbindet man den modernen Fußball mit Profifußball und seinen Folgen, so waren es die 1960er und 1970er Jahren, da die erste Legalisierung 1932 nur wenige Monate Bestand hatte.
  3. Nimmt man den Begriff “moderner Fußball” dagegen als Ausgangspunkt, liegt der Beginn in den 1980er Jahren. Bis 1976 existierte dieser Begriff in der deutschsprachigen Literatur noch gar nicht. Seitdem gab es ein kurzes kleineres Maximum von 1987 bis 1988, das ab 2002 wieder erreicht wurde und mindestens bis 2008 übertroffen wurde.

Lag die erste Häufung des Begriffs Ende der 1980er Jahre an dem Wechsel von Trainer Arrigo Sacchi zum AC Milan und seiner dort etablierten Spielidee? Wurde dieses Ereignis in der deutschsprachigen Literatur tatsächlich so gewürdigt? Oder hat es eine andere Ursache? Darauf habe ich leider keine Antwort.

 

Vom Gentlemen- zum Arbeitersport: England und der moderne Fußball

„Moderner Fußball“ ist ein Schlagwort. Ein Schlagwort, das in Zeiten von wankendem 50+1, zunehmender Kommerzialisierung, zerstückelter Spieltage etc. vorwiegend negativ konnotiert ist. Aber war der Fußball vorher alt? Antik? Natürlich mitnichten. Etymologisch betrachtet, bedeutet modern nichts anderes als „modisch/nach heutiger Mode“. Synonyme sind Adjektive wie aktuell, neu(artig), zeitgemäß und meinen damit auch fortschrittlich und etwas, das gerade eben („modo“) beliebt geworden ist. Ähnlich definiert es auch der Duden. So gesehen geht es bei der Frage nach modernem Fußball um die Phase, in der Fußball bei der Masse der Bevölkerung und nicht nur ein paar Nerds beliebt und in der die ursprüngliche Form weiterentwickelt wurde.
Es soll hier nur um den Beginn des modernen Fußballs in England und Deutschland (genauer gesagt: im deutschen Kaiserreich) gehen und um die Frage, was oder wer verursachte, dass er modernisiert wurde. Der Beitrag ist ein in Fließtext gebrachtes Brainstorming, das ausdrücklich zum Kommentieren anregen soll. Allerdings geht es hier wirklich nur um die Anfänge des Fußballs, d.h. um etwa die Phase 1820-1900 in England und 1870-1930 in Deutschland.

Dieser erste von zwei Teilen befasst sich mit dem Beginn des modernen Fußballs in England.

Dieser Beitrag erschien erstmals 2019 auf 120minuten.net

Eigentlich. An der Uni habe ich gelernt, dass man möglichst nicht das Wort eigentlich benutzt, weil es eine Aussage so stark abmildert, dass diese ihren Sinn verliert. Aber wir sind hier ja nicht an der Uni. Also, eigentlich war Fußball in England ja schon vor 1820 beliebt. Football, das Fortbewegen eines runden Gegenstandes mit den Füßen, wurde zwischen nahegelegenen Siedlungen gespielt. Allerdings erinnern die Beschreibungen an ein sehr kampfbetontes Rugbyspiel, denn das Transportieren der Kugel mit den Händen war ebenso erlaubt wie gewaltfrohes Einsteigen als Tackling. Sei es mit Füßen und Händen oder mit anderen Mitteln wie Stöcken. Spielen durfte jeder; eine Einteilung in Spieler und Zuschauer gab es nicht. Zwar gab es einzelne Regeln, die jedoch nicht so regulierend in das Spiel eingriffen wie in die heutigen Varianten des Fußballspiels. Darüber hinaus gab es schon während der Frühneuzeit Bemühungen, die Fußballspiele zu regulieren und damit zu kontrollieren (Richard Mulcaster, 1561: Man brauche einen „training master“ und eine Person, die „jugde over the parties and hath authroritie to commaunce“ ), aber sie waren erfolglos.

Nimmt man diese Formen des Fußballspiels als alte, archaische Varianten an, so muss man die regulierten Fußballspiele an englischen Privatschulen zwangsläufig als den modernen Fußball bezeichnen, und zwar als Fußballspiele, die bestimmten Regeln unterworfen waren mit dem Ziel, die aus der Oberschicht (hierunter zähle ich „aristocracy“ und „gentry“) und gutverdienenden Mittelschicht stammenden Privatschüler zu Gentlemen zu machen.

Doch sie waren nur die Basis für das Entstehen eines Massenphänomens, das von Gentlemen in Gang gesetzt wurde. Als vermehrt Arbeiter Fußballspieler wurden, wandten sich die bisherigen Fußballliebhaber entweder vom Fußballsport ab oder unterstützten ihn als wirtschaftliche Gönner. Da die Arbeiter den Sport nicht als reine Muße ausübten, sondern ihn gerne als Nebenverdienst nutzten (dazu später mehr), wurde die Bemühung um einen entlohnten Fußballsport immer größer, denn die Bezahlung der Arbeiter, Bergarbeiter wie Fabrikarbeiter war so gering, dass die Familien mindestens am Existenzminimum, wenn nicht darunter leben mussten.
Ein weiterer Aspekt des modernen Fußballs in England entstand durch die Veränderung der Abseitsregel; der Möglichkeit nämlich, zu kombinieren und mit taktischen Finessen den Gegner auszuspielen. Das war vorher im von „long ball“ und „dribbling game“ geprägten Fußballspiel im 1-2-7-System mit sehr restriktiver Abseitsregel nicht möglich.

Fußballregelwerke und Fußballverbände schaffen die Basis

Thomas Arnold ist in aller Munde, wenn es um die Anfänge der Fußballregeln in England geht, aber das erste Fußballspiel an einer englischen Privatschule wurde 1815 in Eton gespielt, in Thomas Arnolds Schule in Rugby ab 1823. Etwa zur gleichen Zeit wie in Rugby wurde das Spiel an der Aldenham School (Elstree) eingeführt (spätestens 1825) und in den 1830er Jahren im Londoner Stadtteil Harrow sowie in Winchester und in Shrewsbury. Die Idee von Thomas Arnold war nicht so einmalig, wie sie mitunter dargestellt wird. Waren die verschiedenen Fußballregeln teils sehr unterschiedlich (Handspiel, Anzahl der Spieler, Kampfbetontheit, Größe des Spielfeldes, Aussehen des Tores, etc.), hatten die frühen (Schüler-)Fußballmannschaften doch Gemeinsamkeiten: Die Schüler sollten auf diese Weise spielerisch Gentleman-Ideale lernen: Ehrlichkeit, Selbstdisziplin, Verantwortungsbewusstsein, Selbstorganisation; kurz gesagt: Fairplay. So hatten die Teams keinen Trainer oder Manager – die Mannschaft organisierte sich selbst, Lehrer reagierten nur auf Anrufung der Schüler.

Leider sind die Regeln aus diesen Jahren sind nicht überliefert. Die älteste, überlieferte Regel ist das Regelwerk der Universität von Cambridge von 1856, die acht Jahre nach dem ursprünglichen Regelwerk erstellt wurde. Denn an der Cambridger Universität trafen sich fußballliebende, ehemalige Privatschüler, die aus den ihnen bekannten Regelwerken ein neues generierten, die Cambridge Rules. In anderen englischen Universitäten wird ähnliches passiert sein, überliefert ist das aber nicht. Was man weiß, ist, dass zeitgleich innerhalb der Städte Sportclubs der Oberschichten entstanden, die neben Reitsport und Jagd auch an den Fußballformen (Assoziations-)Fußball und Rugby sowie Cricket Freude fanden.

Jeder Club hatte wiederum seine eigenen Regeln. Damit sich die Clubs vor Spielen gegen andere Clubs der Stadt nicht immer einigen mussten, welche Regeln befolgt wurden und welche verboten waren, entstanden Verbände (football associations) in den einzelnen Städten, so 1858 zunächst in Sheffield und 1863 in London. Diese Verbände gingen in den folgenden Jahren ineinander auf, sodass 1877 nur noch die Sheffield FA und London FA verblieben und sich in diesem Jahr zu einer nationalen FA vereinten. Dabei wurde das Regelwerk der London FA übernommen. Zwar wurden in anderen Regionen Englands noch weitere Verbände gegründet – 1875 in Birmingham, 1878 in Lancashire, 1882 in Norfolk, Oxfordshire, Essex und Sussex, 1883 in Berkshire, Buckingham, Walsall, Kent, Nottinghamshire, Middlesex, Liverpool, Cheshire, Staffordshire, Derbyshire und Scarborough -, aber diese traten kurz Zeit nach ihrer Gründung der 1877 geeinten FA bei. Bereits 1871 hatte sich die Rugby Union gegründet. Damit war die Trennung in rugger und soccer (a_socc_iation) endgültig.

Aber nicht nur die einzelnen Stadtverbände, später dann die nationale FA, sorgten für die zunehmende Begeisterung für den Fußballsport und den Zusammenhalt der Clubs, sondern auch der FA-Cup, der ab der Saison 1871/72 durch die London FA ausgetragen wurde. In der ersten Saison nahmen 13 Clubs aus diesem Verband teil, nämlich acht Clubs aus London und fünf aus der Umgebung. Außerdem wurde der Glasgower Club Queen’s Park eingeladen. Die Idee für diesen Wettbewerb hatte Charles William Alcock, der Verbandssekretär der London FA und Mittelstürmer der Wanderers FC, früher Schüler an der Privatschule in Harrow. Den Harrower Wettbewerb mit K.o.-System übernahm er für den FA Cup, dessen ersten Wettbewerb er mit seiner Mannschaft (vorwiegend ehemalige Schüler aus Harrow) auch gewann. Alcocks Ziel mit der Einführung dieses Pokalwettbewerbs war, inoffiziell gezahlte Spielergehälter zu unterbinden, indem für den Sieger ein hoch dotierter Pokal in Aussicht gestellt wurde. Alcock dachte – als Gentleman -, dass der Anreiz des Pokalgewinns das Ehrgefühl der Spieler anspricht und diese sich deswegen fair, also unter gleichen, unbezahlten Umständen, messen würden. Doch dieser Versuch scheiterte nicht nur, er wandte sich in das Gegenteil um, da der Reiz des Wettbewerbs die Ideale des Amateurfußballs umging. Die Teilnahme am (London) FA Cup wurde in den kommenden Jahren beliebter, die Rivalität nahm zu, genau wie der Ehrgeiz, die Spannung und der Wetteifer und damit die Anwerbung von sehr guten Fußballspielern, um den Lokalrivalen im kommenden Spiel besiegen zu können. Außerdem lockten die Spiele durchgehend eine drei- bis vierstellige Anzahl an Zuschauern an, so auch viele Arbeiter, die auf diesem Wege leicht mit unbekannten, gleichgesinnten Menschen in Kontakt kamen – und die Kassen der Clubbesitzer füllten.

Der entlohnte Fußball in England

1850 wurde eine Erweiterung der Factory Acts, der Compromise Act, verabschiedet, der unter anderem den Feierabend um 14 Uhr an Samstagen einführte. So hatten auch Fabrikarbeiter/innen Freizeit. Fußball war eine Sportart, die verhältnismäßig wenig Geld kostete und manche Fabrikinhaber unterstützten die sportliche Freizeitgestaltung ihrer Arbeiter (fußballspielende Spielerinnen sind mir aus dieser Zeit nicht bekannt), stellten die Ausrüstung und bezahlten auch manchmal die Reisen zu Auswärtsspielen. Eine Win-Win-Situation, denn so waren die Inhaber sicher, dass ihre Arbeiter ihre Freizeit nicht bei übermäßigem Alkoholgenuss faulenzend verbrachten und die fußballbegeisterten Arbeiter hatten eine Alternative – auch für Bergarbeiter und ihre physisch und psychisch anstrengende Arbeit unter Tage. Es gab auch viele damalige Werksvereine, von denen manche heute noch existieren, beispielsweise die Munitionsfabrik Dial Square (Arsenal FC), die Thames Iron Works (West Ham) oder die Newton Heath LYR Company (Manchester United).

Auch Pubbesitzer trugen zur Kommerzialisierung des Fußballs bei. Sie nutzten das Interesse ihrer Besucher an Wettspielen und den Ergebnissen des lokalen Clubs. Daher boten sie einen Resultatservice für diejenigen an, die die jeweiligen Spiele nicht besuchen konnten. Via Telegrafen wurden die Ergebnisse durchgegeben und per Zettel an die Wand geheftet. Das Veröffentlichen der Ergebnisse weckte auch die Neugier von bisher nicht an Fußball interessierten Pubbesuchern und steigerte so nochmals das Interesse an der Sportart.

Anders als den Menschen aus der Oberschicht diente Fußball den Arbeitern nicht als gesunder Lebensstil und um Fairplay zu lernen, denn aus ihnen konnten keine Gentlemen werden. Er diente ihnen zur Geselligkeit und als Herausforderung. So veränderte sich die soziale Basis des Fußballsports – von den aus Ober- und Mittelschichten stammenden ehemaligen Privatschülern hin zu Arbeitern, von einem reinen Spiel hin zu einer entlohnten Tätigkeit. Abgesehen vom gesunden Lebensstil wollten viele ihren Einsatz während ihrer schon spärlichen Freizeit nämlich entlohnt haben. Und Clubbesitzer, häufig mit Blick auf das Steigern des eigenen Ansehens, entgolten gute Fußballspieler auch. Das steigerte bei vielen Aktiven die Ambitionen. Dieser wurde zusätzlich durch die Aussicht geschürt, dass man im Fall des Sieges zum lokalen Helden avancierte – eine soziale Anerkennung, die den Arbeitern sonst nicht zuteil werden konnte. Die sprichwörtliche englische Härte war Spiegelbild der sozialen Herkunft der Fußballspieler aus der Arbeiterschicht.

Zwar war eine finanzielle Entlohnung der Fußballer offiziell verboten, aber Clubs umgingen diese Regelung und boten entweder eine Bezahlung in Naturalien und Mobilien an oder eine anspruchslose Tätigkeit bei gleichem Lohn in der Fabrik oder zahlten auch Lohn pro Spiel. Bereits seit den 1850er Jahren gibt es in England den Begriff professional, also kurz nach dem Compromise Act. Den Begriff „amateur“ gibt es in England aber erst seit den 1880er Jahren; er wurde von Gentlemen benutzt, um sich von dem bezahlten Fußballsport, dem von ihnen so genannt „shamateurism“, abzuheben. Bei manchen Gentlemen existierte eine regelrechte Endzeitstimmung durch die “americanisation”, die angeblich zu Verdummung und Verrohung der Großstadtmenschen führte. Oder man stigmatisierte den bezahlten Fußball als Krebs, der den Sport von innen zerstöre. Die Gentlemen in den FAs versuchten, die unter der Hand erfolgten Entlohnungen durch Disqualifikationen und Sperren der Spieler und Clubs zu stigmatisieren. Aber alles Moralisieren hielt nicht den Lauf der Dinge auf.

Die Grenze zwischen Pro-Profifußball und Pro-Amateurfußball war keine Grenze zwischen dem Süden (Amateure) und dem Norden (Profis), wie es bei Lowerson und Koller zu lesen ist. Es war auch keine Grenze zwischen den Reicheren (Ober- und Mittelschichten) und der Arbeiterschicht. Die Trennung ging durch die Mittelschicht und damit auch durch Vereinsgremien und Fußballspieler; nämlich zwischen jenen aus der Mittelschicht, die sich den Gentleman-Idealen verpflichteten, und denen, die in die Einnahmequellen des entstehenden Massensportes investierten, zum Beispiel als Buchmacher, Bau- und Transportunternehmer, Getränkehersteller oder Manager der Sportartikelindustrie. Tendenziell stimmt aber die Trennung in Nord und Süd schon, wenn auch nicht so rigide. Denn in dem im Nordosten Englands liegenden Lancashire war das mehr oder minder verdeckte Zahlen von Löhnen weit verbreitet. Dabei waren es nicht nur englische Arbeiter, die für ihr Fußballspiel entlohnt wurden, sondern vor allem schottische Fußballspieler, die bewusst ihre Heimat verließen, um in England bezahlte Fußballer zu werden, wissentlich, dass in England der Profifußball verboten war (in Schottland wurde der Profifußball später als in England erlaubt). Sie fanden aber auch schnell Anstellung, da ihre spielerische Finesse bekannt war. So kam es, dass immer mehr schottische Fußballspieler zufällig (wer’s glaubt…) in England bleiben mussten, weil sie den Zug nach Hause verpasst hatten… Charles Edward Sutcliffe, J. A. Brierley und F. Howarth, die zum 50jährigen Jubiläum der Football League mit “The Story of the Football League 1888-1938” einen Rückblick veröffentlichten, fassten diese Phase in ihrer Einleitung wie folgt zusammen:

„The first real development follows the appearance in Lancashire – often under mysterious circumstances – of Scottish players who had strayed over the Border or been surreptitiously spirited across, and by others who had conveniently ‚missed the train back‘ home after coming down with Scottish clubs to visit English clubs. The precise reasons which gave rise to this invasion do not matter a great deal to-day. What it is important to remember is that these were the days of amateurism, and that the influx of so many Scotsmen under suspicious circumstances led to a crisis which had far-reaching consequences.“

Diese weitreichende Konsequenz hieß Football League. Denn nachdem Preston North End 1884 aus dem FA Cup ausgeschlossen wurde, weil ihre Entlohnung und Anwerbung von Spielern öffentlich wurde, protestierten 40 Clubs wie Lancashire, Aston Villa, Walsall Swifts und Sunderland und kündigten an, aus der mittlerweile nationalen FA auszutreten und eine British Football Association zu gründen, in der das professionelle Fußballspiel erlaubt war.

Zuvor erkannte Verbandssekretär Alcock, dass die Entwicklung zum Profifußball nicht mehr aufzuhalten war und versuchte, ihn durch Legalisierung zu kontrollieren. Im Juli 1885 wurde der professionelle Fußball erlaubt, wenn auch zunächst mit einer Gehaltsobergrenze und weiteren Bedingungen: Die Spieler mussten bei der FA registriert sein, in einem Radius von sechs Meilen von Spielort entweder geboren worden sein oder dort seit mindestens zwei Jahre leben und durften während einer Saison nicht bei mehr als einem Verein spielen – außer durch eine Sondergenehmigung der FA. Ihren Meinungswandel begründete die FA, in dem sie die Fußerballerlöhne als irrelevante Vergütung (“irrelevant consideration”) bezeichnete, d.h. Fußballwettspiele quasi aus der Realität ausklammerten. Wettspiele seien Teil einer durch die Regeln der Unerheblichkeit (“rules of irrelevance”) abgeschirmten Spielsphäre und daher könnte Amateurfußball neben Profifußball existieren. Viele Gentlemen aber wandten sich mit der Legalisierung des Profifußballs von dieser Sportart ab.

1888 folgte dann die Gründung der englischen Profiliga, der Football League (FL), die zunächst aus vorwiegend nordenglischen Clubs bestand. Die FL war von Beginn an eine Erfolgsgeschichte. Die erste Saison mit 22 Spielen besuchten insgesamt rund 602.000 Zuschauer (ca. 2488 Zuschauer pro Spiel), zehn Jahre später waren es schon über fünf Millionen (ca. 8651 Zuschauer pro Spiel). 1892 wurde die Second Division der FL gegründet, in der sich Clubs messen konnten, die nicht so erfolgreich wie die FL-Clubs waren. Das gesteigerte Interesse am Fußball lag auch an der Routine, die mit den Ligaspielen einherging, denn sie steigerte Qualität – und auch die Ausgaben für immer bessere Spieler. Zum Beispiel erwarb Middlesborough Ironopolis 1893 innerhalb von drei Tagen eine völlig neue Mannschaft, um den verhassten Konkurrenten aus Huddersfield und Preston endlich ebenbürtig zu sein. Alcocks Ziel, die Kontrolle des Profifußballs, war gescheitert.

Nicht wenige Proficlubs gingen an die Börse. Die meisten hatten nicht das Ziel, reich zu werden, sondern versuchten, mit dieser Methode den Bankrott ihres Vereines zu verhindern – nicht immer erfolgreich. Im Fall von Newton Heath LYR FC, Mitglied der Second Division der FL, die wegen 2670 Pfund (heute gut 308.000 Euro) ) Schulden Insolvenz anmelden mussten, ging es glimpflich aus. Lokale Unternehmer investierten insgesamt 2000 Pfund in den neuen Club Manchester United FC, der schnell wieder in die First Division der FL aufstieg und zu einem deren führenden Clubs wurde.

1890 setzte die FA ein Gehaltsmaximum von zehn Pfund pro Monat fest (entspricht etwa 500 heutigen Pfund), aber schon drei Jahre später wurden Starspieler in der Regel mit 50 bis 75 Pfund/Monat bezahlt. Diese waren aber in der starken Minderheit, denn das durchschnittliche Gehalt von Profifußballern belief sich in diesem Jahr auf drei Pfund/Monat im Winter (d.h. während der FL-Saison) und zwei Pfund/Monat im Sommer (außerhalb der FL-Saison). Dazu kamen Siegerboni von maximal zwei Pfund je gewonnenem Spiel. Die Gehälter waren in der Regel nicht verhandelbar und orientierten sich am Erfolg des Spielers. Nur Starspieler hatten Mitspracherecht.
Paul Brown gibt an, dass der durchschnittliche Fußballspieler bis 1890 das Vierfache eines allgemeinen Arbeiters (nicht Facharbeiter) verdiente, Ende des 1890er Jahre bereits das Zehnfache. 1900 setzte die FA gegen Protest ein Gehaltsmaximum von vier Pfund/Monat fest, das bis 1961 gültig blieb, aber schon vom ersten Jahr an durch großzügiges Schwarzgeldzahlungen und Geschenke umgangen wurde.

Ab 1893 bedurfte es für den Wechsel zu einer anderen Mannschaft der Einwilligung des aktuellen Clubs. Auf der anderen Seite konnte jeder Verein jedes Jahr seine Spieler auf die im Sommer vom League Management Committee veröffentliche Transferliste setzen, denn es gab in der Regel nur Jahresverträge. Die Spieler hatten beim Wechsel keinerlei Protestmöglichkeit, weshalb schon zeitgenössische Berichte die Praxis mit einem Viehmarkt verglichen. Auch die FA kritisierte das System deutlich als unfair, aber nicht wegen der Bevormundung der Clubs, sondern weil sich eingebürgert hatte, dass kleinere Clubs junge Spieler entdeckten und sie dann an vermögendere Vereine für möglichst viel Geld verkauften. Was heute als wirtschaftlich kluge Transferpolitik bezeichnet wird, war für die FA damals offenbar Wettbewerbsverzerrung.
Das Transfersystem veranlasste einige führende FL-Spieler zur Gründung der Association Footballs‘ Union (AFU), einer Fußballergewerkschaft, die jedoch keinen Einfluss nehmen konnte und sehr schnell nicht mehr existierte. 1907 konstituierte sich dann in Manchester die bis heute existierende Professional Footballer’s Association (PFA), die vor allem aus Spielern von Manchester United bestand und die die Beseitigung von Gehaltsobergrenzen und die freie Wahl des Arbeitsplatzes forderte.

Der teuerste Wechsel im englischen Profifußball vor dem ersten Weltkrieg waren übrigens die Transfers von Alf Common 1905 von Sunderland zu Middlesbrough für 1000 Pfund, die nach Paul Brown etwa 110.000 heutige Pfund entsprechen.

Unterstützende Gründe für den Aufstieg des Fußballs zum Massenphänomen

Was unterstützte die steigende Beliebtheit von Fußball in England sonst noch? Die meisten von ihnen wurden schon genannt. Zum einen die Pubs, aber es war auch das Eisenbahnnetz, der Journalismus und die Fotografie. Letztere ermöglichte, all denen einen Eindruck vom Spiel zu vermitteln, die es nicht besuchen konnten und diente außerdem dazu, Berichte in den allgemeinen und speziellen Sportzeitungen zu illustrieren. Sportzeitungen entstanden als Weiterentwicklung des Resultatservice in Pubs. Die Journalisten unterstützten dabei häufig das Amateurideal, um die Berufsethik aufzuwerten. Die Presse wurde in den oberen Schichten mit Indiskretion und Korruption in Verbindung gebracht. Die (Sport-)Journalisten versuchten so, sich öffentlichkeitswirksam als Gentlemen zu präsentieren, wenngleich sie nie den sozialen Status eines solchen erlangen konnten. Und die Eisenbahn erweiterte den Einzugsbereich für die Zuschauer von Sportveranstaltungen und verhalf so auch zu einer Steigerung des Zuschaueraufkommens. Bereits vor der Legalisierung des Profifußballs waren Sonderzüge zu Spielen außerhalb der eigenen Stadt üblich. Mit der Legalisierung des Profifußballs wurden sie dringend erforderlich. Auch das Straßenbahnnetz innerhalb der Städte wurde verbessert, um die Erreichbarkeit der Stadien für die Zuschauerströme zu erleichtern und zu beschleunigen.

Die Wiege der Taktik – Das Kombinationsspiel

Bis in die 1870er Jahre war die übliche Spielweise ein Mix aus „long ball“ und „dribbling game“, also aus dem ziellosen, weiten Vollspannstoß nach vorne (in Kontinentaleuropa „Kick and Rush“ genannt) und dem individuellen Spiel unter Mitführen des Balles. Das frühe Fußballspiel war also ein schnelles Spiel, bei dem das individuelle spielerische Können ausschlaggebend war – und es zu vielen Kontern kam, wenn der Schuss nach vorne oder das Dribbling von den Gegenspielern unterbunden wurden.
‚Ein schnelles Spiel durch die long-ball-Variante?‘, mag sich mancher von euch fragen. ‚In der Zeit ist doch auch ein schnelles Kurzpassspiel möglich und meistens auch erfolgreicher als der weite Ball nach vorne.‘ Und genau da ist auch der Knackpunkt: Nur wenige Mannschaften spielten ein Kurzpassspiel und wurden dafür bewundert, die „science of the football“ zu beherrschen.

Im Rugbyfußball war „scientific football“ schon seit den 1850er Jahren ein Buzzword; im Assoziationsfußball dauerte es ein gutes Jahrzehnt länger. Dass das „combination game“ im Assoziationsfußball Ende der 1860er Jahre aufkam, war kein Zufall, da 1866 (London FA) bzw. 1858 (Sheffield FA) die Abseitsregelung gelockert wurde. War vorher jeder im Abseits, der zwischen Ball und gegnerischem Tor stand, wurde nun die 3-Mann-Regel (London) bzw. 2-Mann-Regel (Sheffield) eingeführt. Nun brauchte man nicht mehr den Ball nur nach vorne zu treiben, sondern konnte eine Position auf dem Spielfeld einnehmen.

Der Begriff „combination game“ wurde erstmal von dem hier schon häufig genannten Charles William Alcock 1874 benutzt: „Nothing succeeds better that what I may call a ‚combination game‘“, äußerte er beim Anblick eines Spiel der Fußballmannschaft der Royal Engineers. Viele Sportberichte übernahmen aber zunächst nicht diesen Begriff, sondern versuchten, mit eigenen Worten die Spielweise der Royal Engineers, Shropshire Wanderer, Cambridge University AFC, Derby School, von Nottingham Forest, des Trent Colleges, von Queen’s Park und Mannschaften aus der Sheffield FA zu erklären. Dabei glich sich das combination game der verschiedenen Mannschaften nicht ganz. Der Sheffield style wurde als „passing on“ (direkte Weitergabe des Fußballs) bezeichnet, der Spielstil der Royal Engineers als „backing“ (Angriffsspiel mit Absicherung gegen Konter) und der Queen’s Park-Style als „Scottish style“ bzw. „Scotch style“. Aber alle Spielstile hatten das neuartige Passspiel zwischen mehreren Spielern gemein – Kurzpassspiel statt long ball und individuelles Ballmitführen.

In der zeitgenössischen Spielberichterstattung umschrieb man diese Spielweise in Sheffield und die der Royal Engineers als schnelle („quick piece of play“,„scientific movements“, „scientific play“) und kluge („attracted especial[!] attention by their clever play“, “tactical passing”) Spielweise mit akkuratem Zuspiel („remarkeably neat“, “turned the ball”) und Zusammenspiel (“these three play in concert”, „played beautiful together”, “worked well together”), mit Absicherung (“backed up each other”, “has learned the secrets of football success – backing up”) und wenigen Dribblings (“very little dribbling was displayed”).

Die Spielstile dieser Mannschaften waren aber noch wesentlich statischer als das heutige Kombinationsspiel, denn es beinhaltete kein systematisches, einer bestimmten Taktik folgendes Spiel. Auch blieb das Spielsystem beim 1-2-7.

Das Kombinationsspiel entwickelte zunächst Queen’s Park noch in den 1870er Jahren und ein paar Jahre später entwickelte Cambridge University AFC die schottische Spielart zum heute üblichen Kombinationsspiel weiter, in dem jeder Spieler einem Bereich auf dem Spielfeld zugeteilt ist und nach vorgegebenen Schemata mit seinen Mitspielern spielt. So entwickelten sich auch neue Spielsysteme. Queen’s Park spielte in einem 2-2-6- oder 2-2-3-3-System, Cambridge im 2-3-5-System.

Der Scottish style wurde als “most creditable” und immer wieder als “fine style” bezeichnet. Ihn kennzeichnete ein gutes Zusammenspiel (“worked well together”, “worked […] well together through knowing each other’s play”, “played excellently well together”, “working beautifully to each other’s feet”, “adepts in passing the ball”, “development of scientific passing and cohesion between halfbacks and the forwards as a counter to the traditional dribbling and individuality”) und die Fähigkeit, ein Fußballspiel aufzubauen und zu machen (“drove their opponents before them”, “profound influence in fashioning the technique of the game”). Das Cambridger Spielsystem wurde 1891 so beschrieben: “[It] illustrate[s] the full possibilities of a systematic combination giving full scope to the defense as well as the attack”.

Das kombinationsreichere Spiel von Queen’s Park wurde durch die im Vereinsregelwerk („Rules of the field“, 1867) festgeschriebene 2-Mann-Abseitsregel ermöglicht, die zudem nur 15 yards (= 13,716 Meter) vor dem gegnerischen Tor galt. Außerdem trainierte Queen’s Park das Zuspiel in Gruppen auf Kleinfeldern. Das war völlig neu – wenn es überhaupt Training gab, dann war es reines Ausdauertraining. Der Queen’s Park-Style wurde durch Spiele der Mannschaften gegen andere schottische Vereine bekannt und von diesen imitiert. So wurde aus dem Queen’s Park-Style der „Scottish style“. Beim ersten Aufeinandertreffen der englischen Fußballerauswahl auf die der Schotten im Jahr 1872 konnte das englische Team trotz seiner schnellen und dribblingstarken Spieler dem verzahnten Spiel der Schotten nur wenig entgegensetzen. Spielerisch stand dem damals üblichen 1-2-7 der Engländer die schottische Auswahl im 2-2-6-System gegenüber, was das schottische Spiel zusätzlich agiler machte.

England konnte zwischen 1872 und 1885 nur drei der alljährlichen Spiele zwischen England und Schottland gewinnen. Als England 1882 5:1 gegen den nördlichen Nachbarn verlor, änderte sich auch in England endgültig die Spielart von Fußball. Im Norden Englands hatte sich der „Scottish style“ bereits einen Namen gemacht. Wie schon im Abschnitt zur beginnenden Professionalisierung beschrieben, kamen einige schottische Fußballspieler auf „missionary visits“ nach England, blieben dort und wurden später auch von den nordenglischen Vereinen direkt angeworben. „Scottish professors“ wurden sie genannt, weil sie die „science of the game“ kannten und den englischen Vereinen lehren konnten. Nun begannen immer mehr englische Mannschaften, auf das „combination game“ umzustellen und das Passspiel zu trainieren.

Der englische Fußball revolutionierte sich also konzentriert in den 1880er Jahren durch die Legalisierung des Profifußballs nebst all seinen flankierenden Entwicklungen und durch die Übernahme des als „Scottish style“ bekannten Kombinationsfußballs. Für mich sind diese beiden Umbrüche so tiefgreifend, dass sie aus meiner Sicht die Wendepunkte zum modernen Fußball darstellen. Was in der Folgezeit passierte, waren nur die Konsequenzen aus diesen Ereignissen.

Das Musikwesen in England 1760-1840

Diese Hausarbeit habe ich im Sommersemester 2011 im Seminar “Fairest Isle, all isles excelling – englische Kultur, Gesellschaft und Lebenswelten 1760-1840” bei Prof. Dr. Josef Johannes Schmid (Geschichte, Uni Mainz) verfasst.

Einleitung

Das pulsierende Londoner Konzertleben um 1800 übertraf selbst jenes von Paris und Wien. In den vielen Theatern und im Sommer zusätzlich in den pleasure gardens – besonders Vauxhall und Ranelagh – wurden Opern und andere musikalische Unterhaltungen regelmäßig und an mehreren Tagen in der Woche gegeben, in der Fastenzeit darüber hinaus Oratorien. Musikliebhaber konnten zwischen konkurrierenden Konzertreihen, italienischer Oper, kunstvoller Musik in Theaterstücken, Maskenspielen und Pantomime wählen.[1]Vgl. Zum blühenden Londoner Konzertleben vor allem: 1) Philip, Robert: London. In: Stanley Sadie (Hg.): New Grove Dictionary of Music and Musicians. Band 15. London ²2001. 2) Holman, Peter: … Continue reading Die reiche Musikkultur wirkte sich auch auf die englischen Kleinstädte aus. In den meisten gab es einen Laienmusikverein, der regelmäßig Orchesterkonzerte gab, in Theatern musikalische Vorstellungen darbot und bei Opernaufführungen mitwirkte. Auch existierte meistens eine Blaskapelle der örtlichen Bürgerwehr als weitere musikalische Gruppierung. Insbesondere Georg Friedrich Händels Werke erfreuten sich einer überbordenden Beliebtheit. Kein Theater konnte es sich leisten, Händel nicht in seinem Programm zu inszenieren. Die Darbietungen seiner Werke waren bis über die 18. Jahrhundertwende hinweg Zuschauermagnete. War Händel seiner Zeit im 17. Jahrhundert einer der wenigen ausländischen Musiker, die nach England reisten und hier sesshaft wurden, kamen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer mehr ausländische Musiker nach London, um ihr Können auch hier unter Beweis zu stellen und um ihre Einkommen über die Sommermonate zu sichern, in denen die Theaterhäuser auf dem Festland geschlossen waren. Wiederum andere Musiker zogen vom europäischen Festland nach England, um dort zu leben und eine Festanstellung zu finden. Die französische und die amerikanische Revolution streiften die Insel nur peripher: Flüchtige Adelige aus Frankreich und den neugegründeten Vereinigten Staaten kamen nach England. Sie wurden von der englischen Oberschicht, den gentry (niederer Adel) und nobility (höherer Adel) aufgenommen. Die demokratische Ideologie schien in England kaum für einen Wandel gesorgt zu haben. Die Revolution, die England direkt und gesellschaftsverändernd traf, war die industrielle Revolution. Die neuen Arbeitsmöglichkeiten durch die technischen Neuerungen zogen große Teile der Landbevölkerung nach London und in die neu entstehenden Städte wie Manchester. So verdoppelte sich während des 18. Jahrhunderts die Bevölkerung in den Städten fast um das Doppelte. Neue Gesellschaftsschichten entstanden: Durch die industrielle Revolution erlangten Unternehmer, Bankiers und andere Kapitalbesitzer Reichtum und Einfluss. In den deutschen Ländern wurden sie unter der Bezeichnung des Wirtschaftsbürgertums zusammengefasst. Durch das Aufblühen der humanistischen Ideale in den Städten entstand eine weitere Gesellschaftsschicht, die sich diese Ideale zu eigen machte, dem Bildungsbürgertum. Beide middle classes, wie sie in England bezeichnet wurden, veränderten die bisher eindeutig getrennten englischen Schichten, der besitzenden Oberschicht und arbeitenden Unterschicht auf dem Land.[2]Zum Wandel der englischen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Perkin, Harold: The Origins of Modern English Society 1780-1880. London 1969.

Diese Arbeit untersucht, wie sich der Wandel der Gesellschaft auf das englische Musikwesen, vordergründig in London als florierendes Zentrum, zwischen 1760 und 1840 ausgewirkt hat. Daher wird insbesondere auf die Zuschauer und weniger auf die Musiker eingegangen. Dazu wird zunächst die Londoner Musikkultur beispielhaft an den Opern- und Oratorienaufführungen dargestellt, um dann auf das gesellschaftliche Gefüge der Besucher der Opernhäuser einzugehen. Dazu wird zunächst die Oberschicht mit ihren Angewohnheiten präsentiert, um dann den gesellschaftlichen Wandel durch das Subskriptionssystem und der neuen Opernform, der opera buffa, näher zu beleuchten. Folgend wird die Rolle der Musik im privaten Rahmen, im Salon, und ihre soziale Dynamik für Adel und Bürgertum veranschaulicht und die englische Sonderform der glee clubs beschrieben. Die abschließenden Kapitel gehen auf den Wandel in der anglikanischen und katholischen Gottesdienstliturgie und deren Musiker ein.

Für die Untersuchung wurden sowohl zeitgenössische Quellen als auch Sekundärliteratur konsultiert. Leider beschäftigt sich die meiste Literatur vor allem mit der Person und der Musik Händels, doch findet sich weitere Literatur, die sich mit dem gesellschaftlichen Phänomen Musikkultur beschäftigen. Zu diesen gehören die Darstellungen von Fiske „Music in Society” sowie “English Theatre”, Faulstichs “Bürgerliche Mediengesellschaft”, die Aufsätze “Romanticism and music culture in Britain 1770-1840” von Wood und “Italian Opera at the King’s Theatre in the 1760. The Role of the Buffi” von Willaert, aber ganz besonders die Untersuchungen von Hall-Witt in “Fashionable Acts”. Tatsächlich ist die Musikkultur zur Zeit von König George III. und George IV. auch abseits von Händels Oratorien in der englischsprachigen Literatur kein reines Forschungsdesiderat mehr. Außerhalb Englands scheinen sich jedoch nur wenige mit der Musikgeschichte Englands im 18. und 19. Jahrhundert beschäftigt zu haben.

Die Londoner Musikkultur

Das englische Königshaus Hanover war eine sehr musikbegeisterte Familie, die Musiker unterstützte und das Spielen von Instrumenten erlernte. König George II. unterstützte Georg Friedrich Händel und auch sein ihm 1760 auf den Thron folgender Sohn George III. war ein Liebhaber der Händelschen Musik. Er bekam vor seiner Krönung bereits seit einigen Jahren Querflötenunterricht bei Franz Wiedemann. Zudem besuchte er zeitlebens regelmäßig Opern und Oratorien in den Londoner Theatern.[3]Vgl. Blom, Eric: Musik in England. Hamburg [1948]. S. 208. Nachdem George III. in 1785 Luigi Cherubini zum „Komponisten des Königs“ ernannte hatte, besuchte die königliche Familie regelmäßig „Konzerte für Alte Musik“ in den Tottenham Street Rooms.[4]Vgl. Ebd S. 234. Seine Frau Charlotte erlernte ab 1764 das Cembalo-Spiel bei Johann Christian Bach. Ein Kontakt, der durch Carl Friedrich Abel zustande kam. Abel war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied im königlichen Kammerorchester, der Chapel Royal, in das nun auch Bach aufgenommen wurde.[5]Vgl. Ebd. S. 208. Ein weiteres Mitglied der Chapel Royal, William Boyce, schrieb für die Hochzeit von George III. mit Charlotte einen Anthem.[6]Vgl. Range, Matthias: William Boyce’ Anthem for the Wedding of King George III. In: Musical Times 147 (2006). S. 59-62, insbesondere S. 60. Georges III. und Charlottes ältester Sohn, George Frederic August, Prince of Wales, der spätere George IV., wurde ab 1782 von John Crosdill am Cello unterrichtet.[7]Vgl. Blom, Musik in England. S. 230. Im gleichen Jahr lernte George IV. den drei Jahre jüngeren Komponisten Thomas Attwood kennen, der im Buckingham Palace ein Konzert gab.[8]Vgl. Ebd. S. 230. Zu dem damals 17-jährigen Attwood entwickelte er eine so enge Bekanntschaft, dass dieser nicht nur für ihn  die Krönungsmesse („Ich war froh“) schrieb, sondern auch für die Krönung seines Nachfolgers und Bruders William („O Gott, schenke dem König ein langes Lebens“).[9]Vgl. Ebd. S. 256. George IV. unterhielt während seiner Regierungszeit ein eigenes Kammerorchester, das im Carlton-Haus probte[10]Vgl. Ebd. S. 234. und in das auch John Crossdill aufgenommen wurde. Bach und Abel etablierten in Konzerträumen am Soho Square 1765 bis 1781 eine Konzertreihe, auf der sie nicht nur eigene Kompositionen spielten, sondern auch aktuelle Musik aus den deutschen Ländern.[11]Vgl. Searle, London. Sp. 1467. Wegen der Unterstützung der eingereisten Komponisten kam es im 18. und 19. Jahrhunderts wiederholt zu Unmut innerhalb der englischen Bevölkerung, die den Mäzenen und dem englischen Königshaus ankreideten, ausländische Musiker zu bevorzugen. Der Vorwurf war, dass jene ebenso talentierten englischstämmigen Musikern die Arbeitsstelle wegnehmen würden.[12]Vgl. Holman, Eighteenth-Century English Music. S. 4.

Die Londoner Theater

In London gab es drei königliche Theater, die nach dem Licensing Act von 1737 die Autorisierung besaßen, dramatische Darstellungen, d.h. Opern, zu zeigen.[13]Vgl. Carr, Bruce: Theatre Music: 1800-1834. In: Nicholas Temperley/Charles G. Manns (Hgg.): The Romantic Age. The Blackwell History of Music in Britain. Band 5. Oxford 1988. S. 288. Zur Unterscheidung wurden diese nach der Straße benannt an der sie lagen: Drury Lane, Covent Garden und das King’s Theatre am Haymarket, welches im Besitz des Königs war. Später kam noch das Little Theatre am Haymarket dazu.[14]Vgl. Carr, Theatre Music. S. 288. Hier wurden zwar auch Ballette und divertimenti gegeben, aber nur als afterpiece[15]Vgl. Fiske, Roger: English Theatre Music in the Eighteenth Century. London 1973. S. 259. Dazu gehörten Ballette, Pantomime, Sage, Zauberei o. ä. nach einer Oper oder einem Theaterstück.[16]Vgl. Carr, Theatre Music. S. 289. Als es Ende des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Londonern Theatern mehrmals brannte und diese nicht bespielbar waren, bekam zeitweise das Pantheon die Lizenz, Opern zeigen zu dürfen.[17]Vgl. Searle, London. Sp.1461; Caldwell, England. S. 48. Alle anderen Theater und pleasure gardens durften bis zum Theatre Regulation Bill von 1843 nur andere Genres wie Melodramen, Burlesken, Ballette und Pantomime zeigen.[18]Vgl. Carr, Theatre Music. S. 289; Faulstich, Werner: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700-1830). Göttingen 2002 (= Geschichte der Medien). S. 253-254. In der Zeit von Oktober bis Juni gab es in den genannten Theatern zwei- bis dreimal wöchentlich Opernaufführungen.[19]Vgl. Caldwell, England. Sp. 50; Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 17. Für die Musiker begann die Probe für die Abendvorstellung um 10Uhr.[20]Vgl. Faulstich, Bürgerliche Mediengesellschaft. S. 254. Die Theatervorstellungen selbst begannen an den Theatern jedoch zu unterschiedlichen Zeiten zwischen 17 Uhr und 19 Uhr und dauerten einige Stunden, teilweise bis Mitternacht.[21]Vgl. Carr, Theatre Music. S. 289; Fiske, English Theatre. S. 256. Einlass war jeweils eine Stunde vor Vorstellungsbeginn.[22]Vgl. Fiske, English Theatre. S. 256. Eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn begann das Orchester, die Zuschauer mit Musik zu unterhalten.[23]Vgl. Ebd. S. 259.

Die Musiker und ihr Einkommen

Im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren Komponisten noch keine freischaffenden Künstler, sondern an einem adeligen oder kirchlichen Hof oder am Theater angestellt.[24]Vgl. Wood, Gillen D’Arcy: Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. Virtue and virtuosity. New York 2010. S. 56. Alternativ wurden sie durch Mäzene finanziell unterstützt, waren dann aber auch von deren musikalischen Vorlieben und auch Launen und den gängigen Musikmoden abhängig.[25]Zum patronage-System in der englischen Gesellschaft vgl. Perkin, The Origins of Modern English Society. S. 32-46. Obgleich die meisten Komponisten dem Bürgertum entstammten, zählten sie im Dienst adeliger Familien nur zur höheren Dienerschaft.[26]Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 57. Das Einkommen der Musiker lag zwar über dem eines Arbeiters, aber signifikant unter dem eines Komponisten oder Librettisten oder gar Uhrmachers oder Juweliers, deren Handwerk als wertvoller erachtet wurde.[27]Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 56; Rohr, Deborah: The Caareers of British Musicians. A Profession of Artisans. Cambridge 2001. S. 37; Fiske, Roger: Music in … Continue reading Samuel Wesley bemerkte zur verhältnismäßig geringen Bezahlung: „I have every day more and more cause to curse the day that ever my poor good father suffered musick[!] to be my profession […] the whole is a degrading business to any man of spirit or any abilities.[28]Zit. nach: Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 56.. Letztendlich bestimmten Ansehen und Nachfrage das Gehalt des Komponisten. Die bereits 1738 gegründete[29]Gründungsmitglieder waren Georg Friedrich Händel, Friedrich Wiedemann und Michael Festing. Gesellschaft zur Unterstützung in Not geratener Musiker wurde 1789 von George III. durch einen Freibrief in „Royal Society of Musicians“ umgewandelt, veränderte aber letztendlich nicht die Gehälter der Musiker – im Gegenteil: die Gehaltsschere ging bis 1820 immer mehr auseinander und veränderte sich auch für einen Musiker schnell durch Angebot und Nachfrage.[30]Zu den großen Unterschieden der Bezahlung vgl. Blom, Musik in England. Hamburg. S. 194; Wood, Romanticism and music culture in Britain. S. 130; Hall-Witt, Jennifer: Fashionable Acts. Opera and Elite … Continue reading Die Vergütung der Komponisten schwankte ebenso erheblich, unterlag sie doch den gleichen marktregulierenden Faktoren.[31]Vgl. Woodfield, Opera and drama , S. 207; Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 40; Fiske, English Theatre. S. 261.

Die lenten oratorios

Da während der Quadragesima mittwochs und freitags keine Opern aufgeführt werden durften[32]Beginnend am Freitag nach Aschermittwoch., mieteten Musikliebhaber für diese beiden Wochentage innerhalb jener sieben Wochen die Theater an, um als Ersatz die so genannten lenten oratorios aufzuführen.[33]Vgl. Zöllner, Eva: English Oratorio after Handel. The London Oratorio Series and its Repertory 1760 – 1800. Marburg 2002. S. 7, 19, 21; Mohn, Barbara: Das englische Oratorium im 19. Jahrhundert. … Continue reading

Eine Oratorienveranstaltung bestand aus drei Konzertteilen. Zunächst dem Oratorium als Hauptwerk, dann einem gemischten Programm geistlicher Musik und zum Abschluss weltliche Musik. Zwischen den einzelnen Teilen erklangen Solo-Konzerte.[34]Vgl. Mohn, Das englische Oratorium. S. 23. Die Oratorien begannen üblicherweise um 18:30Uhr und dauerten drei Stunden.[35]Vgl. Zöllner, English Oratorio after Handel. S. 29. Von den impresari[36]Der impresario wiederum kümmerte sich im 18. Jahrhundert um die Verpflichtung der Musiker, war aber auch für die Wirtschaftlichkeit des Gebäudes und des Spielbetriebs verantwortlich. der Opernhäuser führten die Oratorien-impresari führten das Theater an jenen beiden Wochentagen als administrativ und finanziell unabhängigen Betrieb. Dieses barg für diese temporären impresari Chancen und Risiken zugleich, da sie zwar sämtliche Einnahmen behalten durften, die Ausgaben aber auch zu decken hatten. Ein schlecht besuchtes Oratorium konnte die finanziellen Ressourcen erschöpfen.[37]Vgl. Zöllner, English Oratorio after Handel. S. 20. Mit hohen Eintrittspreisen sicherten die von der Oberschicht gewünschte Exklusivität[38]Vgl. Ebd. S. 44. und dessen Wunsch nach pleasing variety durch Veränderung der Inszenierung.[39]Vgl. Ebd. S. 31, 48, 55. Der Versuch John Christopher Smith‘ und Charles John Stanleys, das Programm mit aktuellen und eigenen Kompositionen zu erweitern, scheiterte, denn die Besucher blieben aus.[40]Vgl. Ebd. S. 17, 46. Die Besucherzahlen stiegen wiederum mit der Wiederaufnahme Händelscher Oratorien.[41]Vgl. Ebd. S. 47. So blieben bis in die 1790er Jahren fast alle aufgeführten Oratorien von Händel.[42]Vgl. Ebd. S. 17. Ein Sitz in den Boxen kostet einen halben guinea[43]1 guinea entsprach 10s 6d., die obere Galerie 5s und die untere Galerie: 3s 6d. Lenten oratorios gab es zunächst nur in Covent Garden und waren für das aristokratische Publikum umso anziehender, da es auch der König besuchte. Den beiden dortigen Oratorien-impresari Smith und Stanley sicherte dies die Einnahmen.[44]Vgl. Zöllner, English Oratorio after Handel. S. 43-44, 55. Obwohl sie in den 1760er Jahren immer wieder Konkurrenten in anderen Theatern hatten[45]Vgl. Ebd. S. 48, 59, 61-64., setzte sich aber erst Samuel James Arnold in Drury Lane in den 1790er Jahren als echter Kontrahent durch. Er gewann seine Zuschauer durch deutlich niedrigere Preise (Box 5s, Parkett 3s, obere Galerie 2s, untere Galerie 1s)[46]Vgl. Ebd. S. 56-58., an die Smith und Stanley ihre Preise zunächst nicht anglichen. Erst als Smith und Stanley zwei Jahre später für die Oratorienreihe zu Drury Lane wechselten und Arnold seinerseits Covent Garden übernahm[47]Vgl. Ebd. S 59, 64-65., verringerten die beiden alteingesessenen Oratorien-impresari ihre Eintrittspreise etwas. Der Preis in den Boxen war weiterhin ein halber guinea, aber ein Platz im Parkett verringerte sich auf 5s, in der oberen Galerie auf 3s 6d und in der unteren Galerie auf 2s.[48]Vgl. Ebd. S. 59. Die Gründe für den Tausch der Theater sind offenbar nicht überliefert, doch liegt die Vermutung nahe, dass Stanley und Smith die Miete von Covent Garden zu teuer wurde.[49]Vgl. Ebd. S. 65.

Die Krönung der Verehrung Händels Oratorien fand in der Handel Commemoration von 1784 in der Westminster Abbeymit 525 Laienmusikern statt.[50]Vgl. Holman, Eighteenth-Century English Music. S. 6; Zöllner, English Oratorio after Handel. S. IX [Preface]; Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 22, 24, 30. Nach der Commemoration kam es zu einem stetigen Rückgang der Oratorienaufführungen Händels, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu einem Rückgang der Oratorien an sich. Es wurden nun mehr und mehr Concerti spirituali, kürzere orchestrale Musikwerke aus Chorälen oder Kirchenlieder[51]Vgl. Mohn, Das englische Oratorium. S. 20; Zöllner, English Oratorio after Handel. S. 4-5, 8, 31, 66. Neben Gesangssolisten traten auch Instrumentalsolisten auf. Typische Solo-Instrumente waren … Continue readingVgl. Mohn, Das englische Oratorium. S. 20; Zöllner, English Oratorio after Handel. S. 4-5, 8, 31, 66. Neben Gesangssolisten traten auch Instrumentalsolisten auf. Typische Solo-Instrumente waren Orgel, Violine, Oboe, Querflöte, Cello, Horn, Fagott und Klarinette., aufgeführt und nicht mehr vollständige Oratorien. Diese Mischung aus Oratorien und Concerti spirituali nannte sich „Favourite Selections“. Ab 1815 flaute die Begeisterung für die Reihe der lenten oratorios in der Fastenzeit ab und nur noch einzelne Theater schrieben für wenige Perioden schwarze Zahlen. Zwischen 1820 und 1840 gab es daher einen häufigen Wechsel in der Leitung der lenten oratorios in beiden Opernhäusern und es kam sogar zum Ausfall ganzer Konzertreihen. Diverse Versuche zum Erreichen höherer Besucherzahlen blieben erfolglos.[52]Vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 31-43. In den 1840er Jahren verschwanden die lenten oratorios schließlich aus den Theatern.[53]Vgl. Mohn, Das englische Oratorium. S. 20.

Musik im öffentlichen Raum

Die Aristokratie: Sehen und gesehen werden

Die Opern und Oratorien[54]Um nicht wiederholend den Terminus „Opern und Oratorien“ zu verwenden, wird nachfolgend nur von der Oper geschrieben, jedoch immer auch die Oratorienaufführung gleichsam gemeint. waren im 18. Jahrhundert ein Spiegelbild der klar getrennten gesellschaftlichen Klassen und innerhalb der aristokratisch geführten Gesellschaft ein feinfühliges Barometer für die Machtverhältnisse und Strukturen.[55]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 3. Jene mondäne Gesellschaft war in den 1780er Jahren eine geschlossene Gruppe. Die Theater waren klein und übersichtlich genug, um als effektiver Treffpunkt zu dienen.[56]Vgl. Ebd. S. 266. Sehen und gesehen werden war die Devise.[57]Vgl. Ebd. S. 4, 18, 265. Neben der kulturellen Bildung[58]Vgl. Ebd. S. 24. diente der Opernbesuch der Pflege seiner sozialen Verbindungen und zum Aufbau neuer Kontakte.[59]Vgl. Ebd. S. 18. Begünstigt wurde dies durch die begrenzte Größe des Auditoriums und der überschaubaren Anzahl von Logen. Man konnte einander sehr gut beobachten. Die mondäne Gesellschaft kannte sich gut genug, um auch kleinen Veränderungen bei den anderen die entsprechende gesellschaftliche Bedeutung beizumessen. Wer unterhielt sich mit wem? Ließ sich die Anbahnung einer persönlichen Beziehung erkennen? Oder glaubte man gar, eine Abkühlung bestehender Beziehungen zu erkennen? Wer fiel durch teure neue Kleidung auf oder konnte sich offenbar keine neue leisten? Neue Besucher fielen in der geschlossenen Gruppe sofort auf.[60]Vgl. Ebd. S. 266-267. Die Veranstaltung wurde auch genutzt, um politische Verbindungen zu avisieren, Informationen zu sammeln und Veränderungen und Neuigkeiten im gesellschaftlichen Netzwerk der Oberschicht aufzuspüren oder zu offenbaren.[61]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 266, 268.

Der gesellschaftliche Aspekt stand bei der Oper klar im Vordergrund, die Aufführung, die Musik waren der Anlass oder auch der Rahmen für das Treffen. Das Opernpublikum des 18. Jahrhundert war „event-orientiert“ (Hall-Witt)[62]Zit nach: Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 23. Aufschlussreich für das Verständnis des Verhaltens dieses “event-orientierten” Publikums ist auch: Weber, William: Did People Listen in the 18th … Continue reading und betrachtete sich selbst als Teil des ganzen Spektakels.[63]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 24.

Die Sänger sangen ihre Arien und Gesangsausschmückungen und die Besucher jubelten oder buhten sie aus. Die Zuschauer waren an der musikalischen Unterhaltung interessiert, nicht am Komponisten oder den Sängern. Nur bei bekannten und berühmten Sängern wurden auch die Namen abgedruckt.[64]Vgl. Ebd. S. 40-43 Fiske, Music in Society. S. 14. Die Zuschauer informierten sich vor Beginn der Vorstellung sowie in den Pausen zwischen den Akten  im Libretto der Oper.[65]Vgl. Fiske, English Theatre. S. 258. Die Libretti enthielten die Texte der Opern mit Übersetzung ins Englische, allerdings nicht den Namen des Komponisten und jene der Sänger und kostete in den 1780er Jahren 1s 6d, 1805 bis in die 1820er Jahre 2s. Die Reputation der Sänger stieg und fiel mit der Reaktion der Zuschauer. Bewertet wurden nicht nur deren musikalische Leistung, sondern auch die Liedauswahl und die Variabilität in der Darbietung. Der Sänger musste nicht nur mit seinem Lied stimmlich brillieren, sondern durfte es auch nicht immer in der gleichen Art singen.[66]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 23. Die Komponisten und Sänger erreichten jene geforderte novelty, indem sie bestehendes musikalisches Material immer wieder neu verarbeiteten. So kam es vor, dass Opernsänger sogar Arien aus anderen Opern oder pasticci einfügten, um mit einem bestimmten Lied aus einem ganz anderen Stück stimmlich zu brillieren und das Publikum zu begeistern.[67]Vgl. Ebd. S. 10, 35-39; Willaert, Italian Opera at the King’s Theatre, S. 21-28. Da ein Operntext nicht als unantastbar und geschützt betrachtet wurde, konnte jeder das Musikstück eines anderen Künstlers verändern und ohne Erlaubnis in der veränderten Form aufführen, was man ungeniert und intensiv nutzte.[68]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 40. Um die Dauer der Vorstellung zu kürzen, wurden Opern mit drei Akten auch durchaus auf zwei Akte gekürzt.[69] Vgl. Ebd. S. 34. Die Kunst der impresari war es, nicht nur eine dauerhafte Besetzung  guter Darsteller zu haben, sondern auch das Programm von Aufführung zu Aufführung den Wünschen des Publikums anpassen.[70]Vgl. Ebd. S. 5. Die geplanten Darbietungen wurden ein oder maximal zwei Tage im Voraus bekannt gegeben und zwar abends in der Vorstellung zwischen Hauptstück und after piece und am nächsten Morgen in der Presse. Eine oder zwei Zeitungen hatten das Privileg, das Programm zu veröffentlichen und zahlten hierfür an die Theater.[71]Vgl. Fiske, English Theatre. S. 256.

Die gesellschaftliche Stellung ließ sich nicht nur an der Kleidung der Besucher erkennen[72]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 17-18., sondern auch am angestammten Platz im Theater-Auditorium. Die nicht so gut betuchten Gäste in ihrer einfacheren Kleidung und jene, die keinen halben guinea zahlen konnten, nahmen auf der Galerie Platz[73]Vgl. Ebd. S. 4; Fiske, Music in Society. S. 14; Fiske, English Theatre. S. 256., während reiche Bürger und der niedrige Adel in den Boxen und Logen der ersten Ränge sowie im Parkett saßen. In den oberen Rängen saßen die high courtesans. Jene nutzten die Vorstellung, um auf sich aufmerksam zu machen und das Interesse zu wecken.[74]Vgl. Fiske, English Theatre. S. 257; Fiske, Music in Society. S. 14; Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 4. Das Parkett teilte sich eine Mischung aus Adel, Oberschicht, Mittelstand, Journalisten und Künstlern – die beiden Letztgenannten genossen Zutritt durch die free list.[75]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 4.

Der Wandel: Die Subskription

Adelige sicherten sich ihre Plätze über die Subskription. In die ausliegenden Subskriptionslisten wurde der Name eingetragen und der Betrag für die Opernbesuche einer ganzen Saison im Voraus gezahlt. Das sicherte dem Subskribenten den gleichen Platz und dem impresario finanzielle Sicherheit. Den in der Literatur ungenannten, aber mit Sicherheit auch für Adelige hohen Preis konnten sich nicht alle leisten. Viele von ihnen wurden davor von ihren Mäzenen zur Subskription eingeladen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bevorzugten die Subskribenten die Logenplätze.[76]Vgl. Ebd. S. 57. Der weitgehend unveränderte, beständige Kreis der Besitzer der Plätze war ein grundlegendes Merkmal der Opern-Subskriptionskultur. Da es jedes Jahr fast immer die gleichen Subskribenten waren, fielen neue Besucher sofort auf und wurden verstärkt beobachtet. Ebenso beachtenswert waren fehlende Subskribenten und der vermeintliche Grund hierfür. Solche Beobachtungen wurden zu Gradmessern für finanzielle Veränderungen in Familien, gaben Aufschluss über gesellschaftlichen Aufstieg oder Abstieg.[77]Vgl. Ebd. S. 60. Etwa ein Viertel aller englischen Aristokraten waren Subskribenten in einer der Londoner Opern. Die Oper fungierte quasi als halbprivater Club[78]Vgl. Ebd. S. 57. mit den Subskribenten als Haupteinnahmequelle des Theaters.[79]Vgl. Ebd. S. 155. Die Theater erkannten ihre Chance für höhere Einnahmen und vergrößerten ab den 1790er Jahren die Auditorien der Theater. Damit veränderte sich aber deren vertraute Atmosphäre.[80]Vgl. Ebd. S. 267. Das eigene Erscheinen glich nicht mehr einem Auftritt, dem die volle Aufmerksamkeit sicher war .[81]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 116, 130, 267. Durch das größere Auditoriums drängten neue, für die bisherigen Subskribenten weitgehend unbekannte Menschen in die Theater. Durch die zunehmende Industrialisierung hatte sich eine vermögende bürgerliche Oberschicht mit eigenen Machtstrukturen und Machtbewusstsein entwickelt, die Einlass in die bisher weitgehend geschlossene mondäne Gesellschaft suchte und selbst oder über persönliche Beziehungen über die finanziellen Mitteln für die Vorauszahlung des wöchentlichen Opernbesuchs verfügte.[82]Vgl. Ebd. S. 271. Immer mehr Interessenten umgingen die Subskription, um sich einen Logenplatz zu sichern[83]Vgl. Ebd. S. 7., der Schwarzmarkt boomte. Buchhändler boten nun sogar Karten für Eigentumslogen an, konnte doch ein Drittel der Aristokraten durch falsches Management des eigenen Besitzes und die kriegsbedingte Inflation  die um das Doppelte erhöhten Eintrittspreise nicht mehr bezahlen.[84]Vgl. Ebd. S. 148-155. Wegen dieser Preiserhöhung kam es immer wieder zu riots, den sogenannten old price riots.[85]Der zerstörerischste riot mit einem Schaden von £ 2.000 ereignete sich am 3. Februar 1762 in Covent Garden allerdings nicht wegen einer Preiserhöhung, sondern weil es nach drittem Akt nicht den … Continue reading Die Atmosphäre in der Oper wurde nun öffentlicher, aber auch unpersönlicher.[86]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 271. Die Einstufung der Zuschauer nach ihrer gesellschaftlichen Reputation fiel deutlich schwerer,[87]Vgl. Ebd. S. 116. denn vermögende Bürgerliche konnten sich durchaus eine pompösere Kleidung oder einen teureren Platz leisten als ein verarmter Adliger. Später, aber immer noch vor der Jahrhundertwende 1800, wurden wegen der immer noch starken Nachfrage nach Plätzen in den Opernhäusern sogar Logen seitlich der Bühne gebaut.[88]Vgl. Ebd. S. 25-26. Hier mieteten besonders gerne gesellschaftlich oder politisch ambitionierte Männer einen Platz, um sich gut sichtbar als Mäzen einer Darstellerin oder des impresarios positionieren wollten.[89]Vgl. Ebd. S. 267. Die Oberschicht versuchte vergebens, ihren bisherigen Einfluss und ihr bisheriges Standing in dem Opern-Netzwerk zu erhalten. Doch durch die zunehmende Kommerzialisierung der Oper und dem Rückgang an adeligen Zuschauern, höhlte sich das Subskriptionssystem kontinuierlich weiter aus, um bis in die 1830er Jahre seinen früheren Stellenwert eingebüßt zu haben.[90]Vgl. Ebd. S. 3, 145, 155. Um 1850 strömten zwar noch immer Aristokraten zu Opernveranstaltungen, aber die Zusammensetzung der Zuschauer hatte sich gewandelt: Gönnerinnen und Gesellschaftsdamen gingen zwar wie auch modische Dandies und Militärs weiterhin in die Oper, doch aktive Politiker oder sogar Mätressen fand man kaum noch auf den Subskriptionslisten.[91]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 5

Der Wandel: Die opera buffa

In der opera seria mit ihren tragischen Handlungen um aristokratische Helden konnten sich die adeligen Opernzuschauer leicht wiederfinden und sich mit ihnen identifizieren. Die opera buffa bildete mit ihrer amüsanten, possenhaften Handlung und den nicht-aristokratischen Helden ein Gegenstück zur opera seria mit ihren heroischen, erhabenen Charakteren und der ernsten, dramatischen Handlung. So wenig sich Aristokraten mit den Helden der opera buffa identifizieren konnten, so sehr faszinierte es die bürgerlichen Zuschauer. Noch über die Jahrhundertwende 1800 hinweg wurde die opera buffa missachtet und wurde in Rezensionen und Musikgeschichtsschreibung abwertend beurteilt. Schauplatz der Londoner opera buffa war das King’s Theatre. Zwar war sie dort seit 1760 im Programm, gehörte aber erst 1773 zu ihrem festen Bestandteil. Die impresaria des King’s Theatre, Colomba Mattei, entwarf ein cleveres, wirtschaftliches Programm, das für spätere opera buffa-Programme anderer Theaterhäuser Vorbildcharakter hatte. Ein ausgewogenes, variierendes Programm mit Aufführungen der opera seria am Wochenende und der opera buffa an Werktagen.[92]Vgl. Willaert, Saskia: Italian Opera at the King’s Theatre in the 1760. The Role of the Buffi. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. S. 17-20; Haskins, … Continue reading Mattei engagierte bekannte Komponisten als Hauskomponisten, die eigens für ihr Theater Arrangements und pasticci für die angestellten Sänger komponierten.[93]Vgl. Willaert, Italian Opera at the King’s Theatre in the 1760. S. 30-33. Eingereiste, ausländische buffa-Darsteller vom Festland übernahmen häufig die Organisation der opera buffa. Sie besorgten die Noten für Instrumentalisten und Sänger, stimmten sich mit dem Hauskomponisten[94]Die Musikstücke waren entweder vom Kontinent importiert oder vom Hauskomponisten für dieses Theaterhaus komponiert worden. sowie dem Hauslibrettist ab und traten auch selbst als Sänger auf. Dabei griffen sie auf ihnen bereits bekannte Opern zurück.[95]Vgl. Willaert, Italian Opera at the King’s Theatre in the 1760. S. 21-23; Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 38. Neu komponierte opere buffe standen deshalb in den Londoner Opernhäusern nur selten auf dem Programm. Meist vergingen zehn bis zwanzig Jahre seit der Uraufführung auf dem europäischen Festland, bevor die Opern in England aufgeführt wurden.[96]Vgl. Willaert, Italian Opera at the King’s Theatre in the 1760. S. 25. In den 1810er Jahren dominierten die opere buffe von Mozart das Programm des King’s Theatre.[97]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 45.

Musik im privaten Raum

Im privaten Salon

Ende des 18. Jahrhunderts begann eine Hochkonjunktur im Musikalienhandel, begünstigt durch die Erfindungen neuer Maschinen, durch die der Notendruck schneller und damit billiger wurde.[98]Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 16; Sadie, Stanley: Music in the Home II [in 1760 – 1800]. In: Henry D. Johnstone/Robert Fiske (Hgg.): The Eighteenth Century. The … Continue reading Für „Kenner“ und „Liebhaber“, so die zeitgenössische Bezeichnung für musikbegeisterte Laien, wurden etwa ein bis zwei Monate nach der Uraufführung einer Oper, eines Konzertes, einer Sinfonie oder eines anderen musikalischen Werkes – sofern sie erfolgreich war – die Noten gestochen.[99]Vgl. Caldwell, London. S. 35; Faulstich, Bürgerliche Mediengesellschaft. S. 294-298. Die Gesangspartitur einer Oper kostete um 1800 10s 6d, eine Gesangspartitur des afterpiece 6s[100]Vgl. Faulstich, Bürgerliche Mediengesellschaft. S. 299., sechs Sonaten £ 10s 6d.[101]Vgl. Sadie, Music in the Home II. S. 314. In manchen musikalischen Zeitschriften erschienen wöchentlich mehrere Seiten als sich fortsetzende Teile einer Gesangspartitur für nur 1s 6d[102]New Musical Magazine, 1783-[unbekannt], von James Harrison. oder 2s 6d[103]Pianoforte Magazine, 1799-1802, von James Harrison, Cluse & Co.. Man musste die aufeinanderfolgenden Ausgaben kaufen, bis man das Werk vollständig hatte. Der Zeitverzug rechnete sich aber, denn diese Variante war im Gesamten oftpreisgünstiger als der Kauf des kompletten Werks.[104]Vgl. Faulstich, Bürgerliche Mediengesellschaft. S. 296-299. Orchestrale Werke wurden für wenige Instrumente oder ein Soloinstrument arrangiert. In der Klaviermusik war die begleitete Klaviersonate das beliebteste Genre im späten 18. Jahrhunderts.[105]Vgl. Sadie, Music in the Home II. S. 323-351. Durch verbesserte Technik bei der Herstellung wurden Klaviere seit Ende des 18. Jahrhunderts für eine weitaus größere Anzahl Menschen erschwinglich.[106]Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840.S. 4; Searle, London. S. 1473. Sie konnten durch Arrangements von Orchesterkompositionen, den Klavierauszügen, Bühnenwerke alleine nachspielen, gegebenenfalls dazu singen und so im Kleinen der eigenen vier Wände Konzert- und Opernerlebnisse darbieten.[107]Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 53. Klaviersonaten wiederum waren oft als Lehrstücke für Klavierschüler geschrieben.[108]Vgl. Sadie, Music in the Home II. S. 336, 340, 343. Nachdem es schon im 18. Jahrhundert einen Leitfaden für das Erlernen des Flöten- oder Violinspiels gab[109]Vgl. Fiske, Music in Society. S. 4., den beliebtesten Instrumenten des 18. Jahrhunderts[110]Vgl. Ebd. S. 8-9; Sadie, Music in the Home II. S. 324-327. – hauptsächlich von Männern gespielt –konnten englische Laienmusiker ab Beginn des 19. Jahrhunderts solche Leitfäden auch für das Klavierspiel erwerben.[111]Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 162-163.

Neben dem Musizieren am Klavier war es in der Aristokratie beliebt, seine Töchter auch im Gesang unterrichten zu lassen,[112]Vgl. Petrat, Nicolai: Hausmusik des Biedermeier im Blickpunkt der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse (1815-1848). Hamburg 1986. (=Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft 31) S. 99; Fiske, … Continue reading sodass die Tochter idealerweise nicht nur virtuos spielen, sondern auch mit lieblicher Stimme dazu singen konnte. Die musikalische Befähigung der Töchter beeinflusste die gesellschaftliche Stellung der gesamten Familie[113]Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 17, 155-159; Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 44; Petrat, Hausmusik des Biedermeier, S. 98-99.: Eine unmusikalische Tochter konnte nicht nur schwer verheiratet werden, sondern schmälerte auch die Reputation ihrer Familie. Deshalb wurden Töchter unabhängig von ihrer musikalischen Befähigung zum Erlernen dieser Qualifikationen teils gezwungen. Gioachino Rossini arbeitete 1824 während seines Aufenthalts in London auch als Gesangslehrer und klagte danach, dass „not even £ 100 per lesson could compensate for the tortures that I suffer while listening to those ladies, whose voices creak horribly.“.[114]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 44. Zit. nach: Kendall, Alan: Gioacchino Rossini. The Relunctant Hero. London 1992. S. 124. Jane Austen kritisierte ihre Zeitgenossen für den verbissenen Drill, dem sich ihre Kinder unterziehen mussten.[115]Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 166. Diese Art der musikalischen Erziehung mache aus jungen Frauen „mechanical automata“, verbissene Roboter, eine Maschine ohne Effekt und Gespür die, getrieben von einer Disziplin, die an preußischen Drill erinnert, Noten spielen lernten, um dem aristokratischen Ideal und damit den gesellschaftlichen Anforderungen zu entsprechen.[116]Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 65., 155, 160-162 Siehe zur Bezeichnung der jungen Frauen als Automaten auch das Kapitel 5 dieses Sammelband, den Aufsatz … Continue reading Jane Austen schrieb aus eigener Erfahrung über „mechanical automata“, denn sie übte seit ihrem 13. Lebensjahr morgens am Klavier und spielte abends vor ihrer Familie. Dieses Ritual entsprach der Masse. Um Standesangehörigen das Können der Töchter zu zeigen und sie für eine günstige Heiratspartie zu positionieren, begab man sich bei Einladungen oder einem gemeinsamen Essen in den hauseigenen Salon zum Musizieren. Üblich war es, dass bei solchen privaten aber auch bei halb-öffentlichen Konzerten zwei Frauen am Klavier vierhändig und eine an der Harfe arrangierte Orchesterfassung der in London aktuellen Opern spielten, während die Vortragenden gleichzeitig die Texte dazu sangen.[117]Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 153-154.

Die musikalische Erziehung in einem Instrument und Gesang war Ende des 18. Jahrhunderts keine Domäne der elitären Londoner Gesellschaft mehr. Die middle classes hatte durch Musikkopisten gleichermaßen Zugang zu Noten und pädagogischem Material. 1798 erklärte Edgewood, dass weibliche Leistung nun üblich sei, so dass man sie nicht mehr als ein unterscheidendes Charakteristikum der Erziehung einer gentlewoman erwägen kann.[118]Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 153-157. Die bürgerliche Hausmusik[119]Vgl. Reimer, Erich: Hausmusik. In: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, 5. Auslieferung). Mainz 1977; Eibach, Joachim: Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das öffentliche im … Continue reading des 19. Jahrhunderts hatte ihre Ursprünge in aristokratisch geprägten Theatern und Salons. Sie waren halb-öffentlich, da sie die aristokratisch-höfische Tradition bewahrten, aber im privaten Rahmen in einem Wohnzimmer für geladene Personen ausführten.[120]Vgl. S. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990. S. 44-45; Schwindt, Nicole: Kammermusik. In: … Continue reading Der bürgerliche Salon diente als Rückzugspunkt, um die humanistischen Ideale zu pflegen[121]Vgl. zu den adeligen und bürgerlichen Salons auch: Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 155-157; Petrat, Hausmusik des Biedermeier, S. 238-249. und das Klavier wurde zu einem charakteristischen Möbelstück dieses Raumes.[122]Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 152-166; Budde, Gunilla: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Darmstadt 2009. S. 62. Auch in der bürgerlichen Familie mit Vermögen oder Bildung befleißigte man sich der musikalischen Ausbildung der Töchter. Im Umkehrschluss zu dem möglichen gesellschaftlichen Niedergang einer adeligen Familie, bedeutete ein musikalisches Talent der Bürgerstochter nicht nur gesellschaftlichen Glanz und die Wahrscheinlichkeit einer guten Partie, es war auch die Basis für einen gesellschaftlichen Aufstieg, zumal wenn eine attraktive Mitgift gesichert war. Amédée Pichot berichtete eine typische Szene in einem Salon: “Enter one of our coffee-rooms, and you will probably find two Englishmen seated silently in a corner, instead of entering into conversation with each other. If, by chance, one of them, throwing off some of the national reserve, should venture to address a question to his neighbor, the latter will put in a grave look, and return at most a dry monosyllabic answer, for two talkative Englishmen seldom meet under the same roof.[123]Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 179. Zit. nach: Pichot, Amédée: Historical and Literary Tour of a Foreigner in England and Scotland. 2. Bände. London 1825. Band … Continue reading.”. Und Charles Grenville berichtete: “There is a vast deal of incoming and going, and eating and drinking, and a corresponding among of noise, but little or no conversation, discussion, easy quiet interchange of ideas and opinions, no regular social foundation of men of intellectual or literary caliber ensuring a perennial flow of conversation, and which, if it existed, would derive strength and assistance from the light superstructure of occasional visitors, with the much or the little they might individually contribute. The reason of this is that the woman herself, who must give the tone to her own society, and influence its character, is ignorant, vulgar, and commonplace.”[124]Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840.  S. 201. Zit. nach: Reeve, Henry (Hg.): The Grenville Memoirs (Second part). A Journal of the Reign of Queen Victoria from 1837 to 1852 … Continue reading. Den bürgerlichen Salon unterschied vom adeligen Salon, dass dem Musikvortrag wortlos und mit voller Aufmerksamkeit zugehört wurde. Für diese Hinwendung zum stillen Zuhören werden in der Forschung drei unterschiedliche Gründe genannt: Erstens: Das Londoner Bürgertum adaptierte die Idee aus dem Pariser Musikleben.[125]Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 6-7. Zweitens: Der Aufstieg des Bürgertums der neuen Mittelklasse, in Verbindung mit der opera buffa und deren nicht-aristokratischen Helden bedingten den Wandel.[126]Vgl. Ebd. Fashionable Acts, S. 42, 54-55, 227. Dieser Grund wird von James Johnson jedoch abgelehnt.; siehe Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 7. Drittens: Durch die Veränderungen in den Theater-Auditorien kannte sich das Publikum untereinander weniger, man ging nicht mehr so aus sich heraus, die Atmosphäre wurde förmlicher. Private Unterhaltungen während der Aufführung wurden weniger und zugleich von Fremden umgeben wohl auch als störender empfunden. So wurde die Konzentration auf das Dargebotene stärker. Die Aristokratie übernahm schließlich diese durch das Bürgertum ausgelöste etiquette.[127]Vgl. Ebd, S. 227. Das stille Zuhören setzte sich durch die stetig wachsende Anzahl an bürgerlichen Besuchern der Opernhäuser auch bei öffentlichen Musikdarbietungen mehr und mehr durch.

In den Salons traten sowohl Laienmusiker als auch Berufsmusiker auf, um einen Zusatzverdienst zu erwirtschaften.[128]Vgl. Dahlhaus, Carl: Brahms und die Idee der Kammermusik. In: Neue Zeitschrift für Musik. Mainz 1973. S. 563. Allerdings orientierten sich professionelle Musiker am sozialen Status der Salon-Gastgeber und verzichteten teilweise auf ihr Honorar. Musiksalons übernahmen aber auch die Aufgabe, junge Künstler zu fördern, um ihnen den Weg in die große Öffentlichkeit zu ebnen.[129] Vgl. Jungmann, Irmgard: Sozialgeschichte der klassischen Musik. Bildungsbürgerliche Musikanschauung im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2008. S. 24. Diese Gelegenheiten machten sie bekannt und konnten so deren Laufbahn unterstützen.

The Glee Clubs & Freimaurerlogen

Das Pendant zum eher von weiblichen Personen besuchten Salon bildeten die ausschließlich englische Männer aufnehmenden glee clubs[130]Vgl. besonders: Robins, Brian: The catch club in 18th-century England. In: Early Music 4 (2000). S. 517-529., die sich häufig in Trinkstuben gründeten, sowie die Freimaurerlogen.

Die musikalische Form des glees ist eine spezielle, nur im England dieser Zeit komponierte Liedform.[131]Vgl. Hurd, Michael: Glees, Madrigals, and Partsongs. In: Nicholas Temperley/Charles G. Manns (Hgg.): The Romantic Age. The Blackwell History of Music in Britain. Band 5. Oxford 1988. S. 243-246. Vgl. … Continue reading Der französische Akademiker Grosley notierte seine Beobachtungen über das Londoner Clubleben, als er 1765 durch England reiste: „They [the clubs] are held amongst friends, who, having contracted an intimacy in their early days, and experienced each other’s fidelity, are united in a conformity of tastes, schemes of life, and way of thinking.“ Er wies auch auf die Unabhängigkeit solcher Gesellschaften hin, die “acknowledge no laws but those they have laid themselves”. “Strangers, and Frenchmen above all are excluded from these assemblies, without particularly recommendation; and then they meet with all that respect and easy reception, so much preferable to ceremony and compliments.”. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden mehrere glee clubs gegründet[132]Vgl. Hurd, Glees, Madrigals, and Partsons. S. 242.: 1741 die Madrigal Society, 1761 der Noblemen and Gentlemen’s Catch Club, 1766 die Anacreontic Society, 1783 der Glee Club und 1798 Concentores Sodales, in dem allerdings nur Komponisten Mitglied werden konnten. Unter ihnen war der 1761gegründete Noblemen and Gentlemen’s Catch Club of London, kurz Catch-Club der bekannteste und einflussreichste. Zwischen 1763 und 1794 gab ihr Sekretär,  Thomas Warren, mit Catches, Canons oder Glees eine Sammlung der Lieder des Clubs heraus[133]Vgl. Blom, Musik in England. S. 210-211. und ehrte seit dem gleichen Jahr jährlich mit verschiedenen Preisen die besten glees, catches und canons des Jahres.[134]Vgl. Hurd, Glees, Madrigals, and Partsons. S. 242. Nachdem Thomas Linley sen. und Samuel Webbe sen. 1787 den Glee Club gründeten, verlor der Catch-Club an Ansehen.[135]Vgl. Blom, Musik in England. S. 234. Schließlich war Samuel Webbe sen. zu diesem Zeitpunkt bereits der bekannteste und beliebteste glee-Komponist. Er komponierte unter allen englischen Komponisten die meisten glees, nämlich über 200. und veröffentlichte sie schon seit 1764 in den neun Bänden seiner Canons and Glees.[136]Vgl. Hurd, Glees, Madrigals, and Partsons. S. 245-247.

Musik spielte in Freimaurerlogen eine zentrale Rolle, deren Charakteristik sich seit Gründung der Logen nicht änderte. Loyalität und Patriotismus verstärkten die Ideologie der Logen.

Das gemeinsame Musizieren diente sowohl der Feierlichkeit während der Treffen in der Loge als auch der Geselligkeit im Anschluss an den offiziellen Teil, denn freimaurerische Versammlungen endeten üblicherweise in fröhlicher Geselligkeit mit Wein und Liedern. Diese Musik symbolisierte die Verfassung der Freimaurerlogen: Individuen verschmolzen durch das Zurückstellen eigener Interessen zu Gunsten der Gemeinschaft zu einem harmonischen Ganzen, ähnlich wie einzelne Akkorde innerhalb der Regeln der diatonischen Harmonik zu einem perfekten, harmonischen Ganzen wurden.[137]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. S. 72-77. Liedtext: „Let … Continue reading Diese Mischung aus dem Verschmelzen kontrastierender musikalischer Formen und dem Patriotismus repräsentieren die angesprochenen glees durch ihre Mischung von stark kontrastierenden Teilen mit disparaten kontrapunktischen Linien zu einer perfekten, harmonischen Einheit und englishness in besonderem Maße. Daher wurden glees in Freimaurerlogen am häufigsten gesungen. Bei musikalischen Beiträgen während freimaurerischer Feierlichkeiten war stilles, in sich gekehrtes Zuhören gefordert.[138]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 75-77. Eine protokollierte Versammlung der Preston’s Lodge of Antiquity am 5. März 1777 berichtete von den musikalischen Elementen innerhalb der Versammlung.[139]„Lodge opened in the Third Degree in an adjacent Room, Procession entered the Lodge Room, and the usual ceremonies being observed, the Three Rulers were seated. A piece of music was then performed, … Continue reading Das Programm des musikalischen Teils der Einweihungszeremonie einer Freemasons’ Hall am 23. Mai 1776 berichtete, welche musikalischen Stücke dargeboten wurden: Ältere freimaurerische Lieder wurden für diesen Zweck mit Stücken von John Abraham Fisher ergänzt. So folgte der Eingangsprozession zu March in D  eine Einführung, die mit dem Anthem in C, „To Heaven’s high Architect all praise“ zu der Melodie von „Rule Britannia“ beschlossen wurde. Nach dem Exordium des Großen Sekretärs stand die Ode an die Freimaurerei, „Wake the lute and quiv’ring strings“ auf dem Programm. Die eigentliche Einweihungs-Zeremonie mit „solemn music“ auf der Orgel wurde dreimal wiederholt. Während der Zeremonie mussten alle Nicht-Mitglieder wie auch die Frauen den Raum verlassen. Danach folgte Fishers Anthem in A, “Behold, how good and joyful” mit dem Text aus Psalm 133, dem Gebet des Großen Kaplans, Händels Krönungs-Anthem “Zadok the Priest” und Fishers Ode, “What solemn sounds on holy Sinai rung”, bevor die Festgesellschaft in einer Prozession auszog.[140]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 83-84, sowie Anmerkungen im Anhang S. 95.

In den Logen gehörten Musiker, impresari und Musikhändler zu den größten Aktivisten.[141]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 78-79. Ebenso werden Musiker mit Freimaurerei in Verbindung gebracht, deren Zugehörigkeit sich aber … Continue reading In vier Londoner Logen waren sie als Mitglied am häufigsten vertreten: in der Somerset House Lodge[142]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 79., in der Lodge of Antiquity[143]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 79-80. Vgl. zu “Lodge of Antiquity” auch: Rylands, W. H./Firebrace C. W.: Records of the Lodge … Continue reading, in der Lodge of the Nine Muses[144]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 80-81. Vgl. zu “Lodge of the Nine Muses” auch: An Account of the Lodge of the Nine Muses No. 235 … Continue reading und in der Pilgrim Lodge[145]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 81. Vgl. zu “Pilgrim” auch: O’Leary, N.: The History of Two Hundred Years of Pilgrim Lodge No. … Continue reading. Die Somerset House Lodge[146]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 79. Vgl. zu “Somerset House Lodge” auch: Oxford, A. W.: No. 4. An Introduction to the History of the … Continue reading hatte die einflussreichsten Musiker unter sich. Der Impresario von Covent Garden, John Abraham Fisher, gehörte ihr schon 1768 an. Nachdem die Loge ab 1778 Musiker zu Ehrenmitgliedern oder serving brethren ernannte und diese dadurch weder eine Eintrittsgebühr noch einen monatlichen Betrag leisteten, gehörten zahlreiche Musiker, viele impresari und Musikhändler zu den Mitgliedern. Dadurch besaß die Loge eine große Anzahl an Musikdrucken.[147]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 79.

Auch die Lodge of Antiquity[148]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 79-80. Vgl. zu “Lodge of Antiquity” auch: Rylands, W. H./Firebrace C. W.: Records of the Lodge … Continue reading hatte namhafte Musiker wie zum Beispiel Samuel Wesley, Samuel Webbe und Benjamin Henry Latrobe. Und während die Lodge of the Nine Muses[149]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 80-81. Vgl. zu “Lodge of the Nine Muses” auch: An Account of the Lodge of the Nine Muses No. 235 … Continue reading vor allem deutsche und italienische Musiker wie Luigi Borghi, Felice Giardini und auch Johann Christian Bach, Carl Friedrich Abel und Wilhelm Cramer zu ihren Mitgliedern zählten, waren in der einzigen deutschsprachigen Loge Londons, der Pilgrim Lodge[150]Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 81. Vgl. zu “Pilgrim” auch: O’Leary, N.: The History of Two Hundred Years of Pilgrim Lodge No. … Continue reading, nicht nur deutsche und österreichische Musiker, sondern auch andere Landsmänner im Stand eines Diplomaten, Stadthändlers oder Mitgliedes des königlichen Haushalts versammelt. Deutschsprachige Musiker in dieser Loge waren zum Beispiel Anton Kammell, Johann Peter Salomon und Christoph Papendiek.

Musik im kirchlichen Raum

Musik in den cathedrals und parish churches

Seit der Einführung des Anglikanismus wurde in den Kathedralen täglich ein Gottesdienst gefeiert.[151]Vgl. Long, Kenneth R.: The music of the English church. New York 1972. S. 39. Lieder wurden nicht nur von der Gemeinde, sondern auch von einem versierten, vierstimmigen cathedral choir gesungen. Der cathedral choir, bestehend aus vier bis sechzehn Knaben und den fünf bis zwölf erwachsenen Sängern, hatte seinen Platz im Chorgestühl der Chorraumes und zwar beidseitig sowohl an der Nordseite („cantoris“) und als auch an der Südseite („decani“).[152]Vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 23. Bis heute werden die Chorwerke meist doppelchörig komponiert, während Psalme in toto vom cathedral choirs vorgetragen werden.[153]Vgl. Long, Music of English Church. S. 39. Instrumentale Ensembles können ebenfalls mitwirken, in der Regel aber ist die Orgel das einzige gottesdienstliche Instrument und übernimmt auch die Begleitung des Chors.[154]Vgl. Krieg, Gustav A.: Einführung in die anglikanische Kirchenmusik. Köln 2007. Long, The music of the English church. S. 23; Temperley, Nicholas: Music in Church. In: Robert Fiske (Hg.): Music in … Continue reading Die zu vertonenden Teile des Morning Prayer sind 1) Venite (Ps 95), 2) Te Deum oder Benedicite sowie 3) Benedictus (Lk 1,68) oder Jubilate Deo (Ps 100).[155]Vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 31. Für einen ausführlichen Ablauf des Morning Service vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 19. Während des Communion Service[156]Für einen ausführlichen Ablauf des Communion Service vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 19-20. sind es die Responsorien zu den 10 Geboten, Credo, Sanctus und Gloria und im Evening Prayer[157]Für einen ausführlichen Ablauf des Evening Service vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 20. das Magnificat und Nunc dimittis.[158]Vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 31. Nachdem es seit dem 19. Jahrhundert den Morning Service nicht mehr täglich gab und die Chorbeteiligung während der Hauptmesse stark eingeschränkt wurde, wandten sich die Komponisten dem Evening Prayer zu.[159]Vgl. Ebd. S. 31. Eine vollständige Bibel, Credo, Vaterunser und die zehn Gebote sowie die Schriftlesung sollten in der Landessprache gehalten bzw. verfasst werden, vgl. Long, Music of English … Continue reading Das Book of Common Prayer gab die Ordnung des anglikanischen Gottesdienstes vor.[160]Vgl. Long, Music of English Church. S. 20; Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 15. Für weiterführende Informationen zum Book of Common Prayer siehe Long, Music of English Church. S. 22-25. Die Bedeutung der Kirchen als Arbeitgeber für Musiker verblasste während des 18. Jahrhunderts merklich.[161] Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 67. Mitte des 18. Jahrhunderts setzten Männer wie John und Charles Wesley, John Berridge, George Whitefield, John Fletcher, Henry Venn, der Countess of Huntingdon als Evangelical Revival gegen Verweltlichung der Kirche und der Gesellschaft und setzten hierbei auf methodistisch-pietistische Methoden: persönliche Gespräche, Heil durch das Bibelstudium, strikte Selbstdisziplin und das geistliche Lied.[162]Vgl. Long, Music of English Church. S. 317-318; sowie Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 81-82. Diese neuen geistlichen Lieder charakterisierten Melodien in Tonschritten. So waren die Lieder für weniger Musikalische leichter vom Blatt zu singen, aber auch nicht zu monoton für versiertere Sänger.[163]Vgl. Rohr, The Caareers of British Muscicians. S. 9. Leider zogen viele Bischöfe ihrer liturgischen und seelsorgerischen Residenzpflicht ein Leben voller Luxus weltlichen Genüssen vor. Viele sahen die Kirchenmusik als Verschwendung ihres Geldes an und verkleinerten die Cathedral Choirs so stark, dass dieses kaum noch ihre Funktion erfüllen konnten. Am stärksten betroffen war der Chor von St. Paul’s, der von 42 Sängern auf sechs reduziert wurde. 1849 fasste Sebastian Wesley zusammen: “No cathedral in this country possesses, at this day, a musical force competent to embody and give effect to the evident intentions of the Church with regard to music.[164]Vgl. Long, Music of English Church. S. 317-322. Zit nach: Long, Music of English Church. S. 322.

In den ländlichen Gemeinden bestand die Kirchenmusik[165]Die Erforschung der provinziellen Kirchenmusik oder psalmody wird durch eine schlechte Überlieferungslage gehemmt. Auf Grund der dezentralisierten unstrukturierten Organisation gab es keine … Continue reading zum größten Teil aus einfachen unisono-Gesängen mit gut merkbaren Melodieverläufen ohne schwer singbare hohe und tiefe Töne.[166]Vgl. Long, Music of English Church. S. 37-38, 325; Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 23. In der Regel[167]Vgl. Long, Music of English Church. S. 325: Die Bräuche variierten. wurden Credo, Vater Unser und Glaubensbekenntnis gesprochen[168]Vgl. Ebd. S. 37. und die prose psalms, Lobgesänge und Responsorien metrisch rezitiert, da die Melodien im Book of Common Prayer rhythmisch zu anspruchsvoll waren. In den meisten Kirchen fehlte eine Orgel.[169]Vgl. Long, Music of English Church. S. 37, 325; Drage, A Reappraisal of Provincial Church Music. S. 173-183. Die meisten Gemeinden unterhielten einen Kirchenchor aus Laiensängern,[170]Vgl. Long, Music of English Church. S. 325. die in zeitgenössischen Berichten für ihre Unmusikalität gerügt wurden.[171]Vgl. Drage, Sally: A Reappraisal of Provincial Church Music. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. S. 174. Wie in den Städten erreichte auch die Gottesdienstpflege auf dem Land während des 18. Jahrhunderts ihren Tiefpunkt: Auch hier nahmen nur noch wenige Kleriker ihre kirchlichen Aufgaben wahr.[172]Vgl. Drage, A Reappraisal of Provincial Church Music. S. 173. Von Vetternwirtschaft, und dem “Zeitvertreib mit Jagen und Schießen” wird berichtet. Nur 40% hielten sonntags einen Gottesdienst in ihrer Gemeinde. So wurde in vielen Gemeinden die heilige Kommunion oft nur noch vierteljährlich ausgeteilt. Manche parish churches wurden so selten genutzt, dass sie zunehmend verschimmelten und baufällig wurden. Aber auch dort, wo sonntags weiterhin Gottesdienst gehalten wurde, wurde dieser als langweilig empfunden.[173]Vgl. Long, Music of English Church. S. 317. Doch um den Jahrhundertwechsel von 1800 erlebten manche Landgemeinden einen musikalischen Aufschwung: Es wurden Lieder, die der neuen, zeitgenössischen Kompositions- und Harmonielehre entsprachen, komponiert, kopiert und verbreitet.[174]Vgl. Caldwell, London. S. 44. Anthems[175]Der englische Begriff anthem wird hier benutzt um ihn von dem Terminus hymn/Hymnus abzugrenzen, da im Deutschen sowohl hymn als auch anthem gleichermaßen mit „Hymne“ übersetzt wird. Ein Anthem … Continue reading, Gottesdienst-Gesänge und Hymnen wurden mehr und mehr in den Verlauf der Gottesdienste in den ländlichen Gemeinden aufgenommen.[176]Vgl. Drage, A Reappraisal of Provincial Church Music. S. 172. Die Zahl der Kirchen mit einer Orgel stieg innerhalb des gesamten 18. Jahrhunderts von 30% auf 80%.[177]Vgl. Temperley, Music in Church. S. 380. Dennoch ermöglichte es erst das Church Building Act von 1818 den meisten provincial churches, sich ein Harmonium oder eine Pfeifenorgel anzuschaffen.[178]Vgl. Searle, London. Sp. 1458. Neben den von der Gemeinde gesungenen Liedern wurde auch das Repertoire von Kirchenchören modernisiert. Unterstützend wurden die Chöre seit Ende des 18. Jahrhunderts von umherreisenden Gesangslehrern für eine kurze Zeit geleitet und in den neuesten psalmodies unterrichtet. Das Repertoire wurde von den Gesangslehrern kopiert und untereinander ausgetauscht.[179]Vgl. Drage, Sally: A Reappraisal of Provincial Church Music. S. 176. Da es aber weiterhin keine dauerhaften Chorleiter und ausgebildete Organisten gab, änderte sich für einen Großteil der parish churches bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum etwas.[180]Vgl. Long, Music of English Church. S. 326.

Embassy chapels

Bis 1791 war die öffentliche Gottesverehrung für Katholiken gesetzlich verboten.[181]Vgl. Temperley, Music in Church. S. 357; Olleson, Philip: The London Roman Catholic Embassy Chapels and their Music in the Eighteenth Centuries. S. 101. Die embassy chapels, die Kapellen jener Botschaften aus katholisch geprägten Ländern waren lange Zeit die einzigen Orte in London, wo eine katholische Messe gefeiert wurde. Hier, im geschützten Raum eines Botschaftsgeländes, konnte der katholische Glaube ohne Furcht vor Verfolgung ausgeübt werden. Diese Kirchen waren daher nicht nur für die Botschaftsangehörigen offen, sondern für alle Bürger Londons bzw. Englands. Erst durch die Catholic Relief Acts von 1778 und 1791 wurden die meisten der Strafgesetze gegen Katholiken widerrufen und die letzten verbleibenden Verbote schließlich 1829 durch das Catholic Emancipation Act aufgehoben, womit die embassy chapels ihre einzigartige Stellung mit der Zeit verloren. Nachdem es wieder öffentliche katholische Kirchen gab wurden sie zu “anachronistischen Relikten” der vergangenen Zeit. Die drei größten embassy chapels waren in den Botschaften von Portugal, seit 1747 in 74, South Audley Street, von Bayern, seit 1788 in der Warwick Street, und von Sardinien in der Duke Street (heute: Sardinian Street), Lincoln’s Inn Field.[182]Vgl. Olleson, Philip: The London Roman Catholic Embassy Chapels and their Music in the Eighteenth Centuries. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. S S. … Continue reading Anhaltspunkte für das musikalische Repertoire der embassy chapels erhalten wir beispielsweise von Carl Barbandt, der zeitweise Organist an der bayrischen embassy chapel war. Über seine Sammlung „Sacred Hymns, Anthems[183]Zu Anthems vgl. Temperley, Music in Church. S. 363-377., and Versicles“ von 1766 schrieb Vincent Novello knapp 60 Jahre später in einer anonymen Rezension im „Quartely Musical Magazine und Review“, sie wäre „the first attempt to introduce a deviation“ von der Gregorianik“.[184]Zit. nach: Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 107. Vgl. Novello, Vincent: The Evening“ Service. In: Quartely Musical Magazine und Review (1823). S. 205. Zuvor wurden in den embassy chapels nur gregorianische Choräle gesungen. Barbandts neue Kompositionen war die erste Abweichung von dieser Norm.[185]Vgl. Searle, London. S. 1459. Seine Sammlung besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil enthält  einfache, unkomplizierte Kompositionen für das Hochamt aller wichtigen Feste des Kirchenjahres und weiterhin neuvertont Domine salvum fac als Gebet für den König, Tantum ergo und Dies irae. Der zweite Teil besteht aus 55 Hymnen für Vesper und Komplet. Der Laienmusiker William Mawhood war in allen der drei vorgenannten embassy chapels in London als Organist und Chorsänger tätig war.[186]Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 108. Seine Tagebuchaufzeichnungen von Februar 1767 bis September 1790[187]Die Tagebücher von Mawhood sind teilweise abgedruckt und behandelt in: Reynolds, E. E. (Hg.): The Mawhood Diary. Selections from the Diary Note-Books of Publications. 50 Bände. London 1956. bieten detaillierteste Vorstellungen des musikalischen Repertoires über Datum, Ort und Liturgie dieser drei Kapellen.[188]Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 108-109. Mawhood erwähnte beispielsweise in den 1760er und den 1770ern zwei Messen von Samuel Webbe sen., zwei Messen von Thomas Augustine … Continue reading An der bayrischen Kapelle war spätestens ab Mitte der 1760er Samuel Webbe sen., Barbandts Assistent, die wichtigste Person der katholischen Kirchenmusik in England. Im Oktober 1775 beerbte er George Paxton als Organist der sardischen Kapelle und wirkte 1776 bis spätestens 1797 oder 1798 als Organist an der portugiesischen Kapelle, war aber weiterhin auch in der bayrischen Kapelle tätig. Damit besaß er in den drei wichtigsten embassy chapels jener Zeit die Kontrolle über die musikalische Organisation.[189]Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 111. Von der Nachfolge Paxtons berichtet Mawhood am 26. Oktober 1775 in seinem Tagebuch. Ein Rezensent schrieb in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im „Quartely Musical Magazine und Review“ zu Webbes Messen, sie hätten universellen Charakter erreicht und bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Beliebtheit nicht verloren. In der sardischen Kapelle gab Webbe freitags kostenlosen Unterricht in Kirchenmusik. Unter seinen Schülern befanden sich auch Samuel Wesley und Vincent Novello, die später in den embassy chapels einen ähnlich großen Einfluss hatte wie er. Samuel Wesley schrieb hauptsächlich Motetten, Kirchenlieder und Psalmodien und arbeitete spätestens seit September 1778 an den embassy chapels. Vincent Novello fertigte seit November 1780 Kompositionen für den römischen Liturgieritus an und sang im Chor der sardischen und portugiesischen Kapelle. Dort kam er mit Webbe sen. in Kontakt und freundete sich mit seinem Sohn, Samuel Webbe jun., an. Kurze Zeit später wurde er Assistent des Organisten der sardischen Kapelle. Auch seine Kompositionen (u.a. A Collection of Sacred Music, 1811 und 1825) wurden Hauptbestandteil der Liturgie der embassy chapels. Sowohl Novello als auch Wesley wirkten während der Blütezeit der katholischen Kirchenmusik in England zwischen dem zweiten Catholic Relief Act 1791 und der Schließung der portugiesischen embassy chapel 1824. Wesley komponierte in dieser Zeit sein beliebtestes Werk „In exitu Israel“ (1810)[190] Vgl. Olleson,: The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 109-114. und Novello veröffentlichte mit seiner zweibändigen „A Collection of Sacred Music as performed at the Royal Portugese Chapel in London“ (1811) den Beweis für sein Kompositionsschaffen in der portugiesischen Kapelle.[191]Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 114. Zitat ohne bibliographischen Hinweis. Zugunsten der variety finden sich in dieser Samlung auch Arragements von Werken anderer … Continue reading Auch der rege Briefwechsel zwischen Mai 1811 und Dezember 1825 zwischen Novello und Wesley enthält viele Informationen über das Musikleben und Repertoire der embassy chapels im beginnenden 19. Jahrhundert: über Musik, die aufgeführt werden soll, Berichte über Folgen des Gottesdienstes, die Wesley während Novellos Abwesenheit durchführte, Wesleys Kommentare über die Kapläne und andere Dinge, die die Kapellen betrafen.[192]Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 115. Für eine Edition des Briefwechsels siehe Olleson, Philip (Hg.): The Letters of Samuel Wesley. Professional and Social Correspondance … Continue reading Bemerkenswert ist, dass sich während dieser Blütezeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts die embassy chapels auch im anglikanischen Umfeld als Ort für vorzügliche Musikdarbietungen etablierten. So war die bayrische embassy chapels als “the shilling opera” bekannt, da Sänger von King’s Theatre hier als Solisten im Gottesdienst auftraten.[193]Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 117. Novellos älteste Tochter Mary schrieb in ihrer Biographie über ihren Vater: „It became a fashion to hear the service at the Portuguese chapel; and South Street, on a Sunday, was thronged with carriages waiting outside, while their owners crowded to suffocation the small, taper-lighted space within”.[194]Zit. nach: Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 117. Vgl. Clarke: The Life and Labours of Vincent Novello. S. 4.

Schluss

Das englische Musikwesen im Georgian Age war in allen Bereichen vom Wandel der Zeit begriffen. Die von den Werken Händels und der opera seria begeisterte Oberschicht bekam ihren Wunsch nach variety und novelty gestillt, indem bereits bekannte und beliebte Musikwerke durch ihren Inhalt verändert wurden und selten noch dem Originalwerk entsprachen. Der Opernbesuch stillte zudem ihr Begehren nach Darstellung und Sich-in-Szene-setzen. Über viele Jahre hinweg bildete die Oper eine beinahe familiäre Vertrautheit, bis mehrere Faktoren diese im Verlauf weniger Jahrzehnte auflösten. Die auflösenden Faktoren bedingten sich einander: Nach der Vergrößerung des Auditoriums der Londoner Opernhäuser frequentierten auch kontinuierlich mehr Personen aus der middle class als Zuschauer zu Opernveranstaltungen. Sie waren durch die industrielle Revolution reich an Geld und Einfluss geworden und konnten sich oftmals auch für eine ganze Saison an Operndarbietungen einschreiben, subskribieren. Oder ein Mäzen spendierte ihnen einen Sitzplatz in der Loge, der vormals im Besitz eines Adeligen war. Die reichen Kapitalbesitzer besaßen oftmals mehr als ein verarmter Adeliger. Für die bisherigen Zuschauer der Oberschicht schwand mit der Vergrößerung des Zuschauerraumes und den vielen neuen Personen das bisherige Erlebnis des Opernbesuches: Man kannte immer weniger der Personen und konnte auch nicht mehr alle sehen. Darüber hinaus konnten sie sich mit der neuen Art von Oper, der opera buffa, nicht identifizieren – im Gegenteil zu den middle classes.

Jener Teil dieser middle classes, der reich an Bildung war und sich für Kunst interessierte, fand man selten unter den Opernbesucher. Sie spielten vielmehr Opern am heimischen Klavier und anderen Musikinstrumenten nach und knüpften Verbindungen zu Gleichgesinnten. Über diese Verbindungen war ein Opernbesuch möglich, jedoch nicht häufig. Doch oftmals gewann die Familie an Ansehen und Einfluss durch eine gute musikalische Ausbildung ihrer Töchter und damit ihre Verbindungen zur Oberschicht entwickelte.

Eine eigene Form der musikalischen, in sich eher geschlossenen Gruppen waren glee clubs und Freimaurerlogen.

Die Kirchenmusik ab dem endenden 18. Jahrhundert wurde im städtischen und ländlichen Bereich einer Reform unterzogen: Neu komponierte, leicht erlern- und singbare Lieder sollten der vorangeschrittenen Verweltlichung der anglikanischen Kirche entgegenwirken. Viele Geistliche kamen ihrer seelsorgerischen Pflicht nicht mehr nach und verweilten auf ihren Pfründen, anstatt Gottesdienst zu feiern. Ausgaben für neue Musik oder einen Chor waren für sie Verschwendung. Unter diesem Betragen litt nicht nur die Kirchenmusik, sondern auch der Gottesdienstbesuch im aAllgemeinen. Durch die Reformen sollte der Gottesdienst und insbesondere die Kirchenmusik wieder aufgewertet werden.

Die katholischen embassy chapels waren bis zum Catholic Relief Act ein abgeschlossener Bereich.

Nach Aufhebung dieses Gesetzes wurden namhafte englische Komponisten als Organisten angestellt, die für diese Anstellung oftmals konvertierten. Sie komponierten für den Gottesdienst neue, dem zeitgenössischen Stil entsprechende Werke, die die bisherigen Gottesdienstmelodien zu einem größeren Teil ersetzten. Parallel zum Niedergang der anglikanischen Kirchenmusik wurde die reiche musikalische Entwicklung des Gottesdienstes der embassy chapels vermehrt auch von Anglikanern wahrgenommen.

Das blühende englische Musikwesen gab in den Veränderungen der öffentlichen Musikveranstaltungen wie ein Spiegel wider, wie sich die gesellschaftliche Zusammensetzung und die Bedeutung gesellschaftlicher Schichten änderte: Die Oberschicht verlor zum Teil ihren Einfluss und Ansehen zu Gunsten der aufstrebenden middle classes.

Literaturverzeichnis

  • Baer, Marc: Theatre and disorder in late Georgian London. Oxford 1992.
  • Blom, Eric: Musik in England. Hamburg [1948].
  • Budde, Gunilla: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Darmstadt 2009.
  • Caldwell, John: England. In: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Band 3S. Kassel ²1995. Sp. 27-73.
  • Carr, Bruce: Theatre Music: 1800-1834. In: Nicholas Temperley/Charles G. Manns (Hgg.): The Romantic Age. The Blackwell History of Music in Britain. Band 5.
  • Dahlhaus, Carl: Brahms und die Idee der Kammermusik. In: Neue Zeitschrift für Musik. Mainz 1973. S. 559-563.
  • Darby, Rosemarie: The Music of the Roman Catholic Embassy Chapels in London 1765 to 1825. Manchester 1984.
  • Drage, Sally: A Reappraisal of Provincial Church Music. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. 172-190.
  • Eibach, Joachim: Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das öffentliche im Privaten, 2008. In: Themenportal Europäische Geschichte. (Letzter Zugriff: 29.07.2021).
  • Faulstich, Werner: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700-1830). Göttingen 2002 (= Geschichte der Medien).
  • Fiske, Roger: Concert Music II [in 1760 – 1800]. In: Henry D. Johnstone/Robert Fiske (Hgg.): The Eighteenth Century. The Blackwell History of Music in Britain. Band 4. Oxford 1990. S. 205-260.
  • Fiske, Roger: English Theatre Music in the Eighteenth Century. London 1973.
  • Fiske, Roger: Music in Society. In: Henry D. Johnstone/Robert Fiske (Hgg.): The Eighteenth Century. The Blackwell History of Music in Britain. Band 4. Oxford 1990. S. 3-27.
  • Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990.
  • Hall-Witt, Jennifer: Fashionable Acts. Opera and Elite Culture in London 1780-1880. Durham 2007.
  • Haskins, Robert: Theatre Music II [in 1760 – 1800]. In: Henry D. Johnstone/Robert Fiske (Hgg.): The Eighteenth Century. The Blackwell History of Music in Britain. Band 4. Oxford 1990. S. 261-312.
  • Holman, Peter: Eighteenth-Century English Music. Past, Present, Future. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. 1-13.
  • Hurd, Michael: Glees, Madrigals, and Partsongs. In: Nicholas Temperley/Charles G. Manns (Hgg.): The Romantic Age. The Blackwell History of Music in Britain. Band 5. Oxford 1988. S. 242-265.
  • Jungmann, Irmgard: Sozialgeschichte der klassischen Musik. Bildungsbürgerliche Musikanschauung im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2008.
  • Kendall, Alan: Gioacchino Rossini. The Relunctant Hero. London 1992.
  • Krieg, Gustav A.: Einführung in die anglikanische Kirchenmusik. Köln 2007. Long, Kenneth R.: The music of the English church. New York 1972.
  • Long, Kenneth R.: The music of the English church. New York 1972.
  • McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. 72-100.
  • Mohn, Barbara: Das englische Oratorium im 19. Jahrhundert. Quellen, Traditionen, Paderborn (.a.) 2000 (= Beiträge zur Kirchenmusik 9).
  • Nicoll, Allardyce: A history of early eighteenth century drama 1700-1750. Cambridge 1925.
  • Olleson, Philip (Hg.): The Letters of Samuel Wesley. Professional and Social Correspondance 1797-1837. Oxford 2001.
  • Olleson, Philip: The London Roman Catholic Embassy Chapels and their Music in the Eighteenth Centuries. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. 101-118.
  • Perkin, Harold: The Origins of Modern English Society 1780-1880. London 1969.
  • Petrat, Nicolai: Hausmusik des Biedermeier im Blickpunkt der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse (1815-1848). Hamburg 1986. (=Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft 31)
  • Philip, Robert: London. In: Stanley Sadie (Hg.): New Grove Dictionary of Music and Musicians. Band 15. London ²2001. S. 91-167.
  • Range, Matthias: William Boyce’ Anthem for the Wedding of King George III. In: Musical Times 147 (2006). S. 59-66.
  • Reimer, Erich: Hausmusik. In: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, 5. Auslieferung). Mainz 1977.
  • Rohr, Deborah: The Caareers of British Muscicians. A Profession of Artisans. Cambridge 2001.
  • Sadie, Stanley: Music in the Home II [in 1760 – 1800]. In: Henry D. Johnstone/Robert Fiske (Hgg.): The Eighteenth Century. The Blackwell History of Music in Britain. Band 4. Oxford 1990. S. 313-354.
  • Searle, Arthur: London. In: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Band 5S. Kassel ²1996. Sp. 1455-1475.
  • Temperley, Nicholas: Music in Chur In: Robert Fiske (Hg.): Music in Britain. The Eighteenth Century. Oxford 1990. S. 357-396.
  • Weber, William: Did People Listen in the 18th Century? In: Early Music 25 (1997). S. 678-681.
  • Willaert, Saskia: Italian Opera at the King’s Theatre in the 1760. The Role of the Buffi. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. 17-35.
  • Wood, Gillen D’Arcy: Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. Virtue and virtuosity. New York 2010.
  • Woodfield, Ian: Opera and drama in eighteenth-century London. The King’s Theatre, Garrick and the business of performance. Cambridge 2001. (= Cambrige studies in opera)
  • Zöllner, Eva: English Oratorio after Handel. The London Oratorio Series and its Repertory 1760 – 1800. Marburg 2002.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Zum blühenden Londoner Konzertleben vor allem: 1) Philip, Robert: London. In: Stanley Sadie (Hg.): New Grove Dictionary of Music and Musicians. Band 15. London ²2001. 2) Holman, Peter: Eighteenth-Century English Music. Past, Present, Future. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. 3) Fiske, Roger: Concert Music II [in 1760 – 1800]. In: Henry D. Johnstone/Robert Fiske (Hgg.): The Eighteenth Century. The Blackwell History of Music in Britain. Band 4. Oxford 1990.
2 Zum Wandel der englischen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert vgl. Perkin, Harold: The Origins of Modern English Society 1780-1880. London 1969.
3 Vgl. Blom, Eric: Musik in England. Hamburg [1948]. S. 208.
4 Vgl. Ebd S. 234.
5 Vgl. Ebd. S. 208.
6 Vgl. Range, Matthias: William Boyce’ Anthem for the Wedding of King George III. In: Musical Times 147 (2006). S. 59-62, insbesondere S. 60.
7 Vgl. Blom, Musik in England. S. 230.
8 Vgl. Ebd. S. 230.
9 Vgl. Ebd. S. 256.
10 Vgl. Ebd. S. 234.
11 Vgl. Searle, London. Sp. 1467.
12 Vgl. Holman, Eighteenth-Century English Music. S. 4.
13 Vgl. Carr, Bruce: Theatre Music: 1800-1834. In: Nicholas Temperley/Charles G. Manns (Hgg.): The Romantic Age. The Blackwell History of Music in Britain. Band 5. Oxford 1988. S. 288.
14 Vgl. Carr, Theatre Music. S. 288.
15 Vgl. Fiske, Roger: English Theatre Music in the Eighteenth Century. London 1973. S. 259. Dazu gehörten Ballette, Pantomime, Sage, Zauberei o. ä.
16 Vgl. Carr, Theatre Music. S. 289.
17 Vgl. Searle, London. Sp.1461; Caldwell, England. S. 48.
18 Vgl. Carr, Theatre Music. S. 289; Faulstich, Werner: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700-1830). Göttingen 2002 (= Geschichte der Medien). S. 253-254.
19 Vgl. Caldwell, England. Sp. 50; Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 17.
20 Vgl. Faulstich, Bürgerliche Mediengesellschaft. S. 254.
21 Vgl. Carr, Theatre Music. S. 289; Fiske, English Theatre. S. 256.
22, 71 Vgl. Fiske, English Theatre. S. 256.
23 Vgl. Ebd. S. 259.
24 Vgl. Wood, Gillen D’Arcy: Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. Virtue and virtuosity. New York 2010. S. 56.
25 Zum patronage-System in der englischen Gesellschaft vgl. Perkin, The Origins of Modern English Society. S. 32-46.
26 Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 57.
27 Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 56; Rohr, Deborah: The Caareers of British Musicians. A Profession of Artisans. Cambridge 2001. S. 37; Fiske, Roger: Music in Society. In: Henry D. Johnstone/Robert Fiske (Hgg.): The Eighteenth Century. The Blackwell History of Music in Britain. Band 4. Oxford 1990. S. 10.
28 Zit. nach: Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 56.
29 Gründungsmitglieder waren Georg Friedrich Händel, Friedrich Wiedemann und Michael Festing.
30 Zu den großen Unterschieden der Bezahlung vgl. Blom, Musik in England. Hamburg. S. 194; Wood, Romanticism and music culture in Britain. S. 130; Hall-Witt, Jennifer: Fashionable Acts. Opera and Elite Culture in London 1780-1880. Durham 2007. S. 40; Woodfield, Ian: Opera and drama in eighteenth-century London. The King’s Theatre, Garrick and the business of performance. Cambridge 2001. (= Cambrige studies in opera) S. 199, 207. Die Hauptdarsteller der opera seria verdienten dabei teilweise doppelt so viel wie opera buffa-Hauptdarsteller.
31 Vgl. Woodfield, Opera and drama , S. 207; Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 40; Fiske, English Theatre. S. 261.
32 Beginnend am Freitag nach Aschermittwoch.
33 Vgl. Zöllner, Eva: English Oratorio after Handel. The London Oratorio Series and its Repertory 1760 – 1800. Marburg 2002. S. 7, 19, 21; Mohn, Barbara: Das englische Oratorium im 19. Jahrhundert. Quellen, Traditionen, Entwicklungen. Paderborn (.a.) 2000 (= Beiträge zur Kirchenmusik 9).S. 19-21, 23; Fiske, Concert Music II. S. 211. Für den Erlass siehe Nicoll, Allardyce: A history of early eighteenth century drama 1700-1750. Cambridge 1925.S. 19.
34 Vgl. Mohn, Das englische Oratorium. S. 23.
35 Vgl. Zöllner, English Oratorio after Handel. S. 29.
36 Der impresario wiederum kümmerte sich im 18. Jahrhundert um die Verpflichtung der Musiker, war aber auch für die Wirtschaftlichkeit des Gebäudes und des Spielbetriebs verantwortlich.
37 Vgl. Zöllner, English Oratorio after Handel. S. 20.
38 Vgl. Ebd. S. 44.
39 Vgl. Ebd. S. 31, 48, 55.
40 Vgl. Ebd. S. 17, 46.
41 Vgl. Ebd. S. 47.
42 Vgl. Ebd. S. 17.
43 1 guinea entsprach 10s 6d.
44 Vgl. Zöllner, English Oratorio after Handel. S. 43-44, 55.
45 Vgl. Ebd. S. 48, 59, 61-64.
46 Vgl. Ebd. S. 56-58.
47 Vgl. Ebd. S 59, 64-65.
48 Vgl. Ebd. S. 59.
49 Vgl. Ebd. S. 65.
50 Vgl. Holman, Eighteenth-Century English Music. S. 6; Zöllner, English Oratorio after Handel. S. IX [Preface]; Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 22, 24, 30.
51 Vgl. Mohn, Das englische Oratorium. S. 20; Zöllner, English Oratorio after Handel. S. 4-5, 8, 31, 66. Neben Gesangssolisten traten auch Instrumentalsolisten auf. Typische Solo-Instrumente waren Orgel, Violine, Oboe, Querflöte, Cello, Horn, Fagott und Klarinette.
52 Vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 31-43.
53 Vgl. Mohn, Das englische Oratorium. S. 20.
54 Um nicht wiederholend den Terminus „Opern und Oratorien“ zu verwenden, wird nachfolgend nur von der Oper geschrieben, jedoch immer auch die Oratorienaufführung gleichsam gemeint.
55 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 3.
56 Vgl. Ebd. S. 266.
57 Vgl. Ebd. S. 4, 18, 265.
58 Vgl. Ebd. S. 24.
59 Vgl. Ebd. S. 18.
60 Vgl. Ebd. S. 266-267.
61 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 266, 268.
62 Zit nach: Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 23. Aufschlussreich für das Verständnis des Verhaltens dieses “event-orientierten” Publikums ist auch: Weber, William: Did People Listen in the 18th Century? In: Early Music 25 (1997). S. 678-681.
63 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 24.
64 Vgl. Ebd. S. 40-43 Fiske, Music in Society. S. 14.
65 Vgl. Fiske, English Theatre. S. 258.
66 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 23.
67 Vgl. Ebd. S. 10, 35-39; Willaert, Italian Opera at the King’s Theatre, S. 21-28.
68 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 40.
69 Vgl. Ebd. S. 34.
70 Vgl. Ebd. S. 5.
72 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 17-18.
73 Vgl. Ebd. S. 4; Fiske, Music in Society. S. 14; Fiske, English Theatre. S. 256.
74 Vgl. Fiske, English Theatre. S. 257; Fiske, Music in Society. S. 14; Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 4.
75 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 4.
76, 78 Vgl. Ebd. S. 57.
77 Vgl. Ebd. S. 60.
79 Vgl. Ebd. S. 155.
80, 89 Vgl. Ebd. S. 267.
81 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 116, 130, 267.
82 Vgl. Ebd. S. 271.
83 Vgl. Ebd. S. 7.
84 Vgl. Ebd. S. 148-155.
85 Der zerstörerischste riot mit einem Schaden von £ 2.000 ereignete sich am 3. Februar 1762 in Covent Garden allerdings nicht wegen einer Preiserhöhung, sondern weil es nach drittem Akt nicht den üblichen Preisnachlass um 50% gab. Nach dem Hauptstück oder vor dem letzten Akt des Hauptstückes gab es eine Pause, in der manche Zuschauer das Theater verlassen konnten, andere es für die Hälfte des Preises betreten durften. Vgl. hierzu: The Gentleman’s Magazine: The Restauration and the Eighteenth Century. Topics. A Day in Eighteenth-Century London. Texts and Contexts. Evening: Playhouses. Dieser riot ist auch in anderer Literatur kurz behandelt: Carr, Theatre Music. S. 289; Fiske, English Theatre. S. 256-257; aer, Marc: Theatre and disorder in late Georgian London. Oxford 1992. S. 18-23, 238.
86 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 271.
87 Vgl. Ebd. S. 116.
88 Vgl. Ebd. S. 25-26.
90 Vgl. Ebd. S. 3, 145, 155.
91 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 5
92 Vgl. Willaert, Saskia: Italian Opera at the King’s Theatre in the 1760. The Role of the Buffi. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. S. 17-20; Haskins, Robert: Theatre Music II [in 1760 – 1800]. In: Henry D. Johnstone/Robert Fiske (Hgg.): The Eighteenth Century. The Blackwell History of Music in Britain. Band 4. Oxford 1990. S. 263.
93 Vgl. Willaert, Italian Opera at the King’s Theatre in the 1760. S. 30-33.
94 Die Musikstücke waren entweder vom Kontinent importiert oder vom Hauskomponisten für dieses Theaterhaus komponiert worden.
95 Vgl. Willaert, Italian Opera at the King’s Theatre in the 1760. S. 21-23; Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 38.
96 Vgl. Willaert, Italian Opera at the King’s Theatre in the 1760. S. 25.
97 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 45.
98 Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 16; Sadie, Stanley: Music in the Home II [in 1760 – 1800]. In: Henry D. Johnstone/Robert Fiske (Hgg.): The Eighteenth Century. The Blackwell History of Music in Britain. Band 4. Oxford 1990. S. 313-314; Blom, Eric: Musik in England. S. 246-247.
99 Vgl. Caldwell, London. S. 35; Faulstich, Bürgerliche Mediengesellschaft. S. 294-298.
100 Vgl. Faulstich, Bürgerliche Mediengesellschaft. S. 299.
101 Vgl. Sadie, Music in the Home II. S. 314.
102 New Musical Magazine, 1783-[unbekannt], von James Harrison.
103 Pianoforte Magazine, 1799-1802, von James Harrison, Cluse & Co.
104 Vgl. Faulstich, Bürgerliche Mediengesellschaft. S. 296-299.
105 Vgl. Sadie, Music in the Home II. S. 323-351.
106 Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840.S. 4; Searle, London. S. 1473.
107 Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 53.
108 Vgl. Sadie, Music in the Home II. S. 336, 340, 343.
109 Vgl. Fiske, Music in Society. S. 4.
110 Vgl. Ebd. S. 8-9; Sadie, Music in the Home II. S. 324-327.
111 Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 162-163.
112 Vgl. Petrat, Nicolai: Hausmusik des Biedermeier im Blickpunkt der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse (1815-1848). Hamburg 1986. (=Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft 31) S. 99; Fiske, Music in Society. S. 5.
113 Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 17, 155-159; Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 44; Petrat, Hausmusik des Biedermeier, S. 98-99.
114 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts, S. 44. Zit. nach: Kendall, Alan: Gioacchino Rossini. The Relunctant Hero. London 1992. S. 124.
115 Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 166.
116 Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 65., 155, 160-162 Siehe zur Bezeichnung der jungen Frauen als Automaten auch das Kapitel 5 dieses Sammelband, den Aufsatz „Austen’s accomplishment” im gleichen Sammelband von Wood, S. 151-179.
117 Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 153-154.
118 Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 153-157.
119 Vgl. Reimer, Erich: Hausmusik. In: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, 5. Auslieferung). Mainz 1977; Eibach, Joachim: Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das öffentliche im Privaten, 2008. In: Themenportal Europäische Geschichte. (Letzter Zugriff: 29.07.2021).
120 Vgl. S. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990. S. 44-45; Schwindt, Nicole: Kammermusik. In: Ludwig Finscher (Hg.): Musik in Geschichte und Gegenwart 2S, Bd. 4. Sp. 1641.
121 Vgl. zu den adeligen und bürgerlichen Salons auch: Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840, S. 155-157; Petrat, Hausmusik des Biedermeier, S. 238-249.
122 Vgl. Wood. Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 152-166; Budde, Gunilla: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert. Darmstadt 2009. S. 62.
123 Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 179. Zit. nach: Pichot, Amédée: Historical and Literary Tour of a Foreigner in England and Scotland. 2. Bände. London 1825. Band I, S. 188.
124 Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840.  S. 201. Zit. nach: Reeve, Henry (Hg.): The Grenville Memoirs (Second part). A Journal of the Reign of Queen Victoria from 1837 to 1852 by the late Charles C. F. Grenville. 3 Bände. London 1885. Band I, S. 167-168.
125 Vgl. Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 6-7.
126 Vgl. Ebd. Fashionable Acts, S. 42, 54-55, 227. Dieser Grund wird von James Johnson jedoch abgelehnt.; siehe Hall-Witt, Fashionable Acts. S. 7.
127 Vgl. Ebd, S. 227.
128 Vgl. Dahlhaus, Carl: Brahms und die Idee der Kammermusik. In: Neue Zeitschrift für Musik. Mainz 1973. S. 563.
129 Vgl. Jungmann, Irmgard: Sozialgeschichte der klassischen Musik. Bildungsbürgerliche Musikanschauung im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2008. S. 24.
130 Vgl. besonders: Robins, Brian: The catch club in 18th-century England. In: Early Music 4 (2000). S. 517-529.
131 Vgl. Hurd, Michael: Glees, Madrigals, and Partsongs. In: Nicholas Temperley/Charles G. Manns (Hgg.): The Romantic Age. The Blackwell History of Music in Britain. Band 5. Oxford 1988. S. 243-246. Vgl. Langford, Englishness identified. Laut dessen Inhaltsverzeichnis gehören zu Englishness: energy (= industry, locomotion, physicality, melancholy, Gravity, Order, Practicality), candor (= plainness, openness, separateness, domesticity, honesty, humbug), decency (= barbarity, fair play, property, modesty), taciturnity (= silence, conversation, oratory, clubbability).
132, 134 Vgl. Hurd, Glees, Madrigals, and Partsons. S. 242.
133 Vgl. Blom, Musik in England. S. 210-211.
135 Vgl. Blom, Musik in England. S. 234.
136 Vgl. Hurd, Glees, Madrigals, and Partsons. S. 245-247.
137 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. S. 72-77. Liedtext: „Let faithful Masons’ healths go round, / in swelling [anschwellenden] cups all cares be drown’d [ertrunken], / And hearts united ‚mongst the Craft [Handwerk] be found / (…) My brethren, thus all cares resign [aufgeben], / Let your hearts glow [glüht] with thoughts divine, / And veneration [Bewunderung] show to Solomon’s shrine.“.
138 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 75-77.
139 „Lodge opened in the Third Degree in an adjacent Room, Procession entered the Lodge Room, and the usual ceremonies being observed, the Three Rulers were seated. A piece of music was then performed, and the 12 Assistants entered in procession and after repairing to their stations the Chapter was opened in solemn form. Brother Barker then rehearsed the Second Section. A piece of music was then performed by the instruments. Brother Preston then rehearsed the third Section. An Ode on Masonry was then sung by three voices. Brother Hill rehearsed the 4th Section, after which a piece of solemn music was performed. Bror. Brearley rehearsed the 5th Section, and the funeral procession was formed during which a solemn dirge was played and this ceremony concluded with a Grand Chorus. Bror. Berkley rehearsed the 6th Section, after which an anthem was sung. Bror. Preston then rehearsed the 7th Section, after which a song in honour of Masonry, accompanied by the instruments was sung. The Chapter was then closed with the usual solemnity, and the Rulers and twelve Assistants made the procession round the Lodge, and then withdrew to an adjacent Room, where the Master’s Lodge was closed in due form.“, zit. nach McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 82.
140 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 83-84, sowie Anmerkungen im Anhang S. 95.
141 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 78-79. Ebenso werden Musiker mit Freimaurerei in Verbindung gebracht, deren Zugehörigkeit sich aber nicht beweisen oder aber widerlegen lässt. Oft resultieren diese Gerüchte durch in Oper oder Oratorium verarbeitete Elemente, die dem Gedankengut der Freimaurer nahe stehen.
142, 147 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 79.
143 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 79-80. Vgl. zu “Lodge of Antiquity” auch: Rylands, W. H./Firebrace C. W.: Records of the Lodge Original No. 1 Now the Lodge of Antiquity, No. 2. London 1911-26.
144 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 80-81. Vgl. zu “Lodge of the Nine Muses” auch: An Account of the Lodge of the Nine Muses No. 235 from its foundation in 1777 to the Present Time. London 1940; und zum Mitglied Johann Christian Bach: Warburton, E.: Johann Christian Bach und die Freimaurer-Loge zu den Neun Musen in London. In: Bach-Jahrbuch 1978 (1992). S. 113-117.
145, 150 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 81. Vgl. zu “Pilgrim” auch: O’Leary, N.: The History of Two Hundred Years of Pilgrim Lodge No. 238. London 1979.
146 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 79. Vgl. zu “Somerset House Lodge” auch: Oxford, A. W.: No. 4. An Introduction to the History of the Royal Sommerset House and Inverness Lodge. London 1928.
148 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 79-80. Vgl. zu “Lodge of Antiquity” auch: Rylands, W. H./Firebrace C. W.: Records of the Lodge Original No. 1 Now the Lodge of Antiquity, No. 2. London 1911. S. 26.
149 Vgl. McVeigh, Simon: Freemasonry and Musical Life in London in the Late Eighteenth Century. S. 80-81. Vgl. zu “Lodge of the Nine Muses” auch: An Account of the Lodge of the Nine Muses No. 235 from its foundation in 1777 to the Present Time. London 1940; und zum Mitglied Johann Christian Bach: Warburton, E.: Johann Christian Bach und die Freimaurer-Loge zu den Neun Musen in London. In: Bach-Jahrbuch 1978 (1992). S. 113-17.
151 Vgl. Long, Kenneth R.: The music of the English church. New York 1972. S. 39.
152 Vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 23.
153 Vgl. Long, Music of English Church. S. 39.
154 Vgl. Krieg, Gustav A.: Einführung in die anglikanische Kirchenmusik. Köln 2007. Long, The music of the English church. S. 23; Temperley, Nicholas: Music in Church. In: Robert Fiske (Hg.): Music in Britain. The Eighteenth Century. Oxford 1990. S. 359.
155 Vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 31. Für einen ausführlichen Ablauf des Morning Service vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 19.
156 Für einen ausführlichen Ablauf des Communion Service vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 19-20.
157 Für einen ausführlichen Ablauf des Evening Service vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 20.
158 Vgl. Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 31.
159 Vgl. Ebd. S. 31. Eine vollständige Bibel, Credo, Vaterunser und die zehn Gebote sowie die Schriftlesung sollten in der Landessprache gehalten bzw. verfasst werden, vgl. Long, Music of English Church. S. 19-20.
160 Vgl. Long, Music of English Church. S. 20; Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 15. Für weiterführende Informationen zum Book of Common Prayer siehe Long, Music of English Church. S. 22-25.
161 Vgl. Wood, Romanticism and music culture in Britain 1770-1840. S. 67.
162 Vgl. Long, Music of English Church. S. 317-318; sowie Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 81-82.
163 Vgl. Rohr, The Caareers of British Muscicians. S. 9.
164 Vgl. Long, Music of English Church. S. 317-322. Zit nach: Long, Music of English Church. S. 322.
165 Die Erforschung der provinziellen Kirchenmusik oder psalmody wird durch eine schlechte Überlieferungslage gehemmt. Auf Grund der dezentralisierten unstrukturierten Organisation gab es keine regionale oder überregionale Archive für Musikwerke. Einen Vorstoß wagte Nicholas Temperley mit seiner zweibändigen Untersuchung „The Music of the English Parish Church“, für die er 756 englische psalmody-Bücher von 1700-1820 mit insgesamt 17.424 englischen und amerikanischen Strophenpsalmen und Hymnen auswertete. Siehe: Temperley, Nicholas: The Music of the English Parish Church. 2 Bände. Cambridge 1979.
166 Vgl. Long, Music of English Church. S. 37-38, 325; Krieg, Anglikanische Kirchenmusik. S. 23.
167 Vgl. Long, Music of English Church. S. 325: Die Bräuche variierten.
168 Vgl. Ebd. S. 37.
169 Vgl. Long, Music of English Church. S. 37, 325; Drage, A Reappraisal of Provincial Church Music. S. 173-183.
170 Vgl. Long, Music of English Church. S. 325.
171 Vgl. Drage, Sally: A Reappraisal of Provincial Church Music. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. S. 174.
172 Vgl. Drage, A Reappraisal of Provincial Church Music. S. 173.
173 Vgl. Long, Music of English Church. S. 317.
174 Vgl. Caldwell, London. S. 44.
175 Der englische Begriff anthem wird hier benutzt um ihn von dem Terminus hymn/Hymnus abzugrenzen, da im Deutschen sowohl hymn als auch anthem gleichermaßen mit „Hymne“ übersetzt wird. Ein Anthem ist im engeren Sinne aus den mehrstimmigen Antiphonen entstanden, die schon vor der Reformation an Festtagen sowohl zu bestimmten Gottesdiensten als auch zu anderen liturgischen Festlichkeiten außerhalb des Gottesdienstes aufgeführt wurden. Nach der Reformation wandelte es sich zum reformatorischen Gegenstück zur Motette, ist textlich an die theologischen Maßstäbe des Book of Common Prayer gebunden und musikalisch an das reformatorische Interesse an Wort-Verständlichkeit. Aber schon bald nach der Reformation wurde es musikalisch freier verwendet und gilt als Sinnbild für einen für Chor und Orgel arrangierten Satz. Auch die musikalische Form des Anthem ist nicht fest bestimmt.
176 Vgl. Drage, A Reappraisal of Provincial Church Music. S. 172.
177 Vgl. Temperley, Music in Church. S. 380.
178 Vgl. Searle, London. Sp. 1458.
179 Vgl. Drage, Sally: A Reappraisal of Provincial Church Music. S. 176.
180 Vgl. Long, Music of English Church. S. 326.
181 Vgl. Temperley, Music in Church. S. 357; Olleson, Philip: The London Roman Catholic Embassy Chapels and their Music in the Eighteenth Centuries. S. 101.
182 Vgl. Olleson, Philip: The London Roman Catholic Embassy Chapels and their Music in the Eighteenth Centuries. In: David Wyn Jones (Hg.): Music in Eighteenth Century Britain. Aldershot 2000. S S. 101-104. Für weiterführende Informationen vgl. Darby, Rosemarie: The Music of the Roman Catholic Embassy Chapels in London 1765 to 1825. Manchester 1984.
183 Zu Anthems vgl. Temperley, Music in Church. S. 363-377.
184 Zit. nach: Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 107. Vgl. Novello, Vincent: The Evening“ Service. In: Quartely Musical Magazine und Review (1823). S. 205.
185 Vgl. Searle, London. S. 1459.
186 Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 108.
187 Die Tagebücher von Mawhood sind teilweise abgedruckt und behandelt in: Reynolds, E. E. (Hg.): The Mawhood Diary. Selections from the Diary Note-Books of Publications. 50 Bände. London 1956.
188 Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 108-109. Mawhood erwähnte beispielsweise in den 1760er und den 1770ern zwei Messen von Samuel Webbe sen., zwei Messen von Thomas Augustine Arne als Organist der sardischen Kapelle, eine Messe von Stephen Paxton und eine Messe von Francesco Pasquale Ricci, die sich zum Teil in späteren Musiksammlungen wiederfinden lassen.
189 Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 111. Von der Nachfolge Paxtons berichtet Mawhood am 26. Oktober 1775 in seinem Tagebuch.
190 Vgl. Olleson,: The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 109-114.
191 Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 114. Zitat ohne bibliographischen Hinweis. Zugunsten der variety finden sich in dieser Samlung auch Arragements von Werken anderer Künstler.
192 Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 115. Für eine Edition des Briefwechsels siehe Olleson, Philip (Hg.): The Letters of Samuel Wesley. Professional and Social Correspondance 1797-1837. Oxford 2001.
193 Vgl. Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 117.
194 Zit. nach: Olleson, The London Roman Catholic Embassy Chapels. S. 117. Vgl. Clarke: The Life and Labours of Vincent Novello. S. 4.

Adoption und Eheschließungen als Machtfaktor im Prinzipat am Beispiel von Agrippina der Jüngeren und Nero

Diese Hausarbeit habe ich im Sommersemester 2011 im Seminar “Nero und das Ende der iulisch-claudischen Dynastie” bei Dr. Andreas Goltz (Geschichte, Uni Mainz) verfasst.

Einleitung

Agrippina die Jüngere[1]Agrippina die Jüngere wird im Folgenden nur mit ihrem praenomen genannt. Ihre Mutter, Agrippina die Ältere, wird dagegen immer mit dem Ephilet „die Ältere“ genannt. galt lange Zeit bis in das 20. Jahrhundert als skrupellose, machtbesessene Frau, die Morde beging, um sich und ihren Sohn Lucius Domitius Ahenobarbus, den späteren Kaiser Nero[2]Nero wird im Folgenden nur mit diesem Namensbestandteil genannt, wenngleich er bis zu seiner Adoption „Lucius Domitius Ahenobarbus“ hieß und durch die Adoption mit vollem Namen „Nero Claudius … Continue reading, in den Mittelpunkt des römischen Imperiums zu stellen. Diese einstimmig negativ konnotierte Sichtweise basiert auf der Rezeption der uns überlieferten Quellen, die von Agrippina der Jüngeren und Nero berichten. Es sind nur drei Quellen von drei Autoren überliefert, die über die Jugend Kaiser Neros berichten: Die „Annales“ von Tacitus aus dem frühen 2. Jahrhundert, die Biographien über Claudius und Nero von Sueton, die ein paar Jahre nach Tacitus‘ Werk erschienen, sowie die „Römische Geschichte“ des griechischen Historikers Cassius Dio aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts. Doch keiner der Autoren hat Nero persönlich erlebt. Allein Tacitus könnte Kindheitserinnerungen an die letzten Regierungsjahre Neros haben. Dieser starb als Tacitus zehn Jahre alt war. Daher basieren die Aussagen der genannten Autoren auf mündlichen Tradierungen, die durch spätere Rezeptionen beeinflusst wurden.[3]Sueton verstand sich als Schriftsteller und nicht als Historiker. Sein Anspruch war es nicht, möglichst realitätsgetreu die Person wiederzugeben, sondern unterhaltend zu schreiben. Mit Agrippina verbanden die Autoren den Stereotyp der skrupellosen Schönen.[4]Vgl. Barrett, Agrippina, S. XIV. Erst nach dem zweiten Weltkrieg begann die Forschung, Agrippina werturteilsfreier zu sehen und den Ehrgeiz und den Machthunger im zeitlichen und sozialen Kontext zu relativieren.

Die folgende Seminararbeit wird Agrippinas Beweggründe für eine Hochzeit mit princeps Claudius‘ und der anschließenden Adoption ihres Sohnes durch ihren dritten Ehemann Claudius anhand von Quellen darlegen, aber auch deren Objektivität zu hinterfragen. Hierzu wird im Hauptteil zunächst der Vorgang der Adoption in seinen Formen während der römischen Republik und des Imperiums dargestellt und kurz auf Agrippinas Leben bis zu ihrer Heirat mit princeps Claudius eingegangen. Schließlich wird die Adoption Neros anhand von Quellenzitaten und Forschungsliteratur beleuchtet.

Zur Stützung der angeführten Argumente in dieser Seminararbeit wird aktuelle Forschungsliteratur renommierter Autoren herangezogen. Eine besonders hilfreiche Stütze in der neueren Forschung um Agrippina der Jüngeren sind die Werke von Anthony Barrett und Gerhard H. Waldherr, die in ihren Biografien über Agrippina bzw. Nero eine objektivere Charakterisierung Agrippinas entwerfen.

Formen von Adoption in der Späten Römischen Republik und im Kaiserreich

Adoptionen waren in der römischen Antike ein häufiger Vorgang. Schon in der Gründungssage der Stadt Rom wird von der Adoption Romulus‘ und Remus‘ berichtet. Kinderlosigkeit und Elternlosigkeit waren so weit verbreitet, dass es hierfür einen gemeinsamen Begriff gab: orbitas.[5]Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 13; vgl. Ebenso: Corbier, Divorce and Adoption, S. 63. Die Adoption diente der Beendigung der orbitas.[6]Vgl. Corbier, Divorce and Adoption, S. 63. In der römischen Rechtsaufassung unterstand das Kind der väterlichen patria potestas, deren Voraussetzung der Besitz des römischen Bürgerrechts war. Diese war die rechtliche Voraussetzung, dass ein adoptierter Sohn später die Stellung seines Vaters übernehmen durfte. Personen ohne patria potestas durften auch keine Adoption vollziehen.[7]Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 14.

Man unterscheidet in der heutigen Forschung zwischen zwei Formen der Adoption während der römischen Republik und des Prinzipats: arrogatio[8]Auch adrogatio genannt. und adoptio.[9]Vgl. Salomies, Nomenclature, S. 5; vgl. ebenso: Kunst, römische Adoption, S. 13, sowie: Corbier, Divorce and Adoption, S. 63-64. Durch arrogatio wurden erwachsene Personen sui iuris und deren Familie als Ganzes durch den Adoptivvater in dessen Familie eingegliedert. Die Familie verlor damit ihre selbstständige Existenz und auch ihr Vermögen an den neuen pater familias.[10]Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 15-16. Zum Verfahren der arrogatio siehe Kunst, römische Adoption, S. 16-19. Adoptio war dagegen eine Angelegenheit zwischen zwei Familienvätern um die Adoption eines Kindes unter patria postestas und musste vor der Volksversammlung stattfinden.[11]Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 20-21. Auch das Verfahren der adoptio findet sich auf diesen Seiten. Beide Formen wurden bewusst einer rigiden sozialen Kontrolle unterworfen, indem sie in der Öffentlichkeit praktiziert und für jeden zugänglich dauerhaft festgehalten wurden.[12]Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 51; vgl. ebenso: Corbier, Divorce and Adoption, S. 63. Die Adoptierten wechselten in die agnatische Abstammung ihres Adoptivvaters und nahmen dessen nomen gentile an.[13]Vgl. Salomies, Nomenclature, S. 5-6; vgl. ebenso: Corbier, Divorce and Adoption, S. 48.

Zu den beiden typischen Adoptionsvarianten kam eine dritte Variante hinzu, die Adoption per Testament[14]Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 15., die häufigste Adoptions-Variante im Prinzipat.[15]Vgl. Salomies, Nomenclature, S. 53. Die Quellen unterscheiden nicht zwischen den drei Formen, sondern verwenden mit adopto, adoptare für alle die gleiche Terminologie. Dieser Vorgang war jedoch nach dem heutigen Verständnis keine Adoption, sondern eine Vererbung („heirominis ferendi condicio“), durch die der Adoptierte das Vermögen des Vererbers sowie dessen praenomen und oft auch dessen cognomen übernahm, aber sein ursprüngliches nomen gentile und seine filation behielt.[16]Vgl. Salomies, Nomenclature, S. 6 und Corbier, Divorce and Adoption, S. 64.

Jede der drei Adoptions-Arten war ein rein privatrechtlicher Akt, der aber je nach Umständen und Rang der ihn vollziehenden Personen politische Bedeutung gewann.[17]Vgl. Nesselhauf, Adoption des römischen Kaisers, S. 486. Die römischen principes nutzten die Adoption, um ihre Nachfolge, die sie gesetzesrechtlich nicht regeln konnten, faktisch entsprechend einer dynastischen Politik vorzubestimmen und das Eingreifen des Senates zu einer leeren Formalität zu machen.[18]Vgl. Nesselhauf, Adoption des römischen Kaisers, S. 482-483. Schon römische nobiles bedienten sich während der römischen Republik diesem Verfahren, um die Stellung und Machtposition der Familie … Continue reading Durch die Adoption ging die Hausmacht des princeps in vollem Umfang an dessen adoptierten Sohn über, sofern er als Nachfolger bestimmt war. Die Adoption der principes war keine gesetzliche, aber eine faktische Nachfolgesicherung zum Erhalt der Dynastie.[19]Vgl. Corbier, Divorce and Adoption, S. 48.

Das Leben Agrippinas der Jüngeren bis zu ihrer Hochzeit mit Kaiser Claudius

Der frühe Tod der Eltern und der Verlust ihres Status‘ als princeps-Tochter, dürfte auf Agrippinas Kindheit und späteres Leben größten Einfluss gehabt haben.[20]Vgl. Barrett, Agrippina, S. 24-32. Ausführliche Beschreibung über Agrippinas Geburt in Köln, ihrer ersten Reise nach Rom und ihrer ersten Jahre, Germanicus‘ Tod, die Huldigungsbestrebungen ihrer … Continue reading. Sie war vier Jahre alt, als ihr Vater Germanicus in Antiochia in der Provinz Syria aus ungeklärten Ursachen starb. Augustus hatte testamentarisch die Adoption Germanicus‘ durch Augustus‘ Nachfolger Tiberius festgesetzt, doch die Ehefrau des Germanicus‘, Agrippina die Ältere[21]Agrippina die Ältere wird in den Quellen mit den gleichen Charakterattibuten wie ihre Tochter versehen: egozentrisch, arrogant, sehr mutig, kompromisslos und willensstark. Vgl. Barrett, Agrippina, … Continue reading, war von einer Verschwörung des amtierenden princeps Tiberius überzeugt und dass dieser ihren Mann um sein Erbe als Nachfolge-princeps berauben wollte.[22]Vgl. Barrett, Agrippina, S. 22. Zu den Adoptionen der Iulier vgl. Bernoulli, Johann Jacob: Das julisch-claudische Kaiserhaus. Hildesheim 1969 (= Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1886). Vgl. ebenso: … Continue reading Sie brüskierte Tiberius mit politischen Äußerungen derart[23]Vgl. Waldherr, Nero. S. 18-19 und Barrett, Agrippina, S. 32-39., dass er sie aus Rom und später auf verschiedene Inseln verbannte, wo Agrippina die Ältere den Hungertod wählte. Zwei ihrer Söhne, Agrippinas beide ältesten Brüder, wurden wenige Jahre später auf zwei unterschiedliche Inseln verbannt und wählten dort ebenfalls den Selbstmord.[24]Vgl. Waldherr, Nero. S. 19-20.

So hatte Agrippina früh wegen politischer Machtspiele einen Teil der Familie verloren. Nach Tiberius‘ Tod und Wirren um dessen Nachfolger kam schließlich ihr jüngster und einzig verbliebener Bruder Gaius, genannt Caligula, an die die Macht als princeps. Warum die Prätorianergarde ihn und nicht gleich Germanicus Bruder Claudius zum princeps ernannten, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich ist es jedoch, dass Caligula als Sohn des durch Tiberius adoptierten Germanicus‘ die iulische Linie fortführte und man zudem davon überzeugt war, dass Eigenschaften vom Vater auf die Kinder übergehen und man Germanicus‘ Güte in Caligula erwartete.[25]Vgl. Barrett, Agrippina, S. 23. Germanicus erbte die Popularität seines Vaters Drusus und galt als mustergültiges Beispiel für einen stattlichen, mutigen und würdevollen Mann in vollem Besitz … Continue reading Tatsächlich galt princeps Caligula in seinen ersten Regierungsjahren als Musterbeispiel eines gerechten Kaisers[26]Vgl. Barrett, Agrippina, S. 52-53 und Waldherr, Nero. S. 21.Großzügigkeit, Harmoniestreben und Sorge für das Allgemeinwohl zeichneten ihn aus. Er veranlasste die Rehabilitierung seiner Mutter und … Continue reading bis er offenbar plötzlich Wahnvorstellungen bekam und selbst für seine nächsten Verwandten fremd und unberechenbar wurde.[27]Vgl. Waldherr, Nero. S. 23. Die Forschung geht von den Folgen einer Hirnhautentzündung aus, die diesen charakterlichen Wandel bei Caligula verursachten. Wegen eines angeblichen Verrats an ihm verbannte er unter anderem seine Schwestern Agrippina und Livilla auf zwei unterschiedliche Inseln.[28]Vgl. Waldherr, Nero. S. 28 und Barrett, Agrippina, S. 64. Agrippina war zu diesem Zeitpunkt bereits mit Gnaeus Domitius Ahenobarbus verheiratet und hatte einen gemeinsamen Sohn mit ihm: Nero.[29]Vgl. Barrett, Agrippina, S. 56 und Waldherr, Nero. S. 28. Nach Neros Geburt gebar Agrippina keine weiteren Kinder. Vielleicht, damit es keine Erbstreitigkeiten zwischen ihren Kindern geben sollte. Ein Jahr nach der Verbannung starb Agrippinas Mann Gnaeus und Caligula eignete sich den Familienbesitz seiner Schwester an.[30]Vgl. Waldherr, Nero. S. 28. Zu Gnaeus Verurteilung siehe Barrett, Agrippina, S. 49-50. Caligula starb aber bereits ein Jahr später. Als princeps folgte ihm Claudius. Dieser rief als Agrippinas Onkel väterlicherseits Agrippina und Livilla aus der Verbannung zurück und gab Agrippina sowohl das durch Caligula beschlagnahmte Vermögen wieder[31]Für eine ausführliche Charakterisierung Caligulas siehe Waldherr, Nero. S. 20-22 und 24-30., als auch den einflussreichen und vermögenden Konsul Gaius Sallustius Crispus Passienus zum Mann. Dieser starb bereits sechs bis sieben Jahre später, angeblich von Agrippina vergiftet.[32]Vgl. Waldherr, Nero. S. 31.

Die Hochzeit von princeps Claudius mit Agrippina und die Adoption Neros

Agrippina bekam nach ihrer Rückkehr aus dem Exil[33]Vgl. Barrett, Agrippina, S. 79. eine öffentliche Rolle in der Kaiserfamilie von Claudius und ließ keine Gelegenheit aus, ihren Sohn Nero in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Am wirksamsten gelang es ihr am Säkularfest des Jahres 47, an dem mit einem ludus Trojae dem 800. Geburtstages der Stadt Rom gedacht wurde: Der neunjährige Nero trat als Anführer der aristokratischen Jugend auf und erhielt deutlich mehr Beifall als der drei Jahre jüngere Sohn Claudius‘ namens Britannicus[34]Vgl. Waldherr, Nero. S. 31-32 und Barrett, Agrippina, S. 90., da das Publikum in Nero den letzten Nachkommen des charismatischen Germanicus‘ erkannte.[35]Vgl. Barrett, Agrippina, S. 97-98. Vgl. auch: Tac. ann. XI 11.2, XI 12,1 und Suet. Nero 7.1.

Nach der Hinrichtung seiner Frau Messalina wegen zahlreicher nachgesagter Liebes-Affären[36]Vgl. Waldherr, Nero. S. 32-34 und Barrett, Agrippina, S. 91-94. Vgl. auch: Tac. ann. XI 37,4-38.2, Suet. Claud. 26.2 und Dio LX 5 [Epitom nach Exc. Val. 225, Xiphilinos 143, 16-31 R. St., Zonaras … Continue reading wurde Claudius mit Agrippina, seiner Nichte verheiratet.[37]Vgl. Kierdorf, Claudius, S. 74. Die Quellen berichten einhellig, dass Agrippina ihre Vertrautheit genutzt hatte, um Claudius zu bezirzen.[38]Vgl. hierzu: Tac. Ann. XII 3.1, Dio 60.2.4, 6-7 und Dio LX 6 [Epitom: Xiphilinos 143,31-144,3 R. St.]. Doch vermutlich haben auch politisch-dynastische Überlegung bei der Wahl Agrippinas zur neuen Ehefrau Claudius‘ eine Rolle gespielt. Agrippina war als Tochter des Germanicus direkt mit Augustus verwandt, Claudius nicht, da er nicht von Tiberius adoptiert worden war. Durch die Heirat kamen das Erbe und Charisma des Germanicus‘ auf Claudius und es konnte vermieden werden, dass ein anderer Mann Agrippinas Abstammung für sich nutzte.[39]Vgl. Barrett, Agrippina, S. 96-97. Vgl. auch: Tac. Ann. XII.2.3 und Tac. ann. XII 25,1. Diese dynastische Verbindung kann man nicht überbewerten. Das Problem, dass die Ehe zwischen Claudius und Agrippina mit sich brachte, wurde mit der lex Vitellius gelöst: Das Gesetz erlaubte Onkel und Nichte die Hochzeit. Somit konnten Claudius und Agrippina im Jahre 49 heiraten.[40]Vgl. Eck, Agrippina, S. 38-39; Kierdorf, Claudius, S. 74; Waldherr, Nero. S. 37 und Barrett, Agrippina, S. 101. Die Quellen berichten folgendes: Tac. ann. XII 5.1-2, 6.3: C. Pompeio Q. Veranio … Continue reading Noch vor der Hochzeit war Ende 48 Nero mit Claudius‘ Tochter Octavia verlobt worden, obwohl diese bereits Lucius Iunius Silanus versprochen war.[41]Vgl. Waldherr, Nero. S. 42; Levick, Claudius, S. 71; Kierdorf, Claudius, S. 75 und Barrett, Agrippina, S. 98-99. Vgl. auch: Dio LX 31.8 [Epitom Zonaras 11,10, p. 31,15-32,4 D.], Tac. Ann. XII 3.2, … Continue reading

Obwohl Claudius bereits einen Sohn aus der Ehe mit Messalina hatte, adoptierte er Nero.[42]Vgl. Lindsay, Adoption, S. 201. Vgl. auch: Tac. ann. XII 25,2-26: His evictus triennio maiorem natu Domitium filio anteponit, habita apud senatum oratione eundem in quem a liberto acceperat modum. … Continue reading Am 25. Februar des Jahres 50[43]Vgl. Levick, Claudius, S. 71; Kierdorf, Claudius, S. 74; Barrett, Agrippina, S. 111. wurde aus Lucius Domitius Ahenobarbus nun Nero Claudius Drusus Germanicus.[44]Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 44; Levick, Claudius, S. 71 und Barrett, Agrippina, S. 111. Für weitere Einzelheiten zur Adoption Neros siehe auch: Kunst, römische Adoption, S. 50, 83; Nesselhauf, … Continue reading Zeitgenossen sahen die Adoption als Ergebnis der Machenschaften Agrippinas, doch die dynastischen Gründe dürften eine entscheidendere Rolle gespielt haben. Auch könnte Claudius befürchtet haben, Messalinas schlechter Charakter könnte auf Britannicus vererbt worden sein.[45]Vgl. Lindsay, Adoption, S. 201. Auf Messalina kann in dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden. Tacitus erwähnt zudem, dass Pallas mit Agrippina daran beteiligt war, Claudius von der Adoption zu überzeugen, während Eck jedoch vermutet, dass er nicht maßgeblich daran beteiligt war.[46]Vgl. Levick, Claudius, S. 72.

In der Forschung besteht Uneinigkeit, was die Variante der Adoption anbelangt. Während die sich meisten Autoren mit einer Einteilung zurückhalten, sieht Kunst in der Adoption Neros durch Claudius eine Testamentsadoption[47]Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 21., Prévost zählt sie zur arrogatio.[48]Vgl. Prévost, adoptions politques, S. 39.

Zeitgleich mit Neros Adoption erhielt Agrippina als erste Frau zu Lebzeiten des Gatten die Auszeichnung augusta[49]Vgl. Tac. Ann. XII 26,1: (…) Augetur et Agrippina cognomento Augustae; sowie: Dio LX 33.2a [Epitom Zonaras 11,10, p. 32, 22-23 D.]: Hierauf [Adoption] verlieh Claudius der Agrippina den Titel … Continue reading,nach Tacitus Beschreibung durch den Senat[50]Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 40., verliehen. Ihr vollständiger Name lautete nun „Iulia Agrippina Augusta“.[51]Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 41; Levick, Claudius, S. 71; Kierdorf, Claudius, S. 74; Waldherr, Nero. S. 52 und Barrett, Agrippina, S. 108-109. Dieser Titel macht sie aber nicht rechtlich zur Kaiserin.

Im Folgenden erhielt Nero im Jahre 51 zahlreiche Auszeichnungen, die ihn der Öffentlichkeit immer stärker als Nachfolger präsentierten. Dazu gehört die verfrühte Übergabe der toga virilis[52]Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 45; Kierdorf, Claudius, S. 74-75 und Waldherr, Nero. S. 49. Bradley beschreibt in seinem Kommentar zur Biographie Neros auf Seite 53, warum er Neros Alter bei der Übergabe … Continue reading, als Claudius anlässlich seines 60. Geburtstages das Konsulat übernahm[53]Vgl. Kierdorf, Claudius, S. 75 und Levick, Claudius, S. 72-73., wie auch die Ehrung als princeps iuventutis[54]Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 45; Waldherr, Nero. S. 50 und Barrett, Agrippina, S. 116. Vgl. auch: Dio LX 33.2c [Zonaras 11,10, p. 32,29 – 33,7 D.]: Als Nero – dieser Name setzte sich nämlich bei … Continue reading, als außerordentliches Mitglied in den Priesterkollegien[55]Vgl. Waldherr, Nero. S. 50; Eck, Agrippina, S. S. 45; Kierdorf, Claudius, S. 74-75 und Barrett, Agrippina, S. 116. und das imperium proconsulare.[56]Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 45; Kierdorf, Claudius, S. 74-75 und Waldherr, Nero. S. 51.

Agrippina genoss auch im Folgenden ihre Machtstellung und nutzt ihre Vorstellung so intensiv, dass sie Nero lästig wurde und sie Nero ihre Jahre 59 durch einen Dolchstoß umbrachte.

Schluss

Wäre Agrippina männlichen Geschlechts gewesen, hätten die Quellen vielleicht ein anderes Bild von ihr gezeichnet. Mit ihren Eigenschaften hätte sie als Mann sicherlich hohe Ämter erreichen können. Als gebildete Frau, die zudem noch machtinteressiert war, entsprach sie aber nicht dem Frauenbild der Zeitgenossen. Sie wird eher nach den politischen Auswirkungen ihres Tuns bewertet, als nach den Gründen und Gegebenheiten, die sie hierzu veranlassten. Dabei kann man ihr Wirken durchaus als Bemühung um die Kontinuität des iulische-claudischen Herrscherhauses sehen, als logische Auswirkungen des dynastischen Geistes, in dem sie erzogen wurde. Nach dem Tod ihrer beiden älteren Brüder war sie durch ihre Stellung in die Lage gekommen, die frühere iulisch-claudische Machtposition wieder zu restaurieren. Da mag auch die eine oder andere Rachemaßnahme und Vergeltungsgedanken für die erlittene schwere Kindheit mitgespielt haben, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Mächtigen und deren Willkür.

Ich schließe mich Waldherrs Vermutung an, dass für Agrippina Rücksichtslosigkeit, Verschlagenheit und brutaler Einsatz aller Mittel zum politischen Überlebenskampf gehörten, wenn man kein Spielball der Mächtigen werden wollte.

Mitgespielt haben mag auch, dass die Quellen ein negatives Bild von Nero zeichnen und darin auch die Familie mit einbezogen haben. Das Leben und das Tun von Agrippina bot die ideale Voraussetzung für einen mahnenden Beleg, was passieren kann, wenn sich Frauen nicht in die ihr zugedachte Rolle schicken.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

  • ann. = Heller, Erich (Hg.): P. Cornelius Tacitus. Annalen. Lateinisch und deutsch. München und Zürich 1989.
  • Claud. = Mottershead, J: Suetonius. Claudius. Bristol 1986.
  • Nero = Kierdorf, Wilhelm (Hg.): Leben des Claudius und Nero. Textausgabe mit Einleitung, kritischem Apparat und Kommentar. Paderborn, [u.a.] 1992.
  • Dio = Veh, Otto: Cassius Dio. Römische Geschichte. Band IV und Band V. Zürich 1987.

Literaturverzeichnis

  • Barrett, Anthony A.: Agrippina. Sex, power, and politics in the early Empire. London 1996.
  • Bradley, Keith R.: Suetonius‘ Life of Nero. An Historical Commentary. Brussels 1978 (= Collection Latomus 157).
  • Corbier, Mireille: Divorce and Adoption as Roman Familial Strategies. (Le Divorce et l’adoption ‘en plus’). In: Rawson, B. (Hg.): Marriage, Divorce, and Children in Ancient Rome. Oxford 1991. S. 47-78.
  • Eck, Werner: Agrippina, die Stadtgründerin Kölns. Eine Frau in der frühkaiserzeitlichen Politik. Köln 1953 (= Schriftenreihe der Archäologischen Gesellschaft Köln e. V. 22).
  • Flach, Dieter: Seneca und Agrippina im Antiken Urteil. In: Chiron 3 (1973), S. 265-276.
  • Holland, Richard: Nero. The man behind the myth. Stroud 2000.
  • Kierdorf, Wilhelm: Claudius. In: Clauss, M. (Hg.): Die römischen Kaiser. München 1997. S. 67-76.
  • Kornemann, Ernst: Doppelprinzipat und Reichsteilung im Imperium Romanum. Leipzig/Berlin 1930.
  • Kunst, Christiane: Römische Adoption. Zur Strategie einer Familienorganisation. Hennef 2005.
  • Levick, Barbara: Claudius. London 1990 (= Imperial biographies).
  • Lindsay, Hugh (K 301/100): Adoption in the Roman World. Cambridge 2009.
  • Nesselhauf, Herbert: Die Adoption des römischen Kaisers. In: Hermes 83 (1955). S. 477-495.
  • Perné, Walter: De filis filiabusque Germanici Iulii Caesars e litteris, testimoniis epigraphicis, nummis demonstrata. Quellensammlung und biographische Auswertung. Wien 2006. (Letzter Zugriff: 26.07.2011)
  • Prévost, Marcel-Henri: Les adoptions politques à Rome sous la république er le principat. Paris 1949 (= Publications de l’Institut de Droit Romain de L’Université de Paris 5).
  • Salomies, Olli: Adoptive and Polyonymous Nomenclature in the Roman Empire. Helsinki 1992 (= Commentationes Humanarum Litterarum 97) Schneider, Helmuth: Nero. In: Clauss, M. (Hg.): Die römischen Kaiser. München 1997. S. 77-85.
  • Scramuzza, Vincent M.: The Emperor Claudius. Cambridge 1940 (= Harvard historical studies 44).
  • Waldherr, Gerhard H.: Nero. Eine Biografie. Regensburg 2005.

Fußnoten

Fußnoten
1 Agrippina die Jüngere wird im Folgenden nur mit ihrem praenomen genannt. Ihre Mutter, Agrippina die Ältere, wird dagegen immer mit dem Ephilet „die Ältere“ genannt.
2 Nero wird im Folgenden nur mit diesem Namensbestandteil genannt, wenngleich er bis zu seiner Adoption „Lucius Domitius Ahenobarbus“ hieß und durch die Adoption mit vollem Namen „Nero Claudius Drusus Germanicus Caesar“.
3 Sueton verstand sich als Schriftsteller und nicht als Historiker. Sein Anspruch war es nicht, möglichst realitätsgetreu die Person wiederzugeben, sondern unterhaltend zu schreiben.
4 Vgl. Barrett, Agrippina, S. XIV.
5 Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 13; vgl. Ebenso: Corbier, Divorce and Adoption, S. 63.
6 Vgl. Corbier, Divorce and Adoption, S. 63.
7 Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 14.
8 Auch adrogatio genannt.
9 Vgl. Salomies, Nomenclature, S. 5; vgl. ebenso: Kunst, römische Adoption, S. 13, sowie: Corbier, Divorce and Adoption, S. 63-64.
10 Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 15-16. Zum Verfahren der arrogatio siehe Kunst, römische Adoption, S. 16-19.
11 Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 20-21. Auch das Verfahren der adoptio findet sich auf diesen Seiten.
12 Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 51; vgl. ebenso: Corbier, Divorce and Adoption, S. 63.
13 Vgl. Salomies, Nomenclature, S. 5-6; vgl. ebenso: Corbier, Divorce and Adoption, S. 48.
14 Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 15.
15 Vgl. Salomies, Nomenclature, S. 53. Die Quellen unterscheiden nicht zwischen den drei Formen, sondern verwenden mit adopto, adoptare für alle die gleiche Terminologie.
16 Vgl. Salomies, Nomenclature, S. 6 und Corbier, Divorce and Adoption, S. 64.
17 Vgl. Nesselhauf, Adoption des römischen Kaisers, S. 486.
18 Vgl. Nesselhauf, Adoption des römischen Kaisers, S. 482-483. Schon römische nobiles bedienten sich während der römischen Republik diesem Verfahren, um die Stellung und Machtposition der Familie zu erhalten und weiterzugeben.
19 Vgl. Corbier, Divorce and Adoption, S. 48.
20 Vgl. Barrett, Agrippina, S. 24-32. Ausführliche Beschreibung über Agrippinas Geburt in Köln, ihrer ersten Reise nach Rom und ihrer ersten Jahre, Germanicus‘ Tod, die Huldigungsbestrebungen ihrer Mutter und die Gerüchte um das Gerücht der Ermordung Germanicus‘. Zu Germanicus vgl. die Biographien von Akveld, Willem Frederik: Germanicus. Groningen 1961; sowie Summer, Graham Vincent: Germanicus and Drusus Caesar. Wetteren 1967
21 Agrippina die Ältere wird in den Quellen mit den gleichen Charakterattibuten wie ihre Tochter versehen: egozentrisch, arrogant, sehr mutig, kompromisslos und willensstark. Vgl. Barrett, Agrippina, S. 44.
22 Vgl. Barrett, Agrippina, S. 22. Zu den Adoptionen der Iulier vgl. Bernoulli, Johann Jacob: Das julisch-claudische Kaiserhaus. Hildesheim 1969 (= Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1886). Vgl. ebenso: Meise, Eckhard: Untersuchungen zur Geschichte der Julisch-Claudischen Dynastie. München 1969 (= Vestigia 10); sowie Bringmann, Klaus/Schäfer, Thomas: Augustus und die Begründung des römischen Kaisertums. Berlin 2002.
23 Vgl. Waldherr, Nero. S. 18-19 und Barrett, Agrippina, S. 32-39.
24 Vgl. Waldherr, Nero. S. 19-20.
25 Vgl. Barrett, Agrippina, S. 23. Germanicus erbte die Popularität seines Vaters Drusus und galt als mustergültiges Beispiel für einen stattlichen, mutigen und würdevollen Mann in vollem Besitz seiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten. auf der Höhe – ein ausgezeichneter Mann. Durch seinen frühen Tod blieb sein Ansehen bewahrt. Zur Charakterisierung Germanicus siehe beispielsweise Waldherr, Nero. S. 18-20 und Barrett, Agrippina, S. 22-23.
26 Vgl. Barrett, Agrippina, S. 52-53 und Waldherr, Nero. S. 21.Großzügigkeit, Harmoniestreben und Sorge für das Allgemeinwohl zeichneten ihn aus. Er veranlasste die Rehabilitierung seiner Mutter und Brüder. Seine Schwestern Livilla, Drusilla und Agrippina erhielten diverse Ehrungen: (1) Rechte vestalischer Jungfrauen (und damit rechtlich mündige Personen wie ein römischer Bürger), (2) Freiheit, öffentliche Spiele von den vorderen Sitzen zu sehen, (3) wurden einschlossen in den jährlichen Schwur für das Wohlbefinden des princeps und (4) den Treueschwur für den princepssowie (5) die Formel, die Konsule bei einem Gesetzesantrag im Senat vortrugen.
27 Vgl. Waldherr, Nero. S. 23. Die Forschung geht von den Folgen einer Hirnhautentzündung aus, die diesen charakterlichen Wandel bei Caligula verursachten.
28 Vgl. Waldherr, Nero. S. 28 und Barrett, Agrippina, S. 64.
29 Vgl. Barrett, Agrippina, S. 56 und Waldherr, Nero. S. 28. Nach Neros Geburt gebar Agrippina keine weiteren Kinder. Vielleicht, damit es keine Erbstreitigkeiten zwischen ihren Kindern geben sollte.
30 Vgl. Waldherr, Nero. S. 28. Zu Gnaeus Verurteilung siehe Barrett, Agrippina, S. 49-50.
31 Für eine ausführliche Charakterisierung Caligulas siehe Waldherr, Nero. S. 20-22 und 24-30.
32 Vgl. Waldherr, Nero. S. 31.
33 Vgl. Barrett, Agrippina, S. 79.
34 Vgl. Waldherr, Nero. S. 31-32 und Barrett, Agrippina, S. 90.
35 Vgl. Barrett, Agrippina, S. 97-98. Vgl. auch: Tac. ann. XI 11.2, XI 12,1 und Suet. Nero 7.1.
36 Vgl. Waldherr, Nero. S. 32-34 und Barrett, Agrippina, S. 91-94. Vgl. auch: Tac. ann. XI 37,4-38.2, Suet. Claud. 26.2 und Dio LX 5 [Epitom nach Exc. Val. 225, Xiphilinos 143, 16-31 R. St., Zonaras 11,10, p.30, 20-31, 14D.].
37 Vgl. Kierdorf, Claudius, S. 74.
38 Vgl. hierzu: Tac. Ann. XII 3.1, Dio 60.2.4, 6-7 und Dio LX 6 [Epitom: Xiphilinos 143,31-144,3 R. St.].
39 Vgl. Barrett, Agrippina, S. 96-97. Vgl. auch: Tac. Ann. XII.2.3 und Tac. ann. XII 25,1.
40 Vgl. Eck, Agrippina, S. 38-39; Kierdorf, Claudius, S. 74; Waldherr, Nero. S. 37 und Barrett, Agrippina, S. 101. Die Quellen berichten folgendes: Tac. ann. XII 5.1-2, 6.3: C. Pompeio Q. Veranio consulibus pactum inter Claudium et Agrippinam matrimonium iam fama, iam amore inlicito firmabatur; necdum celebrare sollemnia nuptiarum audebant, nullo exemplo deductae in domum patrui fratris filiae: quin et incestum ac, si sperneretur, ne in malum publicum erumperet metuebatur. nec ante omissa cunctatio quam Vitellius suis artibus id perpetrandum sumpsit. percontatusque Caesarem an iussis populi, an auctoritati senatus cederet, ubi ille unum se civium et consensui imparem respondit, opperiri intra palatium iubet. (…)at enim nova nobis in fratrum filias coniugia: sed aliis gentibus sollemnia, neque lege ulla prohibita; et sobrinarum diu ignorata tempore addito percrebuisse. morem accommodari prout conducat, et fore hoc quoque in iis quae mox usurpentur. Gleiches berichten Sueton (Vgl. Suet. Claud. 26.3) und zwei Epitome von Cassius Dios Werk (Vgl. Dio LX 6 [Epitom: Xiphilinos 143,31-144,3 R. St.] und Dio LX 31.8 [Epitom Zonaras 11,10, p. 31,15-32,4 D.]).
41 Vgl. Waldherr, Nero. S. 42; Levick, Claudius, S. 71; Kierdorf, Claudius, S. 75 und Barrett, Agrippina, S. 98-99. Vgl. auch: Dio LX 31.8 [Epitom Zonaras 11,10, p. 31,15-32,4 D.], Tac. Ann. XII 3.2, XII 4.3 und Suet. Claud. 27.2.
42 Vgl. Lindsay, Adoption, S. 201. Vgl. auch: Tac. ann. XII 25,2-26: His evictus triennio maiorem natu Domitium filio anteponit, habita apud senatum oratione eundem in quem a liberto acceperat modum. adnotabant periti nullam antehac adoptionem inter patricios Claudios reperiri, eosque ab Atto Clauso continuos duravisse. Ceterum actae principi grates, quaesitiore in Domitium adulatione; rogataque lex qua in familiam Claudiam et nomen Neronis transiret. (…); sowie: Suet. Nero 7.1: (…) Undecimo aetatis anno a Claudio adoptatus est (…); und ebenso: Dio LX 32.2 [Epitom Exc. Val. 228 (p. 677), Xiphilinos 144, 3-7 R. St., Zonaras 11,10, p. 32, 5-13 D]: Der andre Sohn, der mit Sejans Tochter verlobt gewesen war, befand sich ja nicht mehr am Leben. Den Domitius hingegen machte sie damals zum Schwiegersohn des Claudius und setzte später auch seine Adoption durch. Sie erreichte diese Ziele dadurch, daß sie einerseits Claudius durch seine Freigelassenen überreden ließ, andererseits Vorkehrungen traf, daß sowohl der Senat wie auch die Bevölkerung und die Soldaten bei jeder Gelegenheit ihre Stimmen zur Unterstützung ihrer Wünsche vereinten.
43 Vgl. Levick, Claudius, S. 71; Kierdorf, Claudius, S. 74; Barrett, Agrippina, S. 111.
44 Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 44; Levick, Claudius, S. 71 und Barrett, Agrippina, S. 111. Für weitere Einzelheiten zur Adoption Neros siehe auch: Kunst, römische Adoption, S. 50, 83; Nesselhauf, Adoption des römischen Kaisers, S. 479-480 und Corbier, Divorce and Adoption, S. 64-66. Für weitere von der gängigen Forschungsmeinung unterschiedliche Ergebnisse von Bradley zur Adoption Neros siehe Suetonius. An Historical Commentary, S. 54-55. Tacitus bezeichnet den Vorgang konkret als adoptio in Tac. Ann. XII 25,1 („C. Antistio M. Suillio consulibus adoptio in Domitium auctoritate Pallantis festinatur…”), während er ihn in Tac. Ann. XII 26,1 als in familiam Claudiam et nomen Neronis transpire und in Tac. Ann. XI 11,2 adoptione mox in imperiumm et cognomentum Neronis adscitus umschreibt.
45 Vgl. Lindsay, Adoption, S. 201. Auf Messalina kann in dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden.
46 Vgl. Levick, Claudius, S. 72.
47 Vgl. Kunst, römische Adoption, S. 21.
48 Vgl. Prévost, adoptions politques, S. 39.
49 Vgl. Tac. Ann. XII 26,1: (…) Augetur et Agrippina cognomento Augustae; sowie: Dio LX 33.2a [Epitom Zonaras 11,10, p. 32, 22-23 D.]: Hierauf [Adoption] verlieh Claudius der Agrippina den Titel Augusta.
50 Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 40.
51 Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 41; Levick, Claudius, S. 71; Kierdorf, Claudius, S. 74; Waldherr, Nero. S. 52 und Barrett, Agrippina, S. 108-109. Dieser Titel macht sie aber nicht rechtlich zur Kaiserin.
52 Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 45; Kierdorf, Claudius, S. 74-75 und Waldherr, Nero. S. 49. Bradley beschreibt in seinem Kommentar zur Biographie Neros auf Seite 53, warum er Neros Alter bei der Übergabe der toga virilis auf 12 Jahre und 2 Monate festlegt.
53 Vgl. Kierdorf, Claudius, S. 75 und Levick, Claudius, S. 72-73.
54 Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 45; Waldherr, Nero. S. 50 und Barrett, Agrippina, S. 116. Vgl. auch: Dio LX 33.2c [Zonaras 11,10, p. 32,29 – 33,7 D.]: Als Nero – dieser Name setzte sich nämlich bei ihm durch – die toga virilis anlegte, da suchte der Himmel gerade an jenem Tage, an dem dies geschah, die Erde mit einem lange anhaltenden Beben heim und versetzte in der Nacht alle gleichermaßen in Schrecken.
55 Vgl. Waldherr, Nero. S. 50; Eck, Agrippina, S. S. 45; Kierdorf, Claudius, S. 74-75 und Barrett, Agrippina, S. 116.
56 Vgl. Eck, Agrippina, S. S. 45; Kierdorf, Claudius, S. 74-75 und Waldherr, Nero. S. 51.

“Ascendit in mare bestia” – Kaiser Friedrich II. und Papst Gregor IX.

Diese Hausarbeit habe ich im Sommersemester 2011 im Proseminar “Kaiser und Papst” bei Dr. Regina Schäfer (Geschichte, Uni Mainz) verfasst.

Einleitung

Kaum eine Persönlichkeit des Mittelalters wurde in so unterschiedlicher Weise charakterisiert wie Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen. Er stelle auf Grund seiner ausgeprägten vielfältigen Interessen für seine Zeitgenossen eine außergewöhnliche Persönlichkeit dar, weshalb die divergierenden Charakterisierungen zustande kamen. War er für seine Bewunderer stupor mundi, betrachteten ihn seine Gegner, im Besonderen die Päpste seiner Herrschaftszeit, als häretischen Herrscher, der ihre Macht behindern wollte.

Die Gegnerschaft der Päpste lag zum einen am universellen Herrschaftsanspruch der Staufer, aber im Besonderen in der vom Papst empfundene „Einkreisung“ des Kirchenstaates nach der Vereinigung von imperium und regnum Siciliewährend der Regentschaft Friedrichs I. Barbarossa, die die Staufer zu personae ingratae der Päpste werden lies. Infolgedessen kooperierten die Päpste mit den kaiserfeindlichen, norditalienischen Städten wie Mantua, Perùgia oder Bologna. Dies bewirkte eine Spaltung Italiens in Guelfen und Ghibellinen

Die Auseinandersetzung von Päpsten mit den Staufern im Allgemeinen soll in dieser Arbeit nicht thematisiert werden. Meine Arbeit beschäftigt sich mit der Frage nach den eschatologisch-mystischen Hintergründen für diesen drastischen Vergleich des Papstes Gregors IX., der Friedrich II. als Antichristen beschreibt. Nachdem Gregor IX. Friedrich II. bereits 1227 exkommuniziert hatte, 1230 aber wieder aufhob, exkommunizierte er Friedrich II. erneut Ostern 1239. Es entbrannte zwischen den beiden Lagern eine heftige Propagandaschlacht. Die Enzyklika „Ascendit in mari bestia“ bildet den Höhepunkt dieser Auseinandersetzungen.

Diese Quelle, von der nur eine kurze Teilübersetzung ins Deutsche von Heinisch existiert, ist dauerhaft in der historischen Forschung unter verschiedenen Fragestellungen diskutiert worden. Über den eigentlichen Autor der Enzyklika, Rainer von Viterbo, liegt lediglich eine Untersuchung aus 1912.

In meine Arbeit folgt auf eine Charakterisierung des Antichristen die Quellenkritik anhand besagter Enzyklika. Nach dem Kapitel zu der Lehre Joachim von Fiores und der Frömmigkeit Friedrichs II. schließt der Schlussteil diese Darstellung ab.

Der Antichrist in der mittelalterlichen ordo-Vorstellung

Im 13. Jahrhundert vollzogen sich viele grundlegende Veränderungen. Verbesserungen in der Landwirtschaft und neue Anbaumethoden brachten höhere Erträge, das Ausbleiben von Seuchen begünstigte ein rapides Bevölkerungswachstum. Eine zunehmende Stadtflucht bewirkte eine gesellschaftliche Mobilität, die mit Fortschritten in Theologie, Recht, Medizin, Mathematik, Architektur, Dichtung einherging und zu gesellschaftlichen Umbrüchen führte. Auf der anderen Seite galt im Mittelalter die gottgegebene Kontinuität als erstrebenswert. Veränderung und Wandel wurden als Zeichen des Bösen empfunden. Eine Veränderung der Welt wurde mit dem Niedergang der gottgewollten Ordnung, des mittelalterlichen ordo-Gedankens, gleichgesetzt. Jene tiefgreifenden Veränderungen wie sie sich im 13. Jahrhundert vollzogen, konnten nach der zeitgenössischen Vorstellung nur die Vorboten des Antichristen sein.[1]Vgl. Thomsen, „Ein feuriger Herr des Anfangs …“, S. 30.

Der Antichrist galt als Personifizierung der widergöttlichen Kräfte, der die Menschen verführe. Bei seinem Erscheinen solle Christus auferstehen, ihn besiegen und damit auch das Ende der Welt einleiten.[2]Vgl: Manselli, R.: „Antichrist“. In: Lexikon des Mittelalters, Band 1. Darmstadt, 2009. Sp. 703. In den 1200 Jahren bis Friedrich II. wurden sowohl Personen als auch Volksstämme als Antichrist personifiziert und die Vorstellung über den Antichristen änderte sich. Die größte Veränderung kam durch den Zisterzienser-Abt Joachim von Fiore, auf dessen Vorstellungen in einem späteren Kapitel näher eingegangen wird.[3]Ebenda, Sp. 704.

Nach der biblischen Offenbarung sollte zunächst das Nahen des Antichristen durch Kriege und Katastrophen aller Art angekündigt werden und der Vorgänger des Antichristen in Jerusalem seine Krone niederlegen. Dass Friedrich II. durch Verhandlungen mit Sultan Saladin Jerusalem zurückeroberte und sich dort – mangels der Geistlichkeit wegen des Interdikts – selbst zum Herrscher/König von Jerusalem krönte, wurde als Erfüllung jenes Teils der Offenbarung gedeutet.[4]Vgl. Stürner, Friedrich II, S. 474.

Zeitgleich vollzog sich im Hochmittelalter eine Welle eschatologischer Erregung, die ihren Niederschlag beispielsweise in einer zunehmenden Kritik an der Verweltlichung der Kirche fand und in den Bewegungen der so bezeichneten Häretiker wie Waldenser, in den Bettelorden oder der Kreuzzugsbewegung.

Die bekannteste heilsgeschichtliche Auslegung der Bibel geht auf Augustinus zurück. Auf seine Lehre von vier Weltreichen kann hier nicht näher eingegangen werden.[5]Vgl. Thomsen, „Ein feuriger Herr des Anfangs …“, S. 31. Besonders einflussreich waren die im hohen Mittelalter kursierenden endzeitlichen Weissagungen des Zisterzienser-Abtes Joachim von Fiore. Dieser galt schon zu seinen Lebzeiten als warnender und mahnender Prophet.[6]Vgl. Dante Alighieri: Comedia divina, Paradiso, Canto XII, Verse 140-141: “… il calabrese abate Giovacchino / di spirito prefetico dotato”.  Vgl. Auch Pásztor, J[oachim] v[on] Fiore. In: … Continue reading

Quellenkritik: Kaiser Friedrich II. als Antichrist

Die päpstliche Enzyklika „Ascendit in mari bestia“ wurde 1. Juli 1239[7]„Dat- Lat- Kal- Iulii, anno XIII.“ Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 654. von Papst Gregor IX. an alle Fürsten des christlichen Abendlandes versendet. Als Autor gilt Kardinal Rainer von Viterbo. Es ist eine rhetorisch sehr wohl überlegte Propaganda-Schrift mit dem Ziel, den Kaiser zu diffamieren.

Die Enzyklika stützt sich auf die biblische Offenbarung des Johannes und beginnt fast wortwörtlich wie die Offenbarung 13,1. Kaiser Friedrich II. als Bestie dargestellt, die dem Meer entsteigt und damit bildlich als Antichristen.[8]„Ascendit de mari bestia blasphemie plena nominibus, que pedibus ursi et leonis ore deseuiens ac membris formata ceteris sicut pardus, os suum in blasphemias diuini nominis aperit, tabernaculum … Continue reading Der Text führt aus, Friedrich verfolge das Ziel, die Kirche zu zerstören und versuche, dies mit Lügen und Verbrechen zu erreichen.[9]„Ad hec idem mendacii filius, falsitates falsitatibus cumulans, ut quo plura mendaciorum retia orditus fuerit, eo grauioribus se doleat periculis irretitum, de nobis mendaci scriptura pronuntiat … Continue reading In der Enzyklika angesprochene Lästerungen beziehen sich auf ein Gerücht, Friedrich habe Christus, Moses und Mohammed die drei Betrüger des Erdkreises genannt, wobei zwei in Ehre und einer am Kreuz gestorben sei.[10]“Set quia minus bene ab aliquibus credi posset, quod se uerbis non illaqueauerit oris sui, probationes in fidei uictoriam sunt parate, quod iste rex pestilentie a tribus barattatoribus, ut eius … Continue reading Ebenso solle Friedrich sowohl die Binde- und Lösegewalt des Papstes wie auch die jungfräuliche Geburt Christi bestritten haben.[11]Vgl. Stürner, Wolfgang: Friedrich II. 1194 – 1250. Darmstadt 32009. S. 473. Friedrich sei ein hinterlistiger und erbarmungsloser Feind des Christentums und höre es sogar gerne[12]„[…] infirmus fide set sanus corpore, ut securius mentiretur Deo et ecclesiam falleret, omisso promisso passagio in lecto egri diebus aliquibus simulati recubuit ac Terram Sanctam incursibus … Continue reading, Antichrist genannt zu werden[13]„[…] qui gaudet se nominari preambulum Antichristi […]“ Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 653.. Im weiteren Verlauf belegt der Autor Friedrich II. mit biblischen Schreckensnamen wie Drache[14]„[…] per dictum F(redericum) […] quod licet draco iste […]” Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 650., Skorpion[15]„[…] et in eam, quam fucatis deliniuit aliquando uerborum fallaciis, uirus effundere caude aculeo more scorpionis incepit […]” Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. … Continue reading oder Hammer der Welt[16]“Set iste baculus impiorum, terre malleus uniuerse, conturbare terram, regna concutere et orbem desertum ponere cupiens, libertatem ecclesiasticam in dicto regno Sicilie, in obprobrium seruitutis … Continue reading. Auch die Anklage, Viterbo nicht bis zum Sieg verteidigt zu haben, findet sich in dieser Schrift wieder.[17]“Set forsan maculam opinionis sue hiis credit abolere conuitiis, qua se dura Viterbii moraretur inficiens, a facie hostium ecclesie non uerecundus aufugit, et ad defensionem suorum fidelium, quos … Continue reading

Rainer von Viterbo war nicht von Beginn an Gegner Friedrichs. Er assistierte 1220 als Kardinalbischof seinem Onkel, dem damaligen Papst Innozenz III., bei der Kaiserkrönung Friedrichs.[18]Vgl. Brem, Ernst: Papst Gregor IX. bis zum Beginn seines Pontifikats. Ein biographischer Versuch. Heidelberg, 1911. S. 39 und Westenholz, Rainer von Viterbo, S. 42. Der offene Konflikt begann im Rahmen einer kriegerischen Auseinandersatzung, bei der es dem Heer Friedrichs nach längeren Kämpfen noch gelang, Rainers Heimatstadt Viterbo vor der revoltierenden römischen Stadtbevölkerung zu retten. Friedrich reiste in einer kritischen Phase der Auseinandersetzung ab und nannte gesundheitliche Beschwerden als Grund für diese verfrühte Abreise. Rainer warf ihm dagegen Flucht vor.[19]Vgl. Westenholz, Rainer von Viterbo, S. 45.

Die Schrecken der Offenbarung und deren als Erfüllungsbeweis aufgeführte Deutung von Friedrich als Antichristen, sollten die Empfänger im Sinne des Papstes von Rainer von Viterbos sensibilisieren und von der Schuld Friedrichs überzeugen.[20]Vgl. ebenda, S. 127. Die Wirkung der Enzyklika muss immens gewesen sein und schürte die Angst vor einem drohenden Weltuntergang.[21]Vgl. ebenda, S. 130.

Die Enzyklika wirkte über das Jahr 1239 hinaus und war die Basis des Konzils von Lyon, das von Gregor IX bereits berufen wurde, aber durch dessen Tod 1241 von seinem Nachfolger Innozenz IV erst 1245 abgehalten wurde.

Dort wurden in Abwesenheit von Friedrichs II. nicht nur die Beschuldigungen wiederholt, sondern auch angebliche kirchenrechtliche Verfehlungen angeprangert. Der Papst sicherte sich die Zustimmung der Kardinäle für die Absetzungsbulle von Friedrich. Hatte Gregor VII. einst den Kaiser förmlich abgesetzt, so entzog Innozenz erstmals einem Gekrönten seine Ämter und Würden. Allerdings lies sich die Absetzung bis zum Tod von Friedrich II. im Jahre 1250 nicht durchsetzen.

Die Lehre Joachims von Fiore

In diesem Kapitel wird speziell auf die im 13. Jahrhundert sehr verbreitete Endzeit-Lehre des Abtes Joachim von Fiore eingegangen. Diese schaffte das Klima für die Angst vor dem Antichristen und dem darauffolgenden Ende der Welt.

Für Joachim von Fiore bestand zwischen im Wortsinn zu fassenden geschichtlichen Begebenheiten des Alten und des Neuen Testaments eine weitgehende völlige Entsprechung (concordia). Deshalb sei es deshalb möglich, durch den Verlauf des Alten Testaments Schlüsse auf das Neue Testament und vor allem dort auf die dortige Offenbarung des Johannes zu ziehen.[22]Vgl. Lerner, Joachim von Fiore. In: TRE, Band XVII, S. 85. Die sieben Verfolgungen der Israeliten im Alten Testament stellt er die sieben Verfolgungen der Christen gegenüber. Durch concordia und dem Neuansatz in der Auslegung der Apokalypse fand Joachim von Fiore unterschiedliche, unabhängige Annahmen über das Jüngste Gericht. Letztendlich kam er zu dem Schluss, dass nach dem Tod des Antichristen unmittelbar vor dem Ende der Zeiten ein Zeit (sabbat) des Friedens und der Vollendung auf Erden stattfinden wird. Dieser Gedankengang führte zu seiner trinitarischen Geschichtsauffassung: Er gliederte die Zeit in drei Weltzeitalter (status) entsprechend der Trinitätslehre.[23]Vgl. ebenda, S. 86. Der erste status dauerte während des Alten Testaments, der zweite von Jesu Geburt bis ins Joachims Zeit. Entsprechend der concordia und der Berechnung, dass zwischen Abraham und Jesus 42 Generationen lebten, müsste auch das zweite status ungefähr im Jahre 1260 enden und das Nahen des Antichristen bevorstehen. Mit Beginn des Jüngsten Gerichts und der Rückkehr Christus‘ sah er den Beginn des dritten Zeitalters; des status‘ des Heiligen Geistes.[24]Vgl. Cohn, Ringen um das tausendjährige Reich, S.96.

Der Gedanke, dass die Heilige Schrift einen verborgenen Sinn enthält, war nicht neu. Neu war, die Interpretation nicht nur für moralische und dogmatische Zwecke zu gebrauchen, sondern auch als Hilfsmittel zum Verständnis der Geschichte und zu Prognosen der künftigen Entwicklung zu verwenden. Joachim von Fiore verband Ereignisse der Bibel mit aktuellen Ereignissen.[25]Vgl. ebenda, S.94.Hier lässt sich eine Verbindung zu Papst Gregor IX. herstellen, der in seiner hier behandelten Enzyklika ebenfalls das Bibelereignis des erscheinenden Antichristen mit der Person Friedrichs II. gleichsetzte.

Bis zum Erscheinen des Antichristen sollte ein neuer Mönchsorden[26]Franziskanerorden sah sich als den Mönchsorden an, der das Evangelium in aller Welt verkünden soll. Er stand im Propagandakampf gegen Friedrich II. auf der Seite des Papstes. das neue Evangelium in aller Welt verkünden. Aus diesem Orden sollten zwölf Patriarchen in Erscheinung treten, die die Juden bekehren und ein dux novus erscheinen.

Joachim von Fiore vertrat die neuartige Auffassung von zwei aufeinander folgenden Antichristen: Einen mystischen Antichristen, z. B. als König oder Papst, und darauffolgend den eigentlichen Antichristen. Dreieinhalb Jahre vor dem Jüngsten Gericht sollte der erste Antichrist in Person eines weltlichen Königs die verweltlichte Kirche züchtigen, in ihrer gegenwärtigen Form vernichten und seine Herrschaft ausüben. Dann sollte der wirkliche Antichrist erscheinen. Nach dem Sturz dieses Antichristen sollte das Zeitalter des Heiligen Geistes beginnen.[27]Vgl. Cohn, Ringen um das tausendjährige Reich, S. 96.

Die Frömmigkeit Friedrichs II.

Für die Zeit während des Mittelalters ist es wichtig, zwischen persönlicher Frömmigkeit und Kirchenpolitik zu trennen, weil die Kurie im Mittelalter nicht nur religiöse, sondern auch wirtschaftliche und politische Macht war.[28]Vgl. Schaller, Frömmigkeit Kaiser Friedrichs II, S. 128. Obwohl die Staufer waren ein stark gläubiges, christliches Herrschergeschlecht[29]Vgl. ebenda, S. 129., kam es immer wieder aus machtpolitischen Gründen zu schriftlichen und militärischen Auseinandersetzungen.

Friedrich selbst förderte viele Klöster und Kirchen und beteuerte auffallend oft und stark seine Frömmigkeit.[30]Vgl. ebenda, S. 132. Er erhörte vor allem Bitten von denjenigen, die in Armut leben, irdischen Besitz verachten und darauf bedacht waren, himmlische Güter zu erwerben. Ebenso stellte er den Vorrang des Almosengebets gegenüber allen anderen Tugenden heraus. Bloße Frömmigkeit genüge ihm nicht, wenn sie nicht durch Nächstenliebe befestigt werde.[31]Vgl. ebenda, S. 129. Besondere Gunst des Kaisers hatte Friedrich nach Schaller für einen Ableger des Zisterzienserordens[32]Als Friedrich starb ließ er sich zum Empfang der Sterbesakramente die Kutte der Zisterzienser anziehen. Siehe Möhring, Weltkaiser der Endzeit, S. 214., den seine Eltern reich ausgestattet haben: San Giovanni in Fiore in Kalabrien, das Gründungskloster Joachim von Fiore. Friedrich förderte dieses Kloster wie kein anderes, da es seine Ideale vertrat: Weltabgewandtheit, Armut, Feldarbeit, Gebet, Kontemplation.[33]Vgl. Schaller, Frömmigkeit Kaiser Friedrichs II, S. 135. 1220 bestätigte er wiederum alle Privilegien, die schon seine Eltern der Abtei vermacht hatten.[34]Vgl. Grundmann, Joachim von Fiore, S. 221.

Friedrichs Frömmigkeits-Gedanken galten dem Kreuzzug, der Armutsidee und dem Endzeit-Glauben, die für ihn eng zusammengehörten:[35]Vgl. Schaller, Frömmigkeit Kaiser Friedrichs II, S. 135. Der Kreuzzugsgedanke hatte immer eine eschatologische Komponente: Wiederkunft Christi nach Sieg über den Antichristen mit Hilfe der freiwillig Armen.[36]Vgl. ebenda, S. 141. Ob sich Friedrich und Joachim von Fiore kennen gelernt haben, ist nicht bekannt. Friedrich war bei Joachims Tod noch ein kleines Kind.[37]Vgl. Grundmann, Joachim von Fiore, S. 220. Herbert Grundmann vermutet, dass Abt Joachim von Fiore 1198 anlässlich der Erneuerung der Privilegien von Kaiser Heinrich VI. an die Abtei San Giovanni in Fiore durch Konstanze den kleinen König Friedrich gesehen haben könnte. Friedrich selbst wird aber unweigerlich durch Erzählungen von Abt Joachim gehört haben.[38]Vgl. ebenda, S. 221.

Friedrich selbst sah sich weder als Endkaiser noch als Antichristen, sondern als novus dux oder novus rex im Sinne eines Erneuerers des Christentums vor der Ankunft des Antichristen.[39]Vgl. Thomsen, „Ein feuriger Herr des Anfangs …“, S. 43. In einem Schreiben an seine Geburtsstadt Jesi bezeichnete er diese als zweites Bethlehem, weil aus ihr der dux, der princeps des römischen Reiches, hervorgegangen sei. Offensichtlich sah er sich selbst als jenen novus dux.[40]Vgl. Möhring, Weltkaiser der Endzeit, S. 210. Und als Friedrich II. im Januar 1240 nach Rom zog, rief er die Einwohner Viterbos auf „Bereitet den Weg dem Herrn! Machet gerade seine Pfade!“[41]Vgl. die Bibelstellen Matth 3,3; Mar 1,3; Luk 3,4; Joh 1,23..[42]Vgl. Möhring, Weltkaiser der Endzeit, S. 210.

Schluss

Friedrich und Gregor konnten durch den harten Propagandastil gegeneinander kein offenes Einlenken erlauben, ohne einen gefährlichen Verlust an Glaubwürdigkeit und Rückhalt ihrer emotionalisierten Anhängerschaft zu riskieren. Die Unsicherheit der Zeitgenossen war sogar so groß, dass viele in der Todesmeldung des Kaisers ein vom Papst verbreitetes Gerücht vermuteten.

Auch die Nachfolger von Gregor IX führten dessen Politik weiter.

Gregor und Friedrich waren Kinder ihrer Zeit. Die Vorstellungen Joachim von Fiores waren in der damaligen Zeit allgegenwärtig. Die Gesellschaft war durchdrungen von dem Glauben an die bevorstehende Endzeit und gleichzeitig von der Angst des drohenden Weltuntergangs und dem Jüngsten Gericht gepeinigt.

Es ist möglich, dass der Papst und Viterbo diese Stimmung geschickt für ihre eigenen Pläne nutzten. Man kann aber auch annehmen, dass auch die Kurie in dem Glauben an die Endzeit lebte und in Friedrich durchaus einen Feind der wahren christlichen Lehre sah. Die vielen mit Waffen ausgetragenen Kämpfe gegen den Papst und seine Verbündeten taten ihr übriges.

Trotz aller Endzeitstimmung fanden in diesen Jahren unter der Herrschaft der Staufer wichtige Weichenstellungen für eine Erstarkung der kirchlichen Macht statt. Gregor IX und seine Nachfolger waren versierte Kirchenrechtler und geschickte Verfechter eigener Machtinteressen. Was bei Friedrich I. noch als gottgegebene Macht des Kaisers galt, hatte unter Friedrich II. keinen Bestand mehr. Die Trennung von Kirche und Staat war vollzogen.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

  • Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 646ff.
  • Heinisch, Klaus J.: Kaiser Friedrich II. in Briefen und Berichten seiner Zeit. Darmstadt 1968.

Literaturverzeichnis

  • Brem, Ernst: Papst Gregor IX. bis zum Beginn seines Pontifikats. Ein biographischer Versuch (= Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 32). Heidelberg 1911.
  • Cohn, Norman: Das Ringen um das tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen. Bern 1961.
  • Grundmann, Herbert: Studien über Joachim von Fiore. Darmstadt 1966.
  • Lerner, Robert R.: Joachim von Fiore. In: Theologische Realenzyklopädie, Band XXVI. Berlin/New York 1988.
  • Manselli, R: Antichrist. In: Lexikon des Mittelalters. Darmstadt, 2009. Sp. 703 – 705.
  • Möhring, Hannes: Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung. Stuttgart 2000.
  • Pásztor, E.: J[oachim] v[on] Fiore. In: Lexikon des Mittelalters, Band 5. Darmstadt 2009. Sp. 485 – 487.
  • Schaller, Hans Martin: Die Frömmigkeit Kaiser Friedrichs II. In: Gesellschaft für staufische Geschichte e. V. (Hg.): Schriften zur staufischen Geschichte und Kunst, Band 15. Göppingen 1996.
  • Sommerlechner, Andrea: Stupor mundi? Kaiser Friedrich II. und die mittelalterliche Geschichtsschreibung. Wien 1999.
  • Stürner, Wolfgang: Friedrich II. 1194 – 1250. Darmstadt 3 2009.
  • Thomsen, Marcus: „Ein feuriger Herr des Anfangs …“. Kaiser Friedrich II.- in der Auffassung der Nachwelt (= Kieler historische Studien 42). Ostfildern 2005.
  • Töpfer, Bernhard: Das kommende Reich des Friedens. Zur Entwicklung chiliastischer Zukunftshoffnungen im Hochmittelalter ( = Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, Band 11). Berlin 1964.
  • Westenholz, Elisabeth von: Kardinal Rainer von Viterbo (= Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte). Heidelberg 1912.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Thomsen, „Ein feuriger Herr des Anfangs …“, S. 30.
2 Vgl: Manselli, R.: „Antichrist“. In: Lexikon des Mittelalters, Band 1. Darmstadt, 2009. Sp. 703.
3 Ebenda, Sp. 704.
4 Vgl. Stürner, Friedrich II, S. 474.
5 Vgl. Thomsen, „Ein feuriger Herr des Anfangs …“, S. 31.
6 Vgl. Dante Alighieri: Comedia divina, Paradiso, Canto XII, Verse 140-141: “… il calabrese abate Giovacchino / di spirito prefetico dotato”.  Vgl. Auch Pásztor, J[oachim] v[on] Fiore. In: Lexikon des Mittelalters, Band 5, Sp. 486.
7 „Dat- Lat- Kal- Iulii, anno XIII.“ Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 654.
8 „Ascendit de mari bestia blasphemie plena nominibus, que pedibus ursi et leonis ore deseuiens ac membris formata ceteris sicut pardus, os suum in blasphemias diuini nominis aperit, tabernaculum eius et sanctos qui in celis habitant similibus impetere iaculis non omittit. (…) caput, medium et finem huius bestie Fr. Dicti imperatoris diligenter inspicite”. Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 646. Vgl. mit den Bibelstellen Offb13,1, Offb 13,2 und Offb 13,4.
9 „Ad hec idem mendacii filius, falsitates falsitatibus cumulans, ut quo plura mendaciorum retia orditus fuerit, eo grauioribus se doleat periculis irretitum, de nobis mendaci scriptura pronuntiat […].” Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 648.
10 “Set quia minus bene ab aliquibus credi posset, quod se uerbis non illaqueauerit oris sui, probationes in fidei uictoriam sunt parate, quod iste rex pestilentie a tribus barattatoribus, ut eius uerbis utamur, scilicet Christo Iesu, Moyse et Machometo, totum mundum fuisse deceptum, et duobus eorum in gloria mortuis, ipsum Iesum in ligno suspensum manifeste proponens, insuper dilucida uote affirmare uel potius mentiri presumpsit, quod omnes illi sunt fatui, qui credunt nasci de uirgine Deum, qui creauit naturam et omnia, potuisse; hanc heresim illo errore confirmans, quod, nullus nasci potuit, cuius conceptum uiri et mulieris coniunctio non precessit, et homo nichil debet aliud credere, nisi quod potest ui et ratione nature probare.” Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 653ff.
11 Vgl. Stürner, Wolfgang: Friedrich II. 1194 – 1250. Darmstadt 32009. S. 473.
12 „[…] infirmus fide set sanus corpore, ut securius mentiretur Deo et ecclesiam falleret, omisso promisso passagio in lecto egri diebus aliquibus simulati recubuit ac Terram Sanctam incursibus hostium Christi exponere minime dubitauit, ex eo nulle dolore perculsus, quod ibi clare memorie Turingie langrauius, utinam non ueneni poculo, sicut mundus clamat ! extitit interemptus.” Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 647.
13 „[…] qui gaudet se nominari preambulum Antichristi […]“ Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 653.
14 „[…] per dictum F(redericum) […] quod licet draco iste […]” Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 650.
15 „[…] et in eam, quam fucatis deliniuit aliquando uerborum fallaciis, uirus effundere caude aculeo more scorpionis incepit […]” Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 647.
16 “Set iste baculus impiorum, terre malleus uniuerse, conturbare terram, regna concutere et orbem desertum ponere cupiens, libertatem ecclesiasticam in dicto regno Sicilie, in obprobrium seruitutis extreme deducens, et ecclesias […]” Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 651.
17 “Set forsan maculam opinionis sue hiis credit abolere conuitiis, qua se dura Viterbii moraretur inficiens, a facie hostium ecclesie non uerecundus aufugit, et ad defensionem suorum fidelium, quos ipsius hostes in oculis eius obsederant, et obsessorum terram nullo prohibente uastarant, affirmans suum per nos ad illos interdici progressum, imperialis honoris prodigus, set timore prohibitus non accessit; ex eo innocentiam nostram accusans, quod ad euitanda huiusmodi guerrarum dispendia nuntium a latere nostro non misimus.” Zit. nach: Monumenta Germaniae Historica, Epp. Saec. XIII, 1. S. 649.
18 Vgl. Brem, Ernst: Papst Gregor IX. bis zum Beginn seines Pontifikats. Ein biographischer Versuch. Heidelberg, 1911. S. 39 und Westenholz, Rainer von Viterbo, S. 42.
19 Vgl. Westenholz, Rainer von Viterbo, S. 45.
20 Vgl. ebenda, S. 127.
21 Vgl. ebenda, S. 130.
22 Vgl. Lerner, Joachim von Fiore. In: TRE, Band XVII, S. 85.
23 Vgl. ebenda, S. 86.
24 Vgl. Cohn, Ringen um das tausendjährige Reich, S.96.
25 Vgl. ebenda, S.94.
26 Franziskanerorden sah sich als den Mönchsorden an, der das Evangelium in aller Welt verkünden soll. Er stand im Propagandakampf gegen Friedrich II. auf der Seite des Papstes.
27 Vgl. Cohn, Ringen um das tausendjährige Reich, S. 96.
28 Vgl. Schaller, Frömmigkeit Kaiser Friedrichs II, S. 128.
29, 31 Vgl. ebenda, S. 129.
30 Vgl. ebenda, S. 132.
32 Als Friedrich starb ließ er sich zum Empfang der Sterbesakramente die Kutte der Zisterzienser anziehen. Siehe Möhring, Weltkaiser der Endzeit, S. 214.
33, 35 Vgl. Schaller, Frömmigkeit Kaiser Friedrichs II, S. 135.
34 Vgl. Grundmann, Joachim von Fiore, S. 221.
36 Vgl. ebenda, S. 141.
37 Vgl. Grundmann, Joachim von Fiore, S. 220.
38 Vgl. ebenda, S. 221.
39 Vgl. Thomsen, „Ein feuriger Herr des Anfangs …“, S. 43.
40, 42 Vgl. Möhring, Weltkaiser der Endzeit, S. 210.
41 Vgl. die Bibelstellen Matth 3,3; Mar 1,3; Luk 3,4; Joh 1,23.

Die Religion in den Testamenten der brandenburgisch-preußischen Herrscher und ihre Auswirkungen

Diese Hausarbeit habe ich im Semester 2007/08 im Proseminar “Der Aufstieg Brandenburg-Preußens” bei apl. Prof. Dr. Bettina Braun (Geschichte, Uni Mainz) verfasst.

Einleitung

Seit dem 16. Jahrhundert verfassten Landesherren neben ihren persönlichen, privaten Testamenten auch so genannte politische Testamente. Diese waren an den Nachfolger des jeweiligen Landesherrn gerichtet und unterrichteten ihn über die innenpolitische und außenpolitische Lage des Landes sowie über Besonderheiten und Wünsche des Landesherrn.

In dieser Arbeit dienen die politischen Testamente des 17. und 18. Jahrhunderts der branden-burgisch-preußischen Kurfürsten bzw. Könige Friedrich Wilhelm, Friedrich III./I., Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. als Quellengrundlage.

Das Kurfürstentum Brandenburg-Preußen wurde 1618 gegründet, entstand aus dem Kurfürstentum Brandenburg und dem Herzogtum Preußen und wurden von den Hohenzollern regiert. Das hohenzollernsche Geschlecht stammte ursprünglich aus dem schwäbischen Raum, bekam 1192 das nürnbergische Burggrafenamt. 1411 erhielt der nürnbergische Burggraf Friedrich VI. zusätzlich die Mark Brandenburg und wurde somit Markgraf von Brandenburg. 1415 verlieh ihm der Kaiser Sigismund von Luxemburg die Kurwürde für die Mark Brandenburg verliehen. Hauptwohnsitz des neuen Kurfürsten von Brandenburg blieb aber zunächst Nürnberg. Erst sein Enkel Johann Cicero zog 1486 nach Brandenburg und bestimmte Berlin-Cölln als seine neue Residenz.

Die Hohenzollern des 16. Jahrhunderts waren ein kaisertreues und erzkatholisches Geschlecht. Der brandenburgische Kurfürst Joachim war der Bruder und Gefolgsmann des Mainzer Kurfürsten und Reichskanzlers Albrecht, der mit dem von ihm inszenierten Ablasshandel beim aufgeklärten Klerus auf Widerstand stieß. Luther protestierte mit der Veröffentlichung seiner Thesen auch gegen seinen eigenen Landesherrn und dessen Unterstützung der Mauscheleien seines Bruders. Beide Kurfürsten wurden zu erbitterten Gegnern Luthers. Interessant ist, dass die Frau von Kurfürst Joachim I. 1527 floh, als sie zum Luthertum konvertierte. Die Zeichen standen auf Umbruch und es war sein Sohn, Joachim II., der Luther schätzen lernte [1]Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 72. und am 1. November 1533 zum Luthertum konvertierte[2]Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 23.. Verbunden war dies mit weltlichen Vorteilen, denn die damit verbundene Übertragung kirchlicher Ländereien in weltlichen Besitz, ließ den Kurfürsten zum bedeutendsten Grundbesitzer in der Mark werden. Ein großer Vorteil in der Auseinandersetzung mit den Landständen führte so in den folgenden Jahrhunderten allmählich zu einer weiteren Stärkung der kurfürstlichen Unabhängigkeit. Seine Nachfolger in der Landesherrschaft blieben gläubige Lutheraner. Erst Johann Sigismund, der sich bei den brandenburgischen, reformierten Städten am Rhein beliebt machen wollte, konvertierte 1613 zum Calvinismus. Nach den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens hätte die brandenburgische Bevölkerung nun eigentlich den reformierten, calvinistischen Glauben übernehmen müssen. Doch diese wandte sich vehement gegen die Übernahme der neuen Konfession ihres Landesherrn, denn sie sah keinen wesentlichen Unterschied zwischen Katholizismus und Calvinismus. So beließ Johann Sigismund schließlich seiner Bevölkerung ihre Konfession und begründete damit den Toleranzgedanken von Brandenburg-Preußen für die verschiedenen protestantischen Richtungen. Fünf Jahre später erfolgte die Vereinigung des Kurfürstentums Brandenburg mit dem Herzogtum Preußen.

Das Herzogtum Preußen war durch die Säkularisierung des ehemaligen Deutschordenlandes entstanden, nachdem der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens in Preußen, der Hohenzoller Albrecht von Brandenburg-Ansbach[3]Vater von Albrecht Friedrich., im Jahre 1525 zum lutherischen Glauben übergetreten war. Da dessen Sohn Albrecht Friedrich, ein Vater von fünf Töchtern, als geisteskrank galt, zog einer der Schwiegersöhne, der Kurfürst Joachim Friedrich von Brandenburg und Vater von Johann Sigismund, die Regentschaft an sich. Johann Sigismund heiratete ebenfalls eine der fünf Töchter Albrechts Friedrichs und regierte nach dem Tod seines Schwiegervaters auch offiziell in Personalunion über beide Länder.

Da Preußen zum Königreich Polen gehörte, wurde Johann Sigismund damit auch Lehnsmann des polnischen Königs.

Im Dreißigjährigen Krieg verhielt sich Brandenburg-Preußen zunächst neutral, pendelte dann aber zwischen den Bündnissen mit dem Ziel, dass dem Gebiet möglichst wenig Schaden entstand. Doch dies misslang größtenteils und der Krieg forderte auch hier seine Opfer und entvölkerte viele Landstriche. In dieser Zeit kam 1640 der so genannte Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm, an die Regierung.

Sein politisches Testament und das seiner drei Nachfolger sehen im Fokus dieser Arbeit. Mein Schwerpunkt liegt dabei auf der Religiosität der jeweiligen Herrscher und inwieweit diese ihr Leben, Handeln und Denken beeinflusst hat.

Konfessionen im Heiligen Römischen Reich im 16. und 17. Jahrhundert

Das Heilige Römische Reich stützte sich auf den Katholizismus. Durch die Reformideen Luthers bildeten sich neue Konfessionen wie das Luthertum und der Calvinismus. Nach der Verkündigung der Thesen Luthers kam es im Reich zu diversen Auseinandersetzungen zwischen den Anhänger der verschiedenen Konfessionen. 1555 wurde im Augsburger Religionsfriede eine vorläufige Regelung gefunden: Der Landesherr bestimmte die Konfession seines Landes, der alle Untertanen zu folgen hatte. Zudem wurde durch die Confessio Augustana das Luthertum als Konfession anerkannt und sicherte den Anhängern Frieden und ihre Besitzstände.

Doch der Friede von Augsburg währte nicht lange. Calvinisten und Lutheraner gehörten den protestantischen Strömungen des 16. Jahrhunderts an. Beide Konfessionen waren ursprünglich von den Initiatoren als Reformationsmodelle der katholischen Kirche gedacht, führten aber dann doch zur Abspaltung von Rom. Doch auch zwischen den beiden protestantischen Konfessionen kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Kernpunkt war die so genannte Wahrheit der reinen und christlichen Lehre in ihren beiden Streitpunkten Abendmahl und Prädestinationslehre. Letztere besagt, dass schon vor der Geburt entschieden ist, wer von Gott auserwählt ist und wer nicht. Diese Erwählung werde bereits durch den Erfolg im Leben sichtbar. Deshalb sind Reformierte besonders arbeitsame Menschen, die nach Erfolg streben, da diese die sichtbare Erwählung Gottes auf Erden ist.

Beim Abendmahl hielt Luther an der Lehre der so genannten Realpräsenz fest, die aus dem Katholizismus stammt. Diese besagt, dass in Brot und Wein der Leib und das Blut Christi immer gegenwärtig sind. Der Calvinismus dagegen lehrte, die Hostie und Wein lediglich als Symbol für den Leib und das Blut Christi zu sehen sind. Die Abendmahlfeier wurde zu einer Gedächtnisfeier. Für die konfessionelle Frage wurde im Westfälischen Frieden von 1648 das Jahr 1624 als so genanntes Normaljahr festgelegt. Das bedeutet, dass die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Konfessionen der Länder als geltend betrachtet wurden, aber es den Untertanen auch erlaubt war, ihre Religion unabhängig von der Konfession des Landesherrn zu wählen.

Die Religion in den Testamenten der brandenburgisch-preußischen Herrscher und ihre Auswirkungen

Kurfürst Friedrich Wilhelm

Friedrich Wilhelm war Calvinist und kam 1640, während des Dreißigjährigen Krieges an die Macht. Er ließ direkt nach seinem Regierungsantritt mehrere Memoranden erstellen, die die Wichtigkeit einer schlagkräftigen Armee größte Priorität zusagten, da ohne dieses Heer das brandenburgisch-preußische Kurfürstentum nicht in der Lage gewesen wäre, aktiv eigene Politik zu betreiben.[4]Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S.72.

Schon zu Lebzeiten seines Vaters unternahm er 16jährig eine Bildungsreise in die Niederlande. Das dortige fortschrittliche Staatswesen, das auf kulturellem, wirtschaftlichem und militärischem Gebiet in Europa führend war,[5]Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 64-65. beeinflusste ihn tief und nachhaltig[6]Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 69.. Er heiratete die oranische Prinzessin Luise Henriette und schenkte ihr das Amt Bützow, dass sie nach niederländischem Vorbild und mit Unterstützung von niederländischen Kolonisten zu einem Mustergut verwandelte, das ihr zu Ehren den Namen „Oranienburg“ erhielt.[7]Vgl. Nachama, Andreas: Preußische Köpfe. Der Große Kurfürst. Berlin 1989. S.40. Sie pflanzten zum Beispiel die Kartoffel als Kulturpflanze.

Politisch vertrat der Kurfürst einen gemäßigten Absolutismus, der keine Absichten zur Eroberung fremder Länder erkennen ließ, aber deutlich machte, dass alle Macht vom Herrscher ausginge. Jedoch prägte vor allem die Prädestinationslehre sein Leben. Er war überzeugt, ein Auserwählter Gottes zu sein, bestimmt, Brandenburg-Preußen zu leiten. Für die Erlangung der ewigen Seligkeit kam es für ihn entscheidend auf den rechten Glauben an. Im Politischen Testament von 1667 legte er daher seinem Nachfolger die Vorzüge der calvinistischen Konfession nahe.[8]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 37-38.

„die Reformirte Religion, welche auff das wahre wortt Gottes, vndt auff die Simbola der Apostellen allein gegrundet, vndt ohne Menschen zusatz ist, In allen Eweren Landen moge vortgepflantzet werden.“.[9]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): … Continue reading

Er war davon überzeugt, dass auch seine Nachfolger Prädestinierte sein würden, geboren, das Land zu regieren. Er mahnte seine Nachfolger, sich dieser Auserwählung entsprechend zu verhalten, immer im Sinne Gottes zu handeln und ihm für seine Wohltaten zu danken.[10]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 35.

Sein Nachfolger solle dreimal täglich zu Gott beten und um Weisheit, Verstand und Beistand bitten, um so seinem Volk mit gutem Beispiel voranzugehen. Zudem soll er Gott für sein Volk und sein Land danken, dass er besitzt.[11]Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 67. Vgl. auch: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst … Continue reading

Der Thronfolger solle zwar die anderen Konfessionen dulden, aber beispielsweise trotzdem die Reformierten bei der Wahl der Räte bevorzugen.[12]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S.37. Die Räte sollen neben der reformierten Religion staatskundig sein und zudem ehrbar und verschwiegen.[13]Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 69.

„nemlich das es solche leutte sein sollen, so solche qualitet haben, das Sie zuforders Gott furchten, vndt dem geitze von hertzen feindt, vber dehm verschwigen, eines erbahren lebens, aufrichtig gemuhtes, etwa Staadts kundig vndt Der Reformirten Religion sein.“.[14]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): … Continue reading

Indem der Kurfürst sein Testament mit der Bekräftigung seines Gottesglaubens und mit dem Bekenntnis zur Förderung der reformierten Religion eröffnete, machte er damit das religiöse, speziell die Lehre des Calvinismus zum Zentralmotiv des Testaments und zur Klammer für alle anderen Grundsätze staatlicher und kirchlicher Politik.[15]Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 104

Er war stets darauf bedacht, den Lutheranern entgegenzukommen. Auch Katholiken tolerierte er, betonte aber dabei, dass er ihnen nicht mehr Recht verschaffen würde, als es ihnen nach dem Westfälischen Frieden zugestanden werden müsse.

„Ewere von Gott vntergebene vnterthanen musset Ihr ohne ansehung der Religion als ein rechter landes Vatter lieben.“.[16]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): … Continue reading

Die Haltung des Kurfürsten zu den konfessionellen Problemen seiner Zeit kam während den Westfälischen Friedensverhandlungen deutlich zum Ausdruck. Er trat der katholischen Reaktion im Reich als Wahrer der gesamtprotestantischen Interessen entgegen und verwandte sich für die Gleichberechtigung der beiden evangelischen Konfessionen auf der Grundlage ihrer Einheit im evangelischen Bekenntnis.[17]Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 70.

Bei den Bündnissystemen spielte die Konfession eine wichtige Rolle. Seine Meinung zu dem katholischen Frankreich war gespalten. Die deutschen Reichsfürsten versuchten es zu isolieren, aber Frankreich konnte sich Friedrich Wilhelms Neutralität sichern. Trotzdem argwöhnte Friedrich Wilhelm, denn die französischen Ausdehnungspläne bedeuteten auch eine drohende katholische Restauration. Deshalb schloss Friedrich Wilhelm 1672 mit den englischen Niederlanden einen Vertrag, gegen Subsidien eine Armee von 20 000 Mann für den niederländischen Krieg gegen das verbündete Frankreich zu stellen.

Friedrich Wilhelm blieb jedoch lange Zeit der einzige Verbündete der Niederlande, bis sich durch den Pfälzischen Erbfolgekrieg die Politik der anderen Länder änderte.[18]Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 73. Nach dem Pfälzischen Erbfolgekrieg näherten sich Brandenburg-Preußen und Frankreich 1679 wieder an und verhinderten so immer wieder eine Einheitsfront des Reiches gegen Frankreichs Eroberungen.

Diese Nähe dauerte sechs Jahre bis zum Edikt von Nantes im Jahre1685. Der französische König Ludwig XIV. verwehrte den Hugenotten, die calvinistischen Franzosen, die gleichen Rechte wie den katholischen Untertanen und verbot die Ausübung der Religion. Friedrich Wilhelm bot durch das Edikt von Potsdam seinen französischen Glaubensgenossen an, in Brandenburg-Preußen siedeln. Zusätzlich gewährte er diverse wirtschaftliche und religiöse Vorteile. Hierdurch kam es zum offenen Bruch mit Frankreich.[19]Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S.79-80.

Friedrich III./I.

Friedrich nannte sich einen Christen und wollte damit die Gleichheit aller christlichen Konfessionen bekunden.[20]Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 136. Er erkannte nur eine Autorität in Glaubensdingen: die Bibel. Auslegungen von Theologen, selbst von Luther und Calvin, interessierten ihn nur sekundär.

Er vertrat offen die Meinung, dass sich Lutheraner und Calvinisten in den wesentlichen Punkten eigentlich nicht voneinander unterscheiden.[21]Vgl. Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984. S. 146.

„zum fünften hat mein Successer wol acht zu haben, was Er führ bedienten an nimt, und wan es möglich, daß sie ja von der reformierten religion sein. Ich meine aber damit nicht, daß die Lutteraner von allen bedienungen sollen gäntzlich ausgeschloßen sein; dan ein Churfürst von Brandenburg allezeit zu reflectieren hat, daß seine meiste unterthanen Lutterisch sein und also sie nicht wol führbey gehen kann, und auch den lutterischen dem reformierten führ zu ziehen hat, wan er capabler ist wie der glaubensgenoße; seint sie aber gleich, so ist der reformierte führ zu ziehen und zu beneficieren.“[22]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Erste Ermahnung Kurfürst Friedrichs III. an seinen Nachfolger. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus … Continue reading.

Dennoch regelte er im gleichen religiösen Geist wie sein Vater, das Leben seiner Bevölkerung nach den calvinistischen Glaubensvorschriften, wie zum Beispiel das Arbeitsverbot an Feiertagen.[23]Vgl. Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984. S. 146. Er hielt er sich an das religiöse Vermächtnis seines Vaters und legte dieses Verhalten in seinem Testament auch wiederum seinem Nachfolger nahe.[24]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 62. Auch er begann  sein Testament mit einem religiösen Bekenntnis.[25]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 59. Er war überzeugt, dass der Calvinismus der Glaube der Herrscher von Brandenburg-Preußen bleibt und seine Kinder und Enkel in diesem Glauben aufgezogen werden.[26]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 46. Dabei waren für Friedrich I. drei Punkte für die Glaubenserhaltung charakteristisch: Die Prädestination, die religiöse Toleranz gegenüber allen Konfession und die Union zwischen den beiden protestantischen Konfessionen, allerdings nicht als Einheit. So versuchte er immer wieder, Reformierte und Lutheraner zu versöhnen und zu einer Kirchenunion zusammenzuführen.[27]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 67. Damit war er allerdings seiner Zeit weit voraus, den diese Kirchenunion fand in Preußen erst 1817 statt. In der Frage der Prädestination formulierte er allerdings nicht das eindringliche Erwählungs- und Sendebewusstsein seines Vaters. Gericke begründet dies mit seinem mangelnden Selbstbewusstsein.[28]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 46.

In seiner zweiten Ermahnung von 1705 nimmt die Außenpolitik einen großen Stellenwert ein, die konfessionell bestimmt sein solle. Brandenburg-Preußen sollte speziell mit Kursachsen, den Generalstaaten, Schweden und auch Dänemark gute Nachbarschaft pflegen.[29]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 60-61.

1701 konnte er sich zum König in Preußen krönen, weil der preußische Teil außerhalb des Heiligen Römischen Reiches lag. Da sich aber nur Ostpreußen in brandenburgischem Besitz befand, konnte er sich lediglich zum König in Preußen und nicht zum König von Preußen krönen lassen. Für dieses lang geplante Ziel hatte er seine Finanzen in den Ruin getrieben, um mit den anderen Königshäusern mithalten zu können. Mit Kaiser Leopold fand er in einem günstigen Moment einen Verbündeten für die Erlangung der Königswürde. Die Akzeptant der Kaisers war für die andren europäischen Königshäuser ein wichtiges Zeichen zur Anerkennung durch die anderen europäische Königshäuser. Doch auch der Kaiser Leopold I. zögerte vor der Krönung, denn er fürchtete einen Machtanstieg für die protestantischen Fürsten und versuchte noch, Friedrich zum Übertritt in den katholischen Glauben zu bewegen. Das war allerdings völlig illusorisch, denn Friedrich hatte nicht nur seinem Vater geschworen, dem evangelischen Glauben treu zu bleiben, sondern hätte es sicher auch auf Grund seiner Überzeugung nicht getan.[30]Vgl. Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984. S. 68.

Friedrich Wilhelm I.

Friedrich Wilhelm I. schien in vielerlei Hinsicht das Gegenteil seines Vaters gewesen zu sein. Doch wollte er letztendlich nicht alles anders machen, sondern vieles besser. Für ihn wog das Staatsinteresse stärker als die Meinung des Regenten. Dabei waren ihm die beiden evangelischen Konfessionen gleichwertig.[31]Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 180.

„Wahs die Religion anlanget, so bin ich und werde mit Gottes hülfe Reformiret sehlich sterben, indeßen bin versicherdt, das ein Lutterischer, der dar gottsehlich wandeldt, eben so guht sehlich werde als die Reformirte“[32]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading

Er war von der Prädestinationslehre, der universellen Gnadenlehre[33]Die Gnadenlehre besagt, dass Gott allen Menschen ohne Unterschied seine Gnade bietet und gewährt. Das bedeutet, dass man Gnade nicht besitzen kann. Sie wird einem verheißen. und dem Halleschen Pietismus August Hermann Frankes geprägt. Franke lehrte den Pietismus mit seinen Idealen an den Schulen. Es waren die gleichen Ideale, mit denen Friedrich Wilhelm I. von Kindheit an aufwuchs.[34]Vgl. Mast, Peter: Die Hohenzollern in Lebensbildern. Graz, 1988. S. 106. Friedrich Wilhelm I. verstand sich ganz und gar als Herrscher durch Gottes Gnaden. Daher nahm auch in seinem Testament der Glaube eine entscheidende Rolle ein. Neben einem langen Beginn über das christliche Bekenntnis des Königs endet fast jeder Abschnitt mit der Ermahnung, ein gottgefälliges Leben zu führen. Die konfessionellen Einheitspläne seines Vaters verfolgte er nicht weiter, erklärte aber immer wieder, dass der  Unterschied zwischen Lutheranern und Reformierten nur auf den Zankereien der Prediger beruhe und für ihn ein gläubiger Lutheraner einem Reformierten in der Bedeutung gleich sei.[35]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 72.

„das ein Lutterischer, der dar gottsehlich wandeldt, eben so guht sehlich werde als die Reformirte und der unterseidt nur herrühre von die Prediger Zenckereien. Haltet dehrowegen Reformirte und Lutterahner in geleiche würde, tuet sie alle beide Religionen.[36]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading […]
An alle Consistorien in euere Prowincen müßet Ihr scharf anbefehlen, das die Reformirte und Lutterahner auf den kancellen keine Contrawersen tracktieren und absonderlich von der genadenwahl nichts davon tuchiren und sonsten auf den Kancellen nur blohs das reine wohrt Gottes Predigen und Keine Zenckereyen anfangen, sondern müßet Ihr ummer zu einigkeit der beyden Religionen zu bearbeiten trachten.“[37]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading.

Gleichzeitig ermahnte er die Prediger, sich nicht in weltliche Angelegenheiten zu mischen und nicht andere Konfessionen abzulehnen, sondern nur das Wort Gottes zu predigen und nichts anderes.[38]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 73.

„Mein lieber Successor mus die Prediger in beyden Religionen nicht laßen sich in weldtliche afferen mischen, den sie gerne in weldtliche sachen sich misch und müßen kurtz gehalten werden.“[39]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading.

Nur gegen Jesuiten hegte er eine große Abneigung und nannte sie zu vielem Bösen fähig.[40]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 73.

Friedrich Wilhelms außenpolitisches Ziel bestand in der Wahrung und der Festigung von dem, was seine Vorfahren und er erreicht hatten. Deshalb flehte er 1722 in seinem Testament seinen Nachfolger an[41]Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 141., niemals einen ungerechten Krieg anzufangen, da Gottes Gericht scharf sei.

„Bettet zu Gott und fnget niemahlen ein ungerechte Kirg an, aber qozu Ihr recht habet, da laßet nicht ab.[42]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading […]
Mein lieber Succeßor bitte ich umb Gottes willen kein ungerechten krihgk anzufangen und nicht ein agressör sein den Gott die ungerechte Kriege verbohten und Ihr iemahls müßet rechenschaft gehben von ieden Menschen, der dar in ein ungerechten Krig gebliben ist; bedenk was Gottes gericht scharf ist.”[43]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading.

Dabei stand für Friedrich Wilhelm I. im Vordergrund, dass dabei Menschen sterben könnten, was weniger Steuereinträge bedeutete.[44]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986 S. 84.[/f] … Continue reading

Die Nachricht, dass ein kaiserliches Heer in Salzburg einfiel und alle Salzburger Protestanten durchsuchte und teilweise abführte, kam in Windeseile nach Brandenburg-Preußen. Friedrich Wilhelm I., als Herrscher der führenden protestantischen Macht im Reich, erboste sich darüber und lud alle Salzburger Protestanten ein, nach Preußen zu kommen.[45]Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 297-298. Zum gesamten Einwanderungsedikt vom 2. Februar 1732 siehe S. 311. Die für Friedrich Wilhelm I. wichtige Glaubensfreiheit verband er so mit seinen ökonomischen Interessen, denn viele Teile seines Landes waren immer noch unterbevölkert. Schon 1721 hatte Friedrich Wilhelm I. ein besonderes Einwanderungsedikt erlassen, wonach Immigranten ausnahmslos drei Jahre Steuerfreiheit und Befreiung vom Militärdienst gewährt wurde. Sie sollten sich bevorzugt in kaum besiedelten Gebieten niederlassen. Dabei wurde ihnen sämtliches Bauholz und 12,5% der Baukosten erstattet.[46]Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 302-304. So verbanden sich christliche Gesinnung und wirtschaftlicher Nutzen zum Vorteil Preußens.[47]Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 318. Die Hugenotten behandelte er nicht mehr als religiöse Minderheit, sondern wertete sie in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung für den Staat.[48]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986 S. 81.

„Was die francosen oder Refugirte betrift, mus mein Succeßor die Privilegia, die Kurfürst friderich Wilhelm gegehben confirmiren.”[49]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven … Continue reading.

Auch beim Militär hielt er es mit dieser religiösen Toleranz und gewährte seinen katholischen Soldaten mindestens einmal im Monat einen katholischen Gottesdienst. Friedrich Wilhelm I. wollte mit aller Macht verhindern, dass sein Sohn das Heer verkleinere und kündigte ihm und seinen Nachfolgern im Testament von 1733 schwere Strafen Gottes an, wenn er tatsächlich die Zahl der Soldaten verringere. Wenn er stattdessen im Sinne seines Vaters handele, wäre ihm der Segen seines Vaters sicher. Friedrich Wilhelm I. Gottesvorstellung orientiert sich stark an dem strengen, Gerechtigkeit fordernden Gott des Alten Testamentes und bat immer wieder um die Vergebung seiner Sünden. Auch er hatte die Prädestinationslehre der Calvinisten sehr verinnerlicht.[50]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 74. Der Mensch sei nicht von vornherein zum Guten oder Bösen auserwählt, sondern habe es durch seine Taten selbst in der Hand, ob er zu den Auserwählten gehören werde oder nicht. Dabei sah sich Friedrich Wilhelm I. verantwortlich für die Taten seines ganzen Volkes.[51]Vgl. Mast, Peter: Die Hohenzollern in Lebensbildern. Graz, 1988. S. 100. In diesem Geiste fühlte er sich auch verantwortlich für die Taten seines ältesten Sohnes Friedrich, der sich in Friedrich Wilhelms Augen nicht gottesgläubig verhielt.

Friedrich II.

Als aufgeklärter Herrscher stand für Friedrich II. der Staat und nicht der Herrscher an erster Stelle.[52]Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 93. Im Verlauf seiner Regierungszeit konnte jeder so religiös leben, wie er wollte.[53]Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 12.

Während sein Vater Friedrich Wilhelm seinem Glauben entsprechend nur Gott Rechenschaft schuldete, sah sein Sohn seine Aufgabe darin, nach bestem Wissen im Interesse eines Staates zu handeln, als dessen erster Diener er sich sah. Er war ein religiöser Skeptiker, deshalb wurde ihm „Pflicht“ zu einer Art Ersatzreligion.[54]Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 152.

“Es ist sehr gleichgültig für die Politik, ob ein Souverän Religion hat oder nicht. Alle Religionen sind, wenn man sie betrachtet, auf ein mythisches System gegründet, mehr oder weniger absurd.”[55]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen … Continue reading.

Friedrich II. war ein Deist. Deisten glauben an Gott aus Gründen der Vernunft und kritisieren die Verabsolutierung der Bibel. Sie glauben an die Schöpfung durch einen Gott, nehmen aber an, dass dieser Gott im Folgenden keinen Einfluss mehr auf die Geschehnisse im Universum nimmt. Friedrich II. warnte vor der Vernichtung von Aberglauben und Volksfrömmigkeit zu Gunsten einer Religion der Vernunft. Er sah in der christlichen Moral einen „unverzichtbaren Aktivposten“ für das gesellschaftspolitische Leben. Da die Toleranz für den aufgeklärten, preußischen König aus der Überzeugung entstand, dass alle Religionen gleichgeartete oder ähnliche Moralposten haben, waren für ihn alle Konfessionsunterschiede gegenstandlos. In seinem Verständnis hatte ein Staatsführer darauf zu achten, dass jede Konfession und Religion in seinem Land gleichberechtigt den anderen gegenüber ist.[56]Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 14-15. Dieser Topos wird auch in der Ringparabel aus Lessings „Nathan der Weise“ erzählt. Er erkannte, dass die Duldung verschiedenartiger Bekenntnisse dem Staat ökonomische Vorteile verschaffe, Intoleranz statt dessen den wirtschaftlichen Kredit ruiniere.[57]Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 21. Toleranz war für ihn eine Frage der Zweckmäßigkeit und ein Mittel der Staatsräson (Staatszweck).“[58]Zit. nach: Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 22.. Toleranz als „ein humanitäres und ein machtstaatliches Anliegen gleichermaßen.“[59]Zit. nach: Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 28.. Nicht als Frage des Ob, sondern des Wie. Während seine Ahnen religiös Verfolgten Asyl gewährte, räumte es gewährte Friedrich II. auch politisch Verfolgten ein.[60]Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 26.. Dieser Durchbruch vollzog sich ab 1740, unabhängig der Konfession, ob Muslim oder Ungläubiger.[61]Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 246-248.

Friedrich II. besaß eine rationale Religiosität die den Rechtfertigungsglauben seiner Vorfahren gänzlich ablehnte.[62]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 68. Gericke sieht in dem übermäßigen formalistischen  Religionsunterricht, dem Friedrich II. ausgesetzt war, einen hauptsächlichen Grund für das Abstumpfen dessen religiöser Empfindung.[63]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 70. Dennoch bleibt er der protestantischen Religion nahe verbunden. In seinen „Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg“ von 1751 begründet er durch den freiheitlichen Geist und die Unabhängigkeit zum Papst die Vorteile der protestantischen Religion.[64]Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 80. Dem Katholizismus gegenüber war er aufgeschlossen und tolerant.

„Ich suche gute Freundschaft mit dem Papst zu halten, um dadurch die Katholiken zu gewinnen und ihnen begreiflich zu machen, daß die Politik der Fürsten die gleiche ist, selbst wenn die Religion, deren Namen sie tragen verschieden ist. Indessen rate ich der Nachwelt, dem katholischen Klerus nicht zu trauen, ohne zuverlässige Beweise seiner Treue zu besitzen.“[65]Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen … Continue reading.

Er blieb jedoch skeptisch, was besonders die Sympathien des schlesischen Klerus‘ für Österreich betraf. Sein Eintreten für die Protestanten hatte auch  starke politische Gründe.

„Die große Zahl der Katholiken findet sich in Schlesien. (…) Die Priester sind ziemlich zuverlässige Leute, die Mönche neigen mehr zum Hause Österreich.“[66]Zit. nach.: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): … Continue reading.

Schluss

Nicht alle Herrscher Brandenburg-Preußens verfolgten religiöse Ansichten, aber die Religion bei spielte bei den ersten drei Landesherren eine wichtige Rolle. Dabei ergänzte jeder die Bedeutung der Religion um bestimmte Ausprägungen, die ihm besonders wichtig waren.  Für den großen Kurfürsten, Friedrich Wilhelm, war es die Auserwählung, für seinen Sohn Friedrich III./I. der Glaube an die Prädestinationslehre und das erfolglose Streben nach einer Union der protestantischen Konfessionen. Bei Friedrich Wilhelm I. nahmen die Prädestinationslehre, die Gnadenwahl und der Pietismus großen Einfluss auf das Leben des preußischen Königs. Die pietistischen Ideale, die Friedrich Wilhelm I. auslebte und sie in der Bevölkerung und im Heer verankerte, führten schließlich zu „den“ so genannten preußischen Idealen und entwickelten sich vom religiösen zum gesellschaftspolitischen Ideal und verankerten sich die preußischen Ideale im ganzen Reich als Preußen zur führenden deutschen Macht aufgestiegen war und gelten noch heute als typische Eigenschaften der Deutschen.

Erst der Sohn von Friedrich Wilhelms I., König Friedrich II., der erste nicht-absolutistische Herrscher Preußens, stand die Religion nicht an erster Stelle der Staatsräson.

Ein wichtiger Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch die Testamente zieht, ist die religiöse Toleranz, Die Toleranz des zum Calvinismus konvertierten Johann Sigismund, der seiner Bevölkerung ihren lutherischen Glauben ließ, verpflichtete alle folgenden brandenburg-preußischen Herrscher zum Konsens zwischen den Konfessionen. Diese zunehmende Toleranz wurde auch  bei den Bündnissen sichtbar. Während Friedrich Wilhelm noch Gewissensbisse hatte, sich mit dem katholischen Frankreich zu verbünden, annektierte Friedrich II. das katholische Schlesien und akzeptierte damit von vornherein, dass aus einer bisher kleinen eine starke katholische Minderheit wurde, die immerhin ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachte.

Die Religion spielte eine wichtige Rolle im Leben der vier erwähnten Herrscher. Der Verdienst der brandenburgisch-preußischen Herrscher ist die Toleranz gegenüber den Konfessionen und die Cleverness  zu erkennen, dass diese wesentlich zum Staatswohl beiträgt.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

  • Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986.

Literaturverzeichnis

  • Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986.
  • Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984.
  • Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977.
  • Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981.
  • Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980.
  • Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001.
  • Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973.
  • Mast, Peter: Die Hohenzollern in Lebensbildern. Graz, 1988.
  • Nachama, Andreas: Preußische Köpfe. Der Große Kurfürst. Berlin 1989.
  • Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971.
  • Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 72.
2 Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 23.
3 Vater von Albrecht Friedrich.
4 Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S.72.
5 Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 64-65.
6 Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 69.
7 Vgl. Nachama, Andreas: Preußische Köpfe. Der Große Kurfürst. Berlin 1989. S.40. Sie pflanzten zum Beispiel die Kartoffel als Kulturpflanze.
8 Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 37-38.
9, 14 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 181.
10 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 35.
11 Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 67. Vgl. auch: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 180.
12 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S.37.
13 Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 69.
15 Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 104
16 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament Kurfürst Friedrich Wilhelm, Cölln a. d. Spree, 19. Mai 1667. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 184.
17 Vgl. Lackner, Martin: Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten, 1973. S. 70.
18 Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S. 73.
19 Vgl. Oestreich, Gerhard: Friedrich Wilhelm. Der große Kurfürst. Göttingen, 1971. S.79-80.
20 Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 136.
21, 23 Vgl. Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984. S. 146.
22 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Erste Ermahnung Kurfürst Friedrichs III. an seinen Nachfolger. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 214.
24 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 62.
25 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 59.
26, 28 Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 46.
27 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 67.
29 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 60-61.
30 Vgl. Frey, L. und M.: Friedrich I. Preußens erster König. Graz, 1984. S. 68.
31 Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 180.
32, 36 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 234.
33 Die Gnadenlehre besagt, dass Gott allen Menschen ohne Unterschied seine Gnade bietet und gewährt. Das bedeutet, dass man Gnade nicht besitzen kann. Sie wird einem verheißen.
34 Vgl. Mast, Peter: Die Hohenzollern in Lebensbildern. Graz, 1988. S. 106.
35 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 72.
37, 39 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 235.
38, 40 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 73.
41 Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 141.
42 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 237.
43 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 239.
44 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986 S. 84.[/f] Getreu diesem Gedanken reformierte er sein Heer. Er verdoppelte zwar die Anzahl der Soldaten, rief sie aber im Jahr für nur 2-3 Monate zusammen. Die restlichen Monate gingen sie ihrer gewohnten Arbeit nach und sorgten so für fortdauernde wirtschaftliche Erträge für das Königreich.

Dabei halfen ihm die pietistischen Ideale Frömmigkeit, Ehrlichkeit, Fleiß, Zuverlässigkeit, Anstand, Sauberkeit, Geduld, Sittsamkeit, Genügsamkeit, Ordnungsliebe und Pünktlichkeit. Diese Ideale wurden später zu den preußischen Idealen typisiert. Seine persönliche Herrschaft glitt dabei nie in Tyrannei ab, wurzelte er doch in der tiefen Überzeugung, dass er eines Tages seinem Schöpfer für all sein Tun Rechenschaft ablegen müsse.[fn]Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 121.

45 Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 297-298. Zum gesamten Einwanderungsedikt vom 2. Februar 1732 siehe S. 311.
46 Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 302-304.
47 Vgl. Venohr, Wolfgang: Der Soldatenkönig. Revolutionär auf dem Thron. Frankfurt, 1988. S. 318.
48 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986 S. 81.
49 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Instruktion König Friedrich Wilhelms I. für seinen Nachfolger, Potsdam, 17. Februar 1722. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 2355.
50 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 74.
51 Vgl. Mast, Peter: Die Hohenzollern in Lebensbildern. Graz, 1988. S. 100.
52 Vgl. Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. S. 93.
53 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 12.
54 Vgl. Koch, Hannsjoachim W.: Geschichte Preußens. München, 1980. S. 152.
55 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 315.
56 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 14-15. Dieser Topos wird auch in der Ringparabel aus Lessings „Nathan der Weise“ erzählt.
57 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 21.
58 Zit. nach: Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 22.
59 Zit. nach: Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 28.
60 Vgl. Kroll, Frank-Lothar: Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates. Paderborn, 2001. S. 26.
61 Vgl. Heinrich, Gerd: Geschichte Preußens. Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, 1981. S. 246-248.
62 Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 68.
63 Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 70.
64 Vgl. Gericke, Wolfgang: Glaubenszeugnisse und Konfessionspolitik der brandenburgischen Herrscher bis zur preußischen Union 1540 bis 1815. Bielefeld, 1977. S. 80.
65 Zit. nach: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 317.
66 Zit. nach.: Dietrich, Richard: Die politischen Testamente der Hohenzollern. Politisches Testament König Friedrichs II., Potsdam, 27. August 1752. In: Friedrich Benninghoven (Hg.): Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz. Band 20. Köln, 1986. Absatz 315.

Die Reformkleidung der Frauen

Diese Hausarbeit habe ich im Sommersemester 2006 im Proseminar “Lebensreform um 1900” bei Dr. Christina Niem (Kulturanthropologie, Uni Mainz) verfasst.

Einleitung

Die Epoche der „Lebensreform“ um 1900 war ein relativ kurzlebiges Zeitfenster auf dem Weg zu unserer heutigen modernen Gesellschaft. Sie begann Ende des 19. Jahrhunderts und dauerte bis ca. 1914 als die Auswirkungen des 1. Weltkrieges dem Leben seinen ureigenen Stempel aufdrückten. Der Höhepunkt war ca. von 1900 bis 1905. Die Lebensreformer folgten anthroposophischen Lebensweisen. Unter dem Leitsatz: „Zurück zur Natur“ entstand eine Gegenbewegung zur Verstädterung und der Industrialisierung. Propagierte Lebensweisen waren: eine vollwertige Ernährung, die ökologische Landwirtschaft, der Vegetarismus, natürliche Heilverfahren/Naturheilkunde, Nudismus/ FKK, Sexualreform, Siedlungsprojekte wie die Gartenstädte und der Monte Verità, Bodenreform, Antialkoholismus, Gymnastik und Sport, Impfgegnertum, Körperpflege und die Reformkleidung. Bekannte Reformer waren u.a. Maximilian Bircher-Benner, Wilhelm Bölsche, Otto Buchinger, Karl Buschhüter, Adolf Damaschke, Sebastian Kneipp, Arnold Rikli, Johannes Ude, Bruno Wille, Werner Zimmermann, Hugo Höppener (Fidus).

In diesem Gesamtrahmen kam der Reformkleidung eine beachtliche Bedeutung zu, da sie den Übergang zu unserer heutigen Frauenkleidung darstellte.

Grundsätzlich betrachtet besitzt Kleidung eine Zeichenfunktion. Sie ist ein Mittel mit der sich Menschen nach außen zur Allgemeinheit hin präsentieren. Die Allgemeinheit nimmt einen Menschen als erstes über seine Kleidung, sein Auftreten, wahr und taxiert ihn oft danach. Die Kleidung, die Teil der Sachkulturforschung ist, ist ein kultureller Indikator sozialer Prozesse. Aus ihr lassen sich Schlüsse auf die soziale Stellung ihres Trägers ziehen. Zudem ist sie ebenso Mittel zur Ausgrenzung wie auch zur Abgrenzung innerhalb einer Gesellschaft bzw. innerhalb geschlechtsspezifischer Differenzen. Durch die Kleidung lassen sich weiterhin Schlüsse über die Konformität oder Individualität einer Person ziehen. Helge Gerndt beschreibt in seinem Buch „Kleidung als Indikator kultureller Prozesse“ eben diese Eigenschaft der Kleidung. Die Thematik der Reformkleidung ist in speziellem Maße auch ein Punkt der Körperlichkeit, der Hygiene und Krankheit, dem Umgang mit Unterkleidung und der Vorsorge bei der Menstruation.

Ich untersuche in dieser Hausarbeit inwieweit die Bewegung der Reformkleidung der Frau eine für die Lebensreform typische Reformbewegung war mit den wichtigen lebensreformerischen Aspekte der Verwissenschaftlichung, Hygienisierung und Ästhetisierung. An der Kleidungsreform hatten zwei Gruppen hauptsächlichen Anteil, die sich allerdings nicht in allen Fragen einig waren. Für die erste Gruppe, die Lebensreformer, war die Reform der Kleidung Teil des ganzheitlichen Wandels. Die zweite Gruppe, die Jugendstil-Künstler, wollten eine Änderung der Kleidung, um aus ihr so ein architektonisches Meisterwerk zu machen.

„Status quo“ vor der Kleiderreform-Bewegung

Hosen symbolisierten im Abendland Männlichkeit.[1]Daher trugen früher kleine Jungen immer Kleider, bis sie ab der Pubertät Hosen tragen durften. Frauen dagegen ihr Leben lang nicht. In vielen anderen Kulturen dagegen, z.B. in  China und in Arabien, gehören Hosen bzw. hosenartige Beinkleider schon länger zur Alltagskleidung von Frauen.[2]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 11.

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit wurde von den Landesfürsten Kleiderordnungen für die verschiedenen Stände und Gruppen (z.B. Juden oder Prostituierte) erlassen. Nach dem langwierigen Zerfall der Stände orientierte man sich seit der Aufklärung an der Pariser Mode.[3]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 22. Mode bekam den Status eines Luxus-Gegenstandes. Sie war teuer und wollte man mit der Mode gehen, musste diese immer wieder neu gekauft werden.[4]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 126. Wer von unteren Gesellschaftsschichten aufsteigen konnte, weil er zu Vermögen gekommen war oder auch nur diesen Anschein erwecken wollte, dokumentierte dies durch die Mode der höheren, vermögenderen Schichten. Es war eine Mode, die durch Korsetts aus Fischbein und Metallstangen, Tornüre (auch Krinoline genannt)[5]Eine Tornüre oder Krinoline ist ein künstliches Gestell über dem Gesäß, das dem darüber getragenen Rock die modisch aufgebauschte rückwärtige Betonung. und möglichst verschiedene Stoffe mit vielen Applikationen und Accessoires geprägt war. Je üppiger die Kleidung gearbeitet war, umso mehr Luxus und Reichtum zeigte man nach außen.[6]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 123. Nach dem Schönheitsideal jener Zeit wurde die weibliche Brust und das Gesäß sehr betonend herausgestellt und der Bauch möglich flach gedrückt. Als seitliche Silhouette entstand so eine S-Kurve.[7]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 31. Hierzu trug man eine aufgetürmte Lockenfrisur.

Anna Kühn errechnete in ihrem Buch das Gewicht der durchschnittlichen Frauenkleidung. Ein Hemd, ein weißes Beinkleid[8]Der Begriff „Beinkleid“ bezeichnet hier den Unterrock, der Begriff „geschlossenes Beinkleid“ eine Unterhose. Unterröcke gefährdeten die Gesundheit, da sich durch die Wärme Bakterien … Continue reading, ein Korsett, eine Kleidertaille, 2 Unterröcke und ein Kleiderrock ergaben ein Gewicht von 4,3kg. Dabei wogen alleine die drei Röcke 2,7kg und machen somit mehr als die Hälfte des Gesamtgewichtes aus. Allerdings wurden oft mehr als 3 Röcke getragen, im Winter war es meistens die doppelte Menge.[9]Vgl. Kühn, Warum können wir, 1901. S. 170. Da die Röcke aufsaßen, musste das beachtliche Gewicht alleine von den Hüften getragen werden. Ein Umstand, der auch angesichts der Einschnürung der Taille oft zu einer Überbelastung und Deformierung der Organe und zu Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt beitrug.

Die verbesserte Frauenkleidung bei den Frauenbewegungen

Außerhalb Deutschlands

Erste Veränderungen der Frauenkleidung entstanden bei Gruppierungen wie den Frühsozialisten und Quäkern. Diese lehnten hierarchische Strukturen ab, propagierten die Geschlechtergleichheit und waren so eine wichtige ideologische Basis in Sachen einer verbesserten Frauenkleidung im Allgemeinen und der Etablierung einer Frauenhose als Unterkleidung im Besonderen.[10]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 43.

In den USA entwarf die Quäkerin Amelia Bloomer ein Kostüm, das aus einer Jacke, einer langen Unterhose und einem kürzeren Rock darüber bestand und verbreitete es in ihrer Zeitschrift „The Lily“ 1851. Dieses Kostüm hatte sie nach einem Hosenkostüm eines Schweizer Sanatoriums entworfen, das sie bei einer Bekannten sah. Es sollte vor Kälte, Krankheiten und peinlichen Momenten schützen, bequem sein und man sollte sich darin sehr gut bewegen können.[11]Vgl. ebd. S. 50f. Doch die allgemeine Empörung des Establishments über die vermeintliche Vermännlichung der Frau und die Angst der Frauen vor einer gesellschaftlichen Isolation schreckte diese vor dem Tragen dieses Kostüms ab.[12]Vgl. ebd. S. 60. Das Bloomer-Kostüm fand daher keine Akzeptanz. Allerdings berichtete die ausländische Presse hierüber und so verbreitete sich  dieses Thema auch in Europa.

In England kam es um 1880 mit dem „Aesthetic Movement“ zu einer Neugestaltung der Frauen-kleidung, indem man auf mittelalterliche Schnittformen zurückgriff. In Norwegen standen die gesundheitlichen Aspekte im Vordergrund. Angesichts der Schädigung der weiblichen Organe durch das Tragen schwerer Kleidung wollte man die Last auf die Schultern verlagern. Fröken Christine Dahl brachte ihre Entwürfe zum deutschen internationalen Kongress 1896 mit und stellte sie dort vor. Ihre Kleidung hatte sie nach dem amerikanischen Vorbild entworfen und berücksichtigte hygienische Grundsätze.[13]Vgl. Stamm, Reformkleidung, 1976, S. 45. Aber, sowohl in Norwegen wie auch in England kam die neue Art der Kleidung ebenso wenig bei der breiten Bevölkerung an wie die Jahrzehnte vorher in den USA.

Innerhalb Deutschlands

Seit den 1880er Jahren beschäftigte sich die deutsche Presse mit den ausländischen Reformbestrebungen der Frauenkleidung.[14] Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 90. Besonders die Modezeitschrift „Gartenlaube“ kritisierte die vorherrschende Mode und verwies auf die gesundheitliche Gefährdung der Frau. Die Zeitschrift forderte, dass die Kleidung den Gesundheitskriterien der Ärzte (siehe Kapitel 4.1) entsprechen müsse und plädierte für das Tragen eines geschlossenen Beinkleides. Dessen Akzeptanz bedingte aber auch eine Verhaltensänderung der Frauen bei der Verrichtung der Notdurft und im Umgang mit der Menstruation. Die Zeitschrift stellte jedoch die herrschende Mode nicht in Frage.[15]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 27. Die breite deutsche Gesellschaft kritisierte die neuen Bestrebungen. Nur wenige Frauen hatten den Mut, die reformierte Kleidung zu tragen, zu groß war die Angst vor gesellschaftlicher Ächtung. Trotzdem drangen die Gedanken der Reformer mit der Zeit immer tiefer und breiter in die Gesellschaft ein.

Institutionalisierung: Der Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung

Ausgelöst durch das Bloomers-Kostüm wurde in Berlin vom 19.-26. 9.1896 mit internationaler Beteiligung der „Internationale Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen“ abgehalten. Einen Monat später gründete sich der „Verein für Verbesserung der Frauenkleidung“ mit dem Motto „gesund – praktisch – schön“. Seine Leitsätze standen alle unter dem gesundheitsgefährdenden Aspekt der für die Änderung der Frauenkleidung sprach.[16]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 46f. Die Leitsätze waren: Vereinfachung der Unterbekleidung, Entlastung der Hüften, freie Gestaltung des Obergewandes mit Anlehnung an die Mode, Verkürzung des … Continue reading Mit der Gründung des Vereins nahmen sich nun auch verstärkt bürgerliche Frauen des Themas Frauenkleidung an. Der Verein forderte zwar eine verbesserte Kleidung, allerdings in Anlehnung an die herrschende Mode. 1) Ein anliegendes Hemd und Beinkleid oder Hemdhose aus durchlässigem, waschbarem Geweben, 2) Ein Leibchen oder Büstenhalter an Stelle des Korsetts und ein geschlossenes Stoffbeinkleid an Stelle der Unterröcke. 3) Ein fußfreies Straßen- und Arbeitskleid.[17]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 95. Da sich die Korrekturen auf die Untergewänder bezogen, war der Unterschied zur herrschenden Mode nach außen kaum sichtbar, wenn man von der Forderung des fußfreien Arbeitskleides absieht. Das neuartige Mieder ersetzte das Korsett und hatte den gesundheitlichen Vorteil, dass das Schnüren entfiel und somit das schwere Gewicht der gesamten Kleidung von den Schultern und deren kräftigen Knochen gehalten wurde und nicht mehr von der fragilen Taille.[18]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 27. Vom 11.-24. April 1897 fand die erste Ausstellung des „Vereins für Verbesserung der Frauenkleidung“ in Berlin statt, an der sich 35 Firmen aus Industrie und Handwerk beteiligten und die 8.500 Besucher zählte.[19]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 48. Auf den folgenden Seiten geht Brigitte Stamm die Thematik tiergehender ein. Durch intensive Aufklärungsarbeit und Vortragsveranstaltungen von Frauenbewegungen und Ärzten wollten die Reformer ihre sozialreformerischen Ideen verbreiten. Durch Auskunftssitzungen, Vorträge, Ausstellungen oder Ausstellungsbeteiligungen und Drucksachen (Bilderbögen, Flug- und Merkblätter und Vereinszeitschriften) machte man das Thema in der Öffentlichkeit präsent.[20]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, 51f. Der Verein hatte allerdings kaum Mitglieder aus der breiten Gesellschaft und war somit keine Organisation der breiten Masse.[21]Vgl. ebd. S. 87.

Die „lebensreformerischen Aspekte“ bei der Reformkleidung

Hygienisierung und Verwissenschaftlichung

Die gesundheitliche Gefährdung durch das Tragen des Korsetts und der Schleppe wurde von Ärzten schon seit Jahrzehnten angemahnt. Das Interesse, die Frauenkleidung zu verbessern war bei den Medizinern hauptsächlich von dem Wunsch nach gesundem Nachwuchs geprägt. So war das Interesse an einer gesünderen Kleidung erst einmal ein Mittel zum Zweck, für die Frauen aber letztendlich ein wichtiger Nebeneffekt.[22]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 38f.

Um 1900 waren Korsett und Schleppe am Straßenkleid Hauptkritikpunkte der Mediziner.

Dem Korsett schrieb der Arzt Neustätter viele Krankheiten zu.[23]Vgl. Stamm, Reformkleid in Deutschland, 1976, S. 38f. Mädchen wurden schon früh geschnürt, weil man so am effektivsten die Taille in die gewünschte Form schüren konnte. Die Straßenschleppe entstand durch einen eng an den Oberschenkeln anliegender Rock, der immer auf dem Boden schleifte und so Dreck und Exkremente vom Boden von der Straße in die Wohnung trug.[24]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 118f. Zwar versuchten die Frauen, die Schleppe hochzuhalten, brauchten dafür aber unbedingt beide Hände, was bei Einkäufen oder Regen nicht möglich war. Auf diese Weise wurde besonders die Tuberkulosegefahr thematisiert.[25]Vgl. ebd. S. 101f. 1908 verschwand die Schleppe dann aus der Mode.[26]Vgl. ebd. S. 121.

Das Bild des „schwachen“ und immer krankenden Geschlechtes wurde durch die herrschende Mode verstärkt. Einerseits war die Frau durch die beschränkte Bewegungsfreiheit sehr auf die Hilfe ihre männlichen Mitmenschen angewiesen und erkrankte andererseits durch die Folgen des Schnürens und die unhygienischen Folgen der Schleppe und der offenen Beinkleidung.

Neben den Ärzten beschäftigten sich auch Soziologen mit der Mode. In dieser Arbeit seien als Beispiel Georg Simmel und sein Werk „Philosophie der Mode“ (1895) und Werner Sombart mit „Mode und Wirthschaft“ (1902) genannt. Beide Autoren betrachteten aus verschiedenen Perspektiven die Mode als gesellschaftliches Phänomen. Sombart aus nationalökonomischer, Simmel aus sozialpsychologischer Sicht.

Mode war für Simmel eine Möglichkeit zur Anerkennung für labile, unselbstständige Menschen. Sie lädt zum Nachahmen ein und zur äußerlichen Abgrenzung. Sombart kam nach Gesprächen mit Großindustriellen zum Schluss, dass Kleidung nicht von ihren Trägern bestimmt wird, sondern von den Herstellern. Diesen sei allerdings nur der Profit wichtig. Die Mode trägt nach seiner Meinung zur Vereinheitlichung und nicht zur Individualisierung bei. Er formulierte in seinem Werk aber keine Verbesserungsvorschläge.[27]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 92-95f. Einig waren sich beide in der Meinung, dass die herrschende Mode eine Begleiterscheinung der Industrialisierung und Urbanisierung des 19. Jahrhunderts sei. Die Nervosität dieser Epoche könne man auch in der ständig wechselnden Mode erkennen.[28]Vgl. Ebd., S. 90.

Ganz besonders nahmen sich aber die Lebensreformer der Verbesserung der Frauenkleidung an. Sie forderten eine natürlichere Kleidung, die den Körper nicht beeinträchtigt, sondern in dem man sich völlig frei bewegen konnte.[29]Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974. S. 9. Der Nudist Hugo Höppener, genannt Fidus, entwarf mit seinem Lehrer Karl Wilhelm Diefenbach für seine Kinder und Frauen … Continue reading Die herrschende Mode war ein Spiegel der industrialisierten Gesellschaft, die sich immer weiter von der Natur und der Natürlichkeit entfernte und sich selber krank machte.[30]Vgl. Linse, Das „natürliche“ Leben, 1998. S. 444.

Ein Lebensreformer war auch der Arzt und Zoologe Gustav Jäger. Er gehörte zu den wichtigsten frühen Vertretern der Kleiderreform. Er propagierte in seinem Werk „Die Normalkleidung als Gesundheitsschutz. Gesammelte Aufsätze aus dem „Neuen Deutschen Familienblatt“ (1872-1880)“ von  1881 seine Jägersche Normalkleidung aus Wolle, die sehr schnell Zuspruch fand.[31]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 23f. Er entwickelte zu den Körperausdünstungen eine Seelentheorie, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann.[32]Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974, S. 108f. Ebenso: Stamm Reformkleid in Deutschland, 1976, S. 16f.

Heinrich Lahmann[33]Lahmann hatte Medizin studiert und unterhielt das Sanatorium „Weißer Hirsch“ bei Dresden., ein Kritiker Jägers, kritisierte die Wollkleidung als gesundheitsschädlich, da sie eine permanente Hautreizung bewirke. An ihrer Stelle wollte Lahmann die Baumwolle verwendet wissen, da sie luftdurchlässig sei, den Schweiß aufsauge und die Haut weder verkühle noch reize und erhitze.[34]Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974, S. 109. Dieser Meinung war auch der Pfarrer Sebastian Kneipp. Für ihn war es wichtig, dass Menschen nicht nur angemessene Kleidung trugen, sondern für eine Abhärtung des Körpers sorgten, um seltener krank zu werden. Auch propagierte er ein richtiges Maß an Kleidung, da zu viel Kleidung auch krank machen könne.[35]Vgl. Kneipp, So sollt ihr leben, S. 35f. Er hatte die Erfahrung gesammelt, dass Rheumakranke in Wolle gekleidet oftmals Krämpfe von Kopf bis Fuß hatten, über kalte Füße klagten und dass ihnen das Blut in den Kopf schoss. Bei Kleidung aus Leinen aber machte er diese Beobachtung sehr selten.[36]Vgl. ebd. S. 42. So konstatierte er, dass man in Wolle mehr schwitzte, da die Wolle keine Körperwärme ableite und der eigene Schweiß kühle und man friere. Für den Sommer empfahl er daher eine lockere Tuchhose aus Baumwolle als Unterkleidung, für den Winter eine Leinenunterhose.[37]Vgl. Kneipp, So sollt ihr leben, 1890, S. 44f. Als Oberbekleidung sollte man nichts zum Schnüren oder Binden tragen, sondern nur Kleidung die Schultern getragen wird und bei der Arbeit kein Hindernis ist.[38]Vgl. ebd. S. 51. Alle Lebensreformer waren sich einig, dass Kleidung luftdurchlässig sein müsse, um „allen durch die Haut entweichenden ausscheidungsbedürftigen Stoffen freien Durchgang“ zu gewähren. Neben nicht einengender Kleidung und geschlossener Unterwäsche sowie einem guten Material erkannte man auch die Wichtigkeit der Bewegung. Sport wurde im 19. Jh. zunächst nur von Männern ausgeübt. Bei Frauen befürchtete man eine Gefährdung der Fortpflanzungsorgane. Da aber seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bekannt war, dass Bewegung die Gesundheit stärkt und viele Krankheitssymptome verschwinden lässt, empfahl man nun Frauen Spazierengehen oder maßvolles Tanzen, um so das „schwache Geschlecht“ nicht zu überfordern. Um 1900 fand dann aber auch für Frauen der Sport eine gesellschaftliche Akzeptanz. Hierfür  brauchte man jedoch lockere Kleidung, um sich frei bewegen zu können. Sport, Turnen und Gymnastik waren neue gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Möglichkeiten, die es Frauen erlaubte, Kleiderexperimente zu wagen die später in die Alltagskleidung einflossen.[39]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 104. 1900 wurden erstmals Frauen bei den Olympischen Spielen zugelassen.[40]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 31. In der Kunst bracht der Ausdruckstanz eine neue Repräsentation des weiblichen Körpers auf die Bühnen.[41]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 151f.

Ästhetisierung

Die Jugendstil-Künstler waren in allen Bereichen der Lebensreform anzutreffen, besonders in der Gartenstadtbewegung. Aber auch bei der Reformkleidung, die sie nach architektonischen Idealen neu entwarfen. Diese Ideen hatten in der englischen Arts-And-Crafts-Bewegung ihren Ursprung. Sie propagierten einen schlanken Frauenkörper, der von der Kleidung umflossen und nicht geformt wurde.[42]Vgl. ebd. S. 26.

Für die Kleiderreform wichtige Jugendstil-Künstler waren Alfred Mohrbutter, Richard Riemerschmid, Peter Behrens, Gustav Klimt und besonders der Wortführer Henry van de Velde (1863-1957), ein belgischer Architekt, Designer und einer der wichtigsten Jugendstil-Künstler. Unter dem Einfluss der englischen Arts and Crafts-Bewegung begann van de Velde, Möbel und Inneneinrichtungen zu entwerfen. Er zog nach Deutschland, wurde Leiter der Kunstgewerbeschule Weimar und im selben Jahr Gründungsmitglied des Deutschen Werkbundes. Nach dem 2. Weltkrieg zog er in die Schweiz.[43]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 98f.

Er wollte, dass neue Formen Kunst und Leben durchdringen sollten. Deswegen entwickelte er eine neue Ästhetik der Frauenkleidung, die in den Stil der Moderne integriert werden sollte.[44]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 90.

Van de Velde übte in 8 Punkten Kritik an der herrschenden Mode.[45]Vgl. Stamm Reformkleid, 1976. S. 53f. Er kritisierte besonders den Historismus mit seiner Stoffvielfalt, unsichtbare Nähte und Imitationen von Seide, Spitze, Samt und Wolle. Die Materialgerechtigkeit der Jugendstil-Künstler benutzte für einen bestimmten Zweck einen bestimmten Stoff.[46]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 113f. Kleidung, die nicht den natürlichen Anforderungen entspreche, sei moralisch verwerflich und ein Kleidungsstück verliert seine Funktion, wenn eine unlogische Konstruktion Gliedmaßen und Gelenke nicht erkennen lässt und so die Schönheit der weiblichen Gestalt verloren geht.[47]Vgl. ebd. S. 116-118. Das zentrale Anliegen den Jugendstils sei es, alle Bereiche des Lebens künstlerisch neu zu durchdringen, durch Vernunft, Logik, Schönheit und Moral adäquate Gestaltungsprinzipien zu finden.[48]Vgl. ebd. S. 121.

Auf mehreren Ausstellungen um 1900 in deutschen Städten hatten auch Lebensreformer die Möglichkeit dort ihre selbstentworfenen Kleider zu präsentieren. Die dort ausgestellten Kleider zeigten deutlich, dass jeder Künstler unterschiedliche Zielsetzungen verfolgte. So war es für den einen die Dekoration, für einen anderen die malerische Auffassung und für den Dritten das architektonische Prinzip am wichtigsten. Ab 1903 konnte man im Berliner Warenhaus Wertheim solche Künstlerkleider sogar kaufen. Dadurch wurde die Reformidee deutlich popularisiert.

Die Jugendstil-Künstler gehörten zum „Deutschen Werkbund“. Er wurde 1907 in München gegründet und beschäftigte sich mit Einsetzen des 1. Weltkrieges u.a. auch intensiv mit der Gestaltung der Frauenkleidung.[49]Vgl. ebd. S. 138. Daran war Anna Muthesius, die Frau des Initiators des Deutschen Werkbundes, in besonderem Maße beteiligt. Sie forderte, Frauen sollten nicht alle gleich aussehen, sondern unterschiedliche Kleidung, passend zu ihrem Charakter und ihrer Ästhetik tragen und so ihre Individualität ausdrücken. Sie sollten lernen, einen eigenen Geschmack zu entwickeln[50]Vgl. ebd. S. 144f.. Gleiches forderte auch der Künstler Alfred Mohrbutter. Ihm gefiel das Reformkleid der Lebensreformer aus ästhetischen Gründen nicht, er schätzte aber dessen Funktion.[51]Vgl. Mohrbutter, Das Kleid der Frau. Darmstadt, 1904, S. 9f.

Viele Jugendstilkünstler wie van de Velde und Mohrbutter verhielten sich in der „Korsettfrage“ zurückhaltend. Aber der Architekt und Publizist Paul Schultze-Naumburg forderte in seinem Buch „Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung“ die Abschaffung des Korsetts aus hygienischen und ästhetischen Argumenten. Er berücksichtigte alle ästhetischen Gestaltungsprinzipien bei seinen Überlegungen, wie man Kleidung ohne Korsett am Körper befestigen könne. Er unterstützte die Aufhängung der Kleidung an den Schultern. Dort verbiege sie nichts und hindere auch nicht am Atmen.[52]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 140f. Schultze-Naumburg ermahnte die Frauen auch, sofort nach dem Ablegen des Korsetts mit Gymnastik und sonstiger Bewegung zu beginnen.[53]Vgl. ebd. S. 172f.

Auch für Carl Stratz waren Gesundheit und Schönheit unmittelbar verbunden. Stratz ließ Frauen vermessen und suchte dafür Frauen unterschiedlicher Figur, um so besser den Mittelwert zwischen unterster und oberster Grenze zu finden und errechnete damit für verschiedene Körperteile. Diese Werte wurden für unsere heutigen Konfektionsgrößen wichtig.[54]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 165f.

Die Betonung der Natürlichkeit des Körpers, die Befürwortung des antiken, griechischen Typus in der Aktdarstellung spielte für ihn eine große Rolle. Das Ideal des nackten, unverkümmerten menschlichen Körpers bildete die Grundlage für die neu zu entwerfende Kleidung und führte nicht nur bei Stratz, sondern bei allen Jugendstil-Künstlern zu einer Wiederaufnahme der Renaissance- bzw. des antiken Kleidungsstils.[55]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 125. Die Anknüpfung an die Antike oder die Beschäftigung mit anderen, meist außereuropäischen Völkern, legitimierte den Blick auf den nackten Frauenkörper nach Schultze-Naumburg. Er stellte zudem die These auf: Je höher die vermeintliche Entwicklung der Rasse, desto ausgeprägter die sekundären Geschlechtsmerkmale. Am ausgeprägtesten wäre die „weiße Rasse“.

Stratz erläutert in seinem Buch „Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung“ drei Formen von Nacktheit: Die „natürliche Nacktheit“ zeigt sich bei „niederen Rassen“, die keine Schamhaftigkeit bei Nacktheit zeigten, sondern sich in natürlichen Stellungen fotografieren lassen. Europäerinnen zeigen dagegen die „sinnliche Nacktheit“ mit Niederschlagen der Augenlider als Äußerung des Schamgefühls und unwillkürliche Bedeckung der Brüste und des Intimbereiches. Die dritte Form der Nacktheit sei die „künstlerische Nacktheit“. Diese Form ist weit von den anderen entfernt und Folge der Rückwendung zu der Natur und der Natürlichkeit, wie Gott den Menschen geschaffen hat.[56]Vgl. Stratz, Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung, 31904, S. 22.

Der breite Durchbruch

Noch 1894 war es üblich, dass die Frau den Haushalt führte, aber nicht außerhalb des Grund-stückes arbeitete. 1900 war es der Normalfall, dass die Frau den Haushalt erledigte, aber auch außerhalb des Grundstückes arbeitete. Die öffentliche Meinung, dass sich eine Frau um Haushalt und Nachwuchs kümmern und nicht außerhäuslicher Arbeit nachgehen soll, war im Alltag nicht mehr umsetzbar.[57]Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 33. Viele Arbeiterfamilien waren so arm, dass nicht nur die Frauen, sondern sogar Kinder mithelfen mussten; sowohl im Haushalt als auch in außerhäuslichen Arbeiten.[58]Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 152.

Wenige Jahre später veränderte sich die Pariser Mode. Der Pariser Modemacher Paul Poiret stellte 1911 eine neue, vereinfachte Mode vor mit überschlanken Hüften und dem Hosenrock – die Resonanz war aber hauptsächlich negativ.[59]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 223. Diese neue, vereinfachte Mode hemmte das Bekanntwerden der Reformkleidung.[60]Vgl. Stamm, Reformkleid in Deutschland. Berlin, 1976. S. 140.

Im ersten Weltkrieg sah man, dass Frauen durchaus in der Lage waren, so genannte Männerberufe auszuüben. Für die Männerarbeit sollten die Frauen während ihrer Arbeitszeit vorerst die männliche Arbeitskleidung tragen.[61]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 212. Das waren lange Hosen und Kittelblusen oder Arbeitsjacken.[62]Vgl. ebd. S. 197f. Durch das nun selbstverständliche Tragen von Hosen bei Frauen – wenn auch nur zwangsläufig bei der Arbeit – verwischte die Grenzen zwischen den Geschlechtern allmählich. So ging die Frau gestärkt und mit neuem Selbstbewusstsein aus dem Krieg heraus. Sie war in ehemalige Männerdomänen unwiderruflich eingedrungen[63]und hatten auch gelernt bzw. lernen müssen, ohne den Mann auszukommen, für ihre Kinder zu sorgen und durch die eigene Arbeit den Lebensunterhalt zu sichern. So schienen eigentlich Jahrzehnte … Continue reading

Während der 1930er Jahre erlebte die Frau durch die NS-Ideologie einen „Rückschlag“, sollte sie doch wieder nur als Mutter und Ehefrau im Haushalt arbeiteten. Doch der zweite Weltkrieg brachte eine tiefe Zäsur und es waren die Frauen, die an Stelle der Männer, die als Soldaten eingezogen waren, auch schwere Männerarbeit in den Fabriken leisten mußten.[64]Vgl. ebd. S. 248-250.

Nach dem Krieg wurde die Frau weiterhin als Arbeiterin gebraucht, man denke nur an die legendären Trümmerfrauen. Mit dem Wiederaufbau der Industrie, die Arbeitskräfte brauchte, und der Wandlung der Gesellschaft wurden immer mehr Frauen berufstätig. Die Mode der Nachkriegsjahre war weiblich, aber man schätzte immer mehr das praktische an Hosen, besonders im Winter. Bei kleinen und größeren Kindern schätze man im Alltag besonders den Vorteil von Latzhosen, boten sie durch die Regulierungsmöglichkeiten eine mehrjährige Verwendung in der Wachstumszeit der Kinder. Später kamen die Halbhosen als Trainingshosen oder Skihosen, auch Lastexhosen genannt, hinzu. Die Kinder schätzten auch als Jugendliche und später als Erwachsene den Vorteil der Hosen, die immer modischer wurden. Besonders junge Menschen trugen gern und oft die neuen Frauenhosen, damals allerdings noch mit züchtigerem, seitlichem Reißverschluss und freuten sich, den „American Look“ tragen zu können. Mit der weitergehenden Liberalisierung der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Etablierung der Jeans glich sich auch der Hosenschnitt immer mehr jenen der Männer an, ja, Frau trug sogar eigentlich für Männer geschneiderte Jeans. Und diesmal blieb der laute Protest aus.[65]Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 262f. Es ging nicht mehr um das Ob des Hosentragens, sondern um das Wie. Die Hose wurde nicht nur ein Modefaktor, sie wurde immer mehr Zeichen des Protestes von überwiegend  jungen Menschen, die sich gegen die Gesellschaft auflehnten. Zur Zeit der Studentenrevolten konnte man auch „Bloomers“ kaufen, die stark an die Pluderhosen des Bloomer-Kostüms erinnern.

Seitdem ist es völlig normal, dass Frauen zu allen Gelegenheiten  Hosen tragen.[66]Vgl. ebd. S. 268-270.

Schlusswort

Durch Ärzte und Wirtschaftler erfolgte eine Diskussion auf wissenschaftlicher Ebene, die Lebensreformer traten mit den Ärzten für eine Hygienisierung und damit verbesserte Lebensqualität ein und die Künstler des Jugendstils entwarfen Kleidung nach ihren ästhetischen Ideen.

Die Reformkleidung wurde in Deutschland von ca. 1898 bis 1910 getragen. Die Kleidung der Jugendstil-Künstler betrifft sogar nur den Zeitraum 1900 bis 1904. In dieser Zeit schaffte es die Reformkleidung nicht, sich gegen die herrschende Mode durchzusetzen. Erst durch die veränderten gesellschaftlichen Strukturen nach dem 1. Weltkrieg hielten ihre Ideale Einzug in die breite Gesellschaft. Hier ist eine Gemeinsamkeit mit anderen lebensreformerischen Themen zu erkennen. Ebenfalls, dass es für die breite Masse gedacht war, doch letztendlich auch durch den persönlichen Aufwand der Herstellung um 1900 nur für bürgerliche Frauen finanzierbar war, besonders die Kleidung der Künstler. Auch brauchten nicht-bürgerliche Schichten keine Unterscheidung zwischen Hauskleid und Abendkleid. Diese Unterteilung entspricht dem Prestige- und Repräsentationsbedürfnis gehobenerer Schichten.

Somit war die Reformbewegung der Frauenkleidung eine für die Lebensreform typische Ausprägung, da sie alle ihre Aspekte aufweist und Themen wie Natürlichkeit und entsexualisierte Nacktheit anspricht. Allerdings wurde sie erst nach dem 2. Weltkrieg durch die Massenproduktion für alle erschwinglich.

Die Gesellschaft wurde von Grund auf erneuert und die Frauen gingen mit einem stärkeren Selbstbewusstsein aus den Kriegsphasen hervor. Langfristig gesehen verfehlte sie aber ihre Wirkung nicht, sondern ebnete den Weg zu unserer heutigen individuellen Mode.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

  • Boehn, Max von: Die Mode. Menschen und Moden im 19. Jahrhundert 1878-1914. München 1919.
  • Jäger, Gustav: Die Normalkleidung als Gesundheitsschutz. Gesammelte Aufsätze aus dem „Neuen Deutschen Familienblatt“ (1872-1880). Stuttgart 1881.
  • Kneipp, Sebastian: So sollt ihr leben. Kempten 71890.
  • Kühn, Anna: Warum können wir die herrschende Kleidung nicht als gesund, praktisch und schön bezeichnen? o.O. 1901.
  • Mohrbutter, Alfred: Das Kleid der Frau. Darmstadt 1904.
  • Sombart, Werner: Wirthschaft und Mode. Ein Beitrag zur Theorie der modernen Bedarfsgestaltung. Wiesbaden 1912.
  • Stratz, Carl Heinrich: Die Schönheit des weiblichen Körpers. Den Müttern, Ärzten und Künstlern gewidmet. Stuttgart 31904.

Literaturverzeichnis

  • Fischer-Homberger, Esther: „Krankheit Frau“. In: Imhof, Arthur E. (Hg.): Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit. Berlin 1983. S. 215-229.
  • Gerndt, Helge: Kleidung als Indikator kultureller Prozesse. Eine Problemskizze. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 70 (1974). S. 81–92.
  • Krabbe, Wolfgang R.: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Göttingen 1974.
  • Linse, Ulrich: Das „natürliche“ Leben: Die Lebensreform. In: Richard van Cülmen (HG.): Die Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000. Wien/Köln/Weimar 1998. S. 435-456.
  • Ober, Patrizia: Der Frauen neue Kleider. Das Reformkleid und die Konstruktion des modernen Frauenkörpers. Kempten 2005.
  • Stamm, Brigitte: Das Reformkleid in Deutschland. Berlin 1976.
  • Welsch, Sabine: Ausstieg aus dem Korsett: Reformkleidung um 1900. In: Kai Buchholz (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. Band 2. Darmstadt 2001.
  • Wolter, Gundula: Hosen, weiblich. Kulturgeschichte der Frauenhose. Marburg 1994.

 

Fußnoten

Fußnoten
1 Daher trugen früher kleine Jungen immer Kleider, bis sie ab der Pubertät Hosen tragen durften. Frauen dagegen ihr Leben lang nicht.
2 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 11.
3 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 22.
4 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 126.
5 Eine Tornüre oder Krinoline ist ein künstliches Gestell über dem Gesäß, das dem darüber getragenen Rock die modisch aufgebauschte rückwärtige Betonung.
6 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 123.
7 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 31.
8 Der Begriff „Beinkleid“ bezeichnet hier den Unterrock, der Begriff „geschlossenes Beinkleid“ eine Unterhose. Unterröcke gefährdeten die Gesundheit, da sich durch die Wärme Bakterien leicht bilden und vermehren konnten und außerdem wegen der Körperwärme und Feuchtigkeit gerne kleinen Insekten und Spinnen dort ansiedelten.
9 Vgl. Kühn, Warum können wir, 1901. S. 170.
10 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 43.
11 Vgl. ebd. S. 50f.
12 Vgl. ebd. S. 60.
13 Vgl. Stamm, Reformkleidung, 1976, S. 45.
14 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 90.
15, 18 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 27.
16 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 46f. Die Leitsätze waren: Vereinfachung der Unterbekleidung, Entlastung der Hüften, freie Gestaltung des Obergewandes mit Anlehnung an die Mode, Verkürzung des Straßenkleides. Stamm, Reformkleid in Deutschland, 1976, S. 47.
17 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 95.
19 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 48. Auf den folgenden Seiten geht Brigitte Stamm die Thematik tiergehender ein.
20 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, 51f.
21 Vgl. ebd. S. 87.
22 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 38f.
23 Vgl. Stamm, Reformkleid in Deutschland, 1976, S. 38f.
24 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 118f.
25 Vgl. ebd. S. 101f.
26, 48 Vgl. ebd. S. 121.
27 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 92-95f.
28 Vgl. Ebd., S. 90.
29 Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974. S. 9. Der Nudist Hugo Höppener, genannt Fidus, entwarf mit seinem Lehrer Karl Wilhelm Diefenbach für seine Kinder und Frauen lose fallende Kittel und Kleider, die weder einengten noch einschnürten. Fidus und Diefenbach bevorzugten die Nacktheit, entschieden sich aber nach dem ersten Nudistenprozess für sackähnliche Reformgewänder, bei denen das Gespür für Nacktheit im bekleideten Zustand nicht verloren ging.
30 Vgl. Linse, Das „natürliche“ Leben, 1998. S. 444.
31 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 23f.
32 Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974, S. 108f. Ebenso: Stamm Reformkleid in Deutschland, 1976, S. 16f.
33 Lahmann hatte Medizin studiert und unterhielt das Sanatorium „Weißer Hirsch“ bei Dresden.
34 Vgl. Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform, 1974, S. 109.
35 Vgl. Kneipp, So sollt ihr leben, S. 35f.
36 Vgl. ebd. S. 42.
37 Vgl. Kneipp, So sollt ihr leben, 1890, S. 44f.
38 Vgl. ebd. S. 51.
39 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 104.
40 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 31.
41 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 151f.
42 Vgl. ebd. S. 26.
43 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 98f.
44 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 90.
45 Vgl. Stamm Reformkleid, 1976. S. 53f.
46 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976, S. 113f.
47 Vgl. ebd. S. 116-118.
49 Vgl. ebd. S. 138.
50 Vgl. ebd. S. 144f.
51 Vgl. Mohrbutter, Das Kleid der Frau. Darmstadt, 1904, S. 9f.
52 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 140f.
53 Vgl. ebd. S. 172f.
54 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 165f.
55 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 125.
56 Vgl. Stratz, Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung, 31904, S. 22.
57 Vgl. Stamm, Reformkleid, 1976. S. 33.
58 Vgl. Ober, Der Frauen neue Kleider, 2005, S. 152.
59 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 223.
60 Vgl. Stamm, Reformkleid in Deutschland. Berlin, 1976. S. 140.
61 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 212.
62 Vgl. ebd. S. 197f.
63 und hatten auch gelernt bzw. lernen müssen, ohne den Mann auszukommen, für ihre Kinder zu sorgen und durch die eigene Arbeit den Lebensunterhalt zu sichern. So schienen eigentlich Jahrzehnte zwischen den zwanziger Jahren und der Vorkriegszeit zu liegen.[fn]Vgl. ebd. S. 238.
64 Vgl. ebd. S. 248-250.
65 Vgl. Wolter, Hosen, weiblich, 1994, S. 262f.
66 Vgl. ebd. S. 268-270.

Juden in der Burschenschaft im 19. Jahrhundert

Diese Hausarbeit habe ich im Wintersemester 2005/06 im Seminar “Urburschenschaftlicher und nationaler Gedanke im 19. und 20. Jahrhundert” bei Dr. Helma Brunck (Geschichte, Uni Mainz) verfasst.

Einleitung

Juden repräsentieren 2006 in Deutschland einen Bevölkerungsanteil von 100.000 bei 80 Mio. Bis 1938 waren es 600.000 in Deutschland bei 60 Mio. Und 200.000 in Österreich. Diskriminiert wurden Juden in allen Zeitepochen, auch wenn es immer wieder auch friedlich Zeiten hab.

Viele Berufe waren ihnen verwehrt, wie z. B. der “ehrbare” Handwerksberuf. So ist es nicht verwunderlich, dass so viele Juden als Händler den Lebensunterhalt verdienten oder mit Geldgeschäften. Dieser Umgang mit Gold im Allgemeinen schürte den Neid der nicht jüdischen Bevölkerung. Eine militärische Laufbahn oder ein Studium waren ihnen in den deutschen Landen verwehrt. Das Leben wird in einem Judenviertel gestattet, in denen oft drangvolle Enge herrschte und in vielen Kommunen des Nachts zusätzlich abgesperrt wurde.

Im Mittelalter und der frühen Neuzeit existierte die Rassenideologie des Antisemitismus’ noch nicht. Der Hass richtete sich nicht auf die Juden als “Rasse”, sondern auf das Judentum als unbekannte Gruppe, die sich überall ausbreitete. Sie wurden als „Chistusmörder“ beschimpft. Wenn etwas Negatives geschah, dass man sich nicht erklären konnte, Missernten, Pest oder andere Seuchen ausbrachen, gab man den Juden die Schuld. In Wut plünderte und zerstörte man ihre Häuser und beschimpfte, verletzte oder tötete viele. Berüchtigt sind die Gräueltaten der Horden des 1. Kreuzzuges, die entlang des Rheines zogen und alle Juden, denen man habhaft werden konnte, umbrachten.

In der großen Stadt Frankfurt am Main wurde ein Ghetto für die Juden errichtet, dass nur aus einer einzigen langen Straße bestand. In diesem Frankfurter Ghetto muss es schrecklich gewesen sein. In Heinrich Heines „Rabbi von Bacherach“ wird das Ghetto als ein heruntergekommenes Elendsviertel und Bakterienherd beschrieben.[1]Vgl. Heine, Rabbi von Bacherach, S. 15.

In der frühen Neuzeit und der Epoche der Aufklärung veränderte sich die Stellung der Juden in Deutschland zum positiven, die mit dem Namen Moses Mendelssohn (1729-1786) einhergingen.

Moses Mendelssohn kam als Kind alleine nach Berlin, um dort von einem Rabbiner unterrichtet und selbst Rabbiner zu werden. Anfangs sprach der nur Jiddisch, lernte jedoch schnell das Deutsche  und einige andere Sprachen durch die Lektüre verschiedenster deutschen und ausländischen Werke.[2]Werke, die nicht in Jiddisch geschrieben waren, waren jedoch damals Juden verboten zu lesen, da sie als „verderblich“ angesehen wurden.  Aber Mendelssohn hatte Glück und ebenso weltoffene … Continue reading Mendelssohn wurde über die deutschen Grenzen hinaus mit seinen populär-philosophischen Schriften bekannt, die von seinen Zeitgenossen sehr geschätzt wurde. Allerdings gerieten sie unter der Popularität von Kant und Herder schnell wieder in Vergessenheit. Mendelssohn war ein enger Freund von Ephraim Lessings und dient Lessing als lebendes Vorbild für seinen Nathan den Weisen.[3]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 100.

Mitz der Ausweitung der französischen Herrschaft über Deutschland nach der französischen Revolution auf die deutschen Lande und den Eroberungen durch Napoleon wurde die Aufklärung auch gesetzlich durch den Code Civil (1804) und das Hardenberg’sche Edikt (1812) deutlich gebessert und die Ghettos abgeschafft.

1812 erhielten die Juden zeitweise die Bürgerrechte mit der Einschränkung des §9, in dem sich der preußische König die Zulassung selbiger zum Staatsdienst vorbehält.

Der Wiener Kongress 1814/15 hob die Gleichberechtigung der Juden wieder auf. Erneut folgten Judenverfolgung und Pogrome. Es eine Zeit, in der viele Juden zum Schutz und um die Freiheit zu nutzen, zum Christentum übertraten.

Bei den Befreiungskämpfen der deutschen Staaten gegen Napoleon kämpften viele deutsche Juden mit und waren von der deutschen patriotischen Idee mindestens so sehr überzeugt wie ihre christlichen Landsmänner. Allerdings hatten jüdische Soldatenn keinen Anspruch auf staatliche Versorgung.  Aber mit dem Wiener Kongress 1814/15 erlitten sie einen herben Rückschlag, da sie immer noch keine volle Gleichberechtigung erhielten.[4]Vgl. Czermak, Christen gegen Juden, 118.

Die Burschenschaft und ihr Antijudaismus

[5]Der Begriff Antisemitismus, der den Hass gegen die jüdische Rasse beschreibt und in den 1880er Jahren erst geprägt wurde, war hier nicht der Auslöser. Und dennoch wurde hier die Wiege für ihn … Continue reading 1812 veröffentlichte Karl August Fürst von Hardenberg sein Edikt zur Judenemanzipation in Preußen. Da die Juden bereit waren, dasselbe wie Christen an Pflichten zu erledigen, wäre es nur schlüssig, dass diese auch dieselben Rechte genießen dürfen, begründetete er dieses Edikt.[6]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 134.

Schon zuvor gab es Arten von Toleranzedikten für Juden von Kaiser Joseph II. aus dem Jahr 1782, die amerikanische Unabhängigkeitsverfasung von 1787 und die schon erwähnte französische Verfassung von 1791.[7]Vgl. Czermak, Christen gegen Juden, 117.

Als Gegenreaktion auf die Hardenberg’schen Reformen gründeten Achim von Arnim[8](1781-1831), Jurastudium. Publizist, viele Reisen. Brachte  mit Brentano “Des Knaben Wunderhorn” heraus. und Adam Müller am 18. 1. 1811 in Berlin die Deutsche Tischgesellschaft. Ihr schlossen sich einige Akademiker an. Die Mitglieder bestanden zu einem großen Teil aus den gebildeten Schichten. Sie verband ein antijudaischer, teils auch schon antisemitischer und antifranzösischer Patriotismus. “Freie Meinungsbildung” und “demokratische Diskussionen” waren in den Statuten festgeschrieben. Die Zulassungsbestimmungen ließen nur “ehrhafte, sittliche, christliche Männer, aber keine Philister[9]Mit “Philister” sind in der Sprache der Studentenverbindung die “Alten Herren” gemeint, also ehemalig Aktive in einer Verbindung. Mitglied werden. Sie trafen sich einmal in der Woche, tranken Bier und hielten Reden. Die bekanntesten Tischreden sind Brentanos Philister Rede und Arnims “Über die Kennzeichen des Judentums” vom 1811, in der er die körperliche Stigmatisierung der Juden forderte. Sie hätten bestimmte Neigungen wie Spekulationen und Verschlagenheit, und frönen einem reaktionären Antikapitalismus. Der Vorwurf, der Jude sei von Natur aus ein Geldmensch, ein “Wucherer” und “Blutsauger” war in Wirklichkeit nie erloschen. Begeistert waren auch alle, als Arnim über die sittliche Verkommenheit der Juden und ihren abscheulichen körperlichen Merkmalen  wie Körpergeruch, Erbkrankheiten, Geruch nach Zwiebeln und Knoblauch und andere körperliche Eigenheiten wie zum Beispiel Blähungen.[10]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 104. Er mahnte die anderen Mitglieder, darauf zu achten, dass kein Jude in ihrem Verein Mitglied werden dürfe. Zur Überprüfung empfahl er “die Auflösung der Juden in ihre Bestandteile”.

Auch Johann Gottlieb Fichte[11](1762-1814), Professor für Philosophie. Erster Rektor an der neugegründeten Humboldt-Universität in Berlin. gehörte zum Kreis der Tischgesellschaft. Er war Philosoph und gilt mit Schelling und Hegel als wichtigster Vertreter des deutschen Idealismus’ und als einer der geistlichen Begründer der Burschenschaft. Er kritisierte das Duellwesen, die Trinksitten und Raufereien der damaligen Landsmannschaften und hegte die Idee einer gesamtdeutschen Organisation. Er definierte Nationen als biologische Wesen, die aus dem Volksgeist entstünden und träumte von seinem Ideal der deutschen Nation: Einer homogenen Gesellschaft ohne Adel, Zünfte und Juden.

Solche völkischen, antiliberalen und judenfeindlichen Ideen sind nicht nur in der Tischgesellschaft, sondern auch im Tugendbund Friedrich Ludwig Jahns, in Turnvereinen und Burschenschaften zu finden. In Jahns Turnbund waren Juden streng ausgeschlossen und als “Nicht-Deutsche” diffamiert.[12]Vgl. Sterling, Judenhaß, 148.

Jahn[13](1778-1852), erlagte als Schüler und Student keinen Abschluss. Gründer der Turnbewegung und damit verbunden des schulischen Turnunterrichtes. Wurde in Verbindung mit den Karlsbader Beschüssen … Continue reading äußerte sich offen und scharf antijüdisch und antifranzösisch. Er behauptete, Polen, Franzosen, Geistliche, Adel und Juden wären Deutschlands Unglück.[14]Vgl. Sterling, Judenhaß, 148. Er rief Studenten der Universität Jena und anderen Universitäten zum Kampf in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 gegen Napoleon auf. Seine Ideen und sein Gedankengut verbreiteten sich unter den Studenten. Das Wartburgfest 1817 fand auf seine Initiative statt. Ernst Moritz Arndt[15](1769-1860), studierte evangelische Theologie, Geschichte, Erd- und Völkerkunde, Sprachen und Naturwissenschaften und war Professor in Greifswald und Bonn. Wurde allerdings zeitweise wegen seiner … Continue reading Sein Gedicht “Was ist des Deutschen Vaterland?” wurde vertont und war eines der am meisten gesungenen Lieder der Burschenschafter. Wenig später nach der Rückkehr der Studenten aus der Völkerschlacht bei Leipzig gründeten sie am 12. Juni 1815 die Jenaischen Burschenschaft.

Auch der Einfluss von Professor Jakob Friedrich Fries[16](1773-1843), Professor für Philosophie. Zeitweise wegen Konakt zur burschenschaftlichen Bewegung entlassen. auf die Jenaer Burschenschaft war bedeutend. Fries forderte die Studenten auf, ihren Individualismus und die Humanitätsideale der Aufklärung aufzugeben und sich zu dem “deutschen Volkstum” zu bekehren. Von seinen Heidelberger und Jenaer Studenten verlangte er, zuerst die jüdischen Studenten als “Feinde unserer Volkstümlichkeit” auszuschließen. Es gab aber auch eine andere Heidelberger Verbindung, die “Teutonen”, die gegen die so genannten “Friesianer” und kämpften für die Zulassung von Juden in Burschenschaften eintraten[17]Vgl. Sterling, Judenhaß, 119.. Fries war der einzige Professor, der an der Bücherverbrennung anlässlich des Wartburgfestes anwesend war.[18]Vgl. Sterling,  Judenhaß, 148.

In den Statuten zur Deutschen Burschenschaft wurde 1815 nichts zur Judenfrage und zum Waffenzug niedergeschrieben. Dennoch gab es schon von Anfang an Burschenschaften mit stark antijüdischen Ideologien. Die Jenaer Burschenschaft der “Unbedingten” beispielsweise nahm in ihre eigene Verfassung den Artikel auf, dass “nur ein Deutscher und Christ” in die Burschenschaft eintreten könne.[19]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 156f. Auch die Gießener Verbindung “Die Schwarzen” leiteten ihre “Christlichkeit” aus der germanischen Volkstümlichkeit als Gegenprinzip zur Jüdischen her.[20]Vgl. Sterling,  Judenhaß, 148.

Am 18. Oktober 1819 wurde im Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig und an den Zufluchtsort Luthers auf der Wartburg ein Gedenkfest von der Jenaer Burschenschaft veranstaltet. Es wurden Reden und ein Festgottesdienst gehalten. Spät in der Nacht verrichtete der härteste Kern eine Verbrennung von “nicht-deutscher” Literatur und Symbolen der unterdrückung. Mit dabei war das Werk “Germanomanie” von dem jüdischen Schriftsteller Saul Ascher als sinnbildliche Ermordung Aschers.[21]Veröffentlichte 1815 seine Schrift mit dem programmatischen Namen “Germanomanie” und verurteilte darin Nationalismus und Deutschtümelei Germanomanie” war eine abwertende … Continue reading Diese Szenen ließen Heine 1820  in seinem Werk Almansor schreiben: “Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.”.[22]Zit. nach: Heine, Almansor, S. 10.

Keiner von den in diesem Kapitel aufgezählten sich antijüdisch äußernden Personen kannte die Realität des Judentums.  Sie sahen das Judentum als eine durch Religion verschwommene Krämer- und Trödlerkaste an, die über die ganze Welt verbreitet war. Da eine Händlerkaste aber kein Staat sei und ein Staat sowieso nicht über die ganze Erde verbreitet sein konnte, hatten die Juden kein Vaterland, konnten somit nicht für ein Vaterland kämpfen und schon gar nicht für das deutsche und deshalb konnte ein deutscher Staat die Juden nicht als Bürger aufnehmen.[23]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 155.

Fries erläuterte einmal, dass man ihm die jüdische Eigenschaft gelobt habe und auch bewiesen habe, dass die Zahl der jüdischen Verbrecher sehr gering sei. Fries antwortete, er wisse, dass sie sich gern von Mord und Totschlag zurückhielten, solange noch einige Gefahr dabei sei, aber ein Christ nenne diese Eigenschaft  Feigheit, die man nicht zu den Tugenden, sondern zu den Lastern zähle. Diese überhebliche Anmerkung war einer der radikalen Äußerungen, die den Jenaer Studenten Karl Sand anstachelten, den reaktionären Dramatiker Kotzebue am 23. März 1819 zu ermorden. Als Rechtfertigung gab er nur seine Überzeugung an. Nach seiner Auffassung heilige die eigene Überzeugung alle Mittel. Damit hob er die Überzeugung zu einem universellen Richt- und Rechtfertigungsschwert. Das reichte den Richtern nicht als Rechtfertigung und er wurde zum Tode verurteilt. Nachdem ein Selbstmordversuch scheiterte, fand er sich erfolgreich in einer Rolle als Märtyrer für die Nationalbewegung ein. Die schnelle Reaktion der Obrigkeit waren die Karlsbader Beschlüsse.[24]Verbot der Burschenschaftem, Überwachung der Universitäten, Pressezensur, Entlassung und Berufsverbot für liberal und national gesinnte Professoren, Exekutionsordnung, Universitätsgesetz, … Continue reading Doch die Beschlüsse engten die Burschenschaften und die nationale Bewegung nicht so entscheidend ein, wie dies erforderlich gewesen wäre. Zusätzliche Wut bei den Burschenschaftern auf. Als sich in Würzburg ein älterer Professor zugunsten der Juden äußerte, begannen die Studenten aus Spott vor seinem Haus “Hep-Hep[25]Abkürzung für “Hierosolyma est perdita”: Jerusalem ist verloren. Der Ruf soll auf einen Schlachtruf von römischen Soldaten während der Belagerung Jerusalems im Jahr 70  zurückgehen. … Continue reading! Jud’ verreck’!” zu rufen und warfen ihm Bestechlichkeit vor. Wie eine Lunte weitete sich die Aktion rasend schnell in der ganzen Stadt aus. Auch das Kleinbürgertum beteiligte sich daran, alle jüdischen Gebäude und Häuser zu zerstören und zu plündern. Die Tumulte wurden immer zerstörerischer. Manche erinnerte der Zustand an eine Radierung Merians von 1617, die einen Progrom im Frankfurter Ghetto zeigt, ein anderer Augenzeuge wähnte sich im Jahr 1419 und nicht 1819.[26] Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 108f.

Am Ende gab es zahlreiche Verwundeten und Tote. Die Behörden reagierte nich und erst als Soldaten eingriffen, trat Ruhe ein. Der Hass vieler Menschen blieb und sie forderten die Ausweisung aller Juden aus Würzburg.[27]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 160. Wie in Würzburg war es in vielen anderen Städten.

Da alles zerstört worden war, flohen viele Juden aus der Stadt ohne Hab und Gut auf das Land.[28]Vgl. Graetz, Geschichte der Juden, 334 und Elon, Aus einer anderen Zeit, 108. Ca. 90% der deutschen Juden waren arm oder sehr arm. 10% der sehr armen waren Bettler. Diese armen Würzburger Juden wehrten sich nicht gegen die Angriffe, weil sie entweder zu eingeschüchtert waren oder darin vertrauten, dass die Ordnung wieder hergestellt werden würde. Die Zurückhaltung des jüdischen Bürgertums jener 10% lässt vermuten, dass es sich nicht für das Schicksal des jüdischen Kleinbürgertums und der jüdischen Armen interessierte.[29]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 111.

Die gleichen Vorgänge gab es in den folgenden Wochen auch in anderen deutschen Städten an der Küste, am Rhein und besonders südlich des Mains.[30]Vgl. Graetz, Geschichte der Juden, 335. Überall musste die Obrigkeit für Ordnung sorgen. Der Koblenzer Polizeichef schreibt in einem Bericht, die Erregung habe dermaßen überhand gewonnen, dass Übergriffe auf Juden als verdienstvoll angesehen würden.[31]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 109f.

Ursachen für das Eingreifen des christlichen Kleinbürgertums in diese Tumulte gibt es viele. Politische Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit und Verbitterung nach den Jahren nach den Befreiungskriegen, dürftiges Ergebnis des Wiener Kongresses, Passivität des Bundestages, schwere Wirtschaftskrisen[32]Nach der Aufhebung der Kolonialsperre konnte Handel und Gewerbe mit England nicht mehr mithalten., steigende Brotpreise nach Missernten und dadurch resultierende Armut[33]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 160.. Die Unruhen zeigen eindringlich die Verflechtungen von lokalen Anlässen und politisch-sozialen Bedingungen mit historischen Traditionen. Beachtenswer sind die Unterschiede in den deutschen Ländern. Obwohl es in Preußen mehr reiche Juden gab als anderswo, gab es dort kaum Unruhen.

Rühs war ein weiterer geistiger Begründer der deutschen Burschenschaft. Rühs rühmte sich damit, nie mit Juden verkehrt zu haben und kein jüdisches Haus betreten zu haben.

Schon 1815 hatte der Berliner Geschichtsprofessor Friedrich Rühs ein Flugblatt mit dem Titel “Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht” verteilt. Darin teilte er die Ansicht, dass man den Juden keine Bürgerrechte gewähren dürfe und sie in die Schranken weisen und ausstoßen solle. Er bezeichnete die Juden als “geduldetes Volk”,  als Menschen ohne politische Rechte und als ortsansässige Fremde, da Deutschland nicht die Heimat der Juden wäre[34]Vgl. Kirchner (Hg.): Rabbi von Bacherach, S. 51. Ebenso: Kirchner, Heine und das Judentum, 72.. Fries schrieb eine Rezension über Rühs’ Flugblatt  “Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden”[35]“[…] Nicht, den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg. […] Die Judenschaft ist ein Ueberbleibsel aus einer ungebildeten Vorzeit, welches man nicht … Continue reading und stimmte darin Rühs’ Meinung nicht nur zu, sondern steigerte durch die Wahl seines Vokabulars die Aggressivität. Er erklärte dem Judentum den Krieg, weil sie rückständig wären. Er bezeichnete das Judentum als “Völkerkrankheit”, die sich wie Schmarotzer am Elend der anderen bereichere. Gleichzeitig nannte er die Juden aber auch Brüder. Hier wird deutlich, dass Fries nicht gegen die Juden als Menschen, sondern gegen das Judentum als Konfession wettere. Seine Forderungen waren:

  • Es soll versucht werden, die Juden zur Emigration zu überreden oder ins Ghetto zu bringen, da er ihnen nur dort Schutz versichern kann. Zudem soll kein Christ in persönliche Abhängigkeit von einem Juden kommen.
  • Jüdische Kinder müssen auf öffentliche christliche Schulen gehen und vor ihrem Ausbildungsabschluss auf ihre Christlichkeit überprüft werden. Zudem müssen sie unterschreiben, dass sie der jüdischen Lehre nicht anhängen.
  • Der Staat soll die Juden nur als Religionspartei und nicht als politische Partei schützen. Außerdem forderte er das mittelalterliche Schutzjudentum und das Judenabzeichen in Form einer “Volksschleife” wieder einzuführen.

Noch weiter geht Hartwig Hundt-Radowsky[36](1780-1835), lernte Jahn und dessen Ideologie kennen und verfasste rachsüchtige, antinapoleonische Kriegslyrik. in seinem Flugblatt “Judenspiegel”: Jüdische Männer sollten entweder kastriert, an Engländer für Indien verkauft oder wegen ihres Spürsinns für Kostbarkeiten als Bergbauarbeiter eingesetzt werden.[37]Vgl. Kirchner (Hg.):  Rabbi von Bacherach, S. 57-59. Hundt-Radowsky empfahl, ihnen den Mund zuzukleben, damit sie nichts stehlen können.. Die jüdischen Frauen dagegen sollten wegen ihrer Schönheit ins Bordell gebracht werden und so die Bordell-Besucher durch den Juden nachgesagten Knoblauch- und Zwiebel-Mundgeruchs zu mehr Sittlichkeit zwingen.[38]Vgl. Sterling, Judenhaß, 69.

Juden in der Burschenschaft bis 1831

Heinrich Heine

Einer der bekanntesten deutschen jüdischen Burschenschafter dieser Zeitspanne ist Heinrich Heine. Er wurde am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf als Chaim Heine geboren. Er wuchs in Düsseldorf als Sohn eines Tuchhändlers in einer Zeit auf, als das linksrheinische Deutschland zum napoleonischen Frankreich gehörte. Durch die napoleonischen Gesetze zur Emanzipation der Juden, wuchs er frei auf.[39]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit. 97. In Bonn, Göttingen und Berlin studierte er Jura und wurde von seinem wohlhabenden Onkel Salomon aus Hamburg finanziert. Heine war nicht sonderlich begeistert, Jura zu studieren.[40]In seinen Memoiren schrieb er: „[…] Sie [Heines Mutter] meinte jetzt, ich müsse durchaus Jurisprudenz studieren. […] Da eben die neue Uni­versität Bonn errichtet worden, wo die … Continue reading Im Wintersemester 1819 schrieb er sich an der Universität in Bonn ein. Aber er hörte kaum juris­tische Studien, sondern viel lieber Geschichte, Literatur und Sprachwissenschaft.[41]Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 113.

Heine schrieb während seiner Bonner Studienzeit sein relativ unbekanntes Theaterstück Almansor, aus dem der viel­zitierte Satz „Das war das Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ stammt.[42]Vgl. Decker, Heinrich Heine, 61.

Heine wurde Mitglied in der Bonner Burschenschaft Alemannia, der etwa die Hälfte aller Bonner Studenten angehörten.[43]Vgl. Kopelew, Ein Dichter kam vom Rhein, 67. Ebenso: Liedtke, Heinrich Heine, 34. Diese gerade neu gegründete Verbindung hatte keine streng burschenschaftliche Ausrichtung.[44]Vgl. Liedtke, Heinrich Heine, 36. Sie bestand nicht auf der christlich-deutschen Ausbildung, sondern auf der Kommunikation der Studenten unterein­ander und so wurde auch der Jude Harry Heine aufgenommen. Heine war kein Aktivist, sondern besuchte nur gelegentlich ihre Treffen.[45]Vgl. Hädecke, Heinrich Heine,  110f. Während einer Burschenversammlung beispielsweise verstand sich die Versammlung als Gericht und forderte schließlich die Todesstrafe für den preußischen König. Heine war darüber entsetzt und diskutierte mit seinen Mitbrüdern. Am Ende stimmte die Mehrheit für die Hinrichtung. Daraufhin sagte Heine, dass er sehr traurig über dieses Urteil sei. Denn wenn man einmal im Namen der Freiheit zu foltern begänne, dann wäre der Anfang meistens leicht, aber das Ende schwer.[46]Zit. nach: Kopelew, Ein Dichter kam vom Rhein, 71f. Wie bei vielen Heine-Zitaten sollte sich seine Befürchtung als wahr herausstellen.

Nach zwei Semestern verließ Heine Bonn, da der Familienrat beschlossen hatte, dass er an der anerkannten Universität in Göttingen weiterstudieren solle. Göttingen war noch wenige Jahre vor Heines Immatrikulation 1820 einer der in Europa angesehensten Universitäten, verlor dann aber stetig mehr den guten Ruf. Als Heine nach einem Fußmarsch von Bonn nach Göttingen dort eintraf, herrschte ein kühles, unpersönli­ches, unkameradschaftliches Klima.[47]Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 122. Heine fühlte er sich von Anfang an in Göttingen sehr unwohl und suchte manch­mal Abwechslung bei der Burschenschaft Guestphalia.[48]Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 187.

An einem Tag aßen Heine und der Studenten Wilhelm Wiebel auf Eutin im „Englischen Hof“ und unterhielten sich über Verschiedenes und schließlich über den „Heidelberger Fall“, der in der Literatur nicht näher erläutert wird. Wenn eine Studentenverbindung eine andere in Verruf bringe, so ist das eine Schweinerei findet Heine, worauf Wiebel antwortete, dass es eine Schweinerei sei, so etwas zu dem Vorgang zu sagen. Heine forderte sich Wiebels Name und Adresse und ließ ihm kurz darauf die Duellforderung zukommen. Duelle waren aber seit einigen Jahren verboten und Spitzel wurden von der Universität gut dafür bezahlt, Duelle zu verraten.[49]Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 124. So erhielten beide Stubenarrest. In dem folgenden Verhör söhnten sich beide aus. Trotzdem erhielt Heine vom Universitätsgericht im Januar 1821[50]Das gesamte Protokoll zur Gerichtsverhandlung ist zu lesen bei Schmidt, Heine in Göttingen, S. 136-143. das Consilium abeundi. Außerdem wurde er wegen einem „Vorgehen gegen die Keuschheit“, einem Bordellbesuch, aus der Burschenschaft ausgeschlossen. Manche Forscher vermuten,  dass es ein Vorwand war. Denn war es zwar verboten, aber unter Studenten durchaus üblich war, ein Bordell zu besuchen. Der wirkliche Grund für den Ausschluss aus der Burschenschaft war wohl  Heines jüdische Religion. Denn Juden war es seit dem geheimen Burschentag am 29. 9. 1820 in Dresden verboten, in Burschenschaften Mitglied zu sein.[51]„Als solches, die kein Vaterland haben und für unseres kein Interesse haben können, nicht aufnahmefähig, außer wenn erwiesen ist, daß sie sich christlich-teutsch für unser Volk ausbilden … Continue reading Nur mit einer Taufe konnte man das Gebot umgehen. Heine war tief verletzt. Wenige Jahre später rechnete er in seinen Reisebildern hart mit Göttingen ab.[52]Vgl. Heine, Reisebilder. Die Harzreise. S. 3. Siehe auch: Heine, Wintermärchen. Caput X, S. 211. Da er an Syphilis erkrankte, musste er Göttingen nicht sofort verlassen.[53]Vgl. Decker, Heinrich Heine, 73.

Heine zog weiter nach Berlin. Am 4. April 1821 trug sich Heine in die Matrikel der Stadt ein und lebte fortan im Berliner Zentrum. Auch hier gefiel es ihm nicht gut. Schuld daran war die harte Zensur seiner Schriften und die preußische Strenge. Ob Heine sich in Berlin auch einer Burschenschaft anschloss ist nicht bekannt, nach den Ereignissen in Göttingen aber unwahrscheinlich. Sein einsemestriges Studium in Berlin verlief ohne bekannte Zwischenfälle. Allerdings schloss er sich dem 1819 als Gegenreaktion zu den Hep-Hep-Unruhen gegründeten „Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden“ an und befasste sich mit seiner Religion, obwohl er nie tief religiös war. Aber hier bekam er die Idee für ein Prosa-Stück namens „Der Rabbi von Bacherach“, was anfangs als historischer Roman gedacht war und als Fragment endete.

Noch mehr musste sich Heine nach seiner Promotion 1825 in Göttingen mit dem Judentum auseinandersetzen, da ihm drohte, wegen seiner Religionszugehörigkeit  keine Stelle zu bekommen. Aufgrund einer Verfügung von 1822 wurden Juden von akademischen Lehr- und Schulämtern ausgeschlossen.[54]Siehe § 9 des Emanzipationsediktes: “In wie fern die Juden zu andern öffentlichen Bedienungen und Staats-Aemtern zugelassen werden könne, behalten Wir Uns vor, in der Folge der Zeit, … Continue reading Anlass dazu war die Berufung des Rechtsphilosophen und Gegners der historischen Rechtsschule, Eduard Gans[55](1797-1839), stammte aus einer jüdischen Bankiersfamilie aus dem liberalen, assimilierten Judentum, studierte in Berlin und Göttingen Jura, Philosophie und Geschichte, bekam Einladung als … Continue reading, für eine Professur in Berlin. Gans war Vorsitzender des „Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden“ und ein Freund Heines. Diese neue Regelung wurde kurz vor Beginn der Amtseinführung von Gans in Kraft gesetzt und erhielt die Bezeichnung “Lex Gans”. Gans ließ sich taufen und konnte so den Lehrstuhl doch übernehmen.[56]Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 166.

Heine plagten in dieser Zeit große Entscheidungsprobleme. Sein Judentum wurzelte in einer tiefen Antipathie gegen das Christentum. Aber er befasste sich mit dem Gedanken, dass er sich irgendwann taufen lassen musste, auch wenn er es nicht wollte.[57]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 127. Auch seine Familie drängte ihn zu diesem Schritt. Im Juni 1825 war es soweit und er ließ sich taufen.

Die Pfarrer bestanden meist darauf, dass man mit der Taufe einen neuen christlichen Vornamen annahm. Aus Harry Heine wurde nun Christian Heinrich Heine. Er bezeichnete später in Prosaaufzeichnungen den Taufzettel als “Entréebillet zur europäischen Kultur”.

Schon kurz nach seiner Taufe bedauerte er diesen Schritt, da sich die erhofften Vorteile nicht einstellten. In einem Brief an seinen Freund und ebenfalls Mitglied des Vereins, Moses Moser, klagte er, dass seine Taufe gar nichts an seiner beruflichen Situation geändert hätte.[58]„Ich bereue es sehr, daß ich mich getauft habe; ich sehe noch gar nicht ein, daß es mir seitdem besser gegangen sei.“ zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 29. Ein Grund dafür, dass er keinen Arbeitsplatz bekam, wird wohl auch seine politische Ansicht gewesen sein. Er fühlte sich immer noch mehr dem Judentum als dem Christentum zugetan. War doch seine Konvertierung nicht aus religiöser Überzeugtheit, sondern aus gesellschaftlicher Hoffnung geschehen. So sagte er, er sei getauft, aber nicht bekehrt.[59]Vgl. Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte, 38. Als der Dichter Graf von Platen ihn öffentlich wegen seiner jüdischen Verbundenheit angriff, machte Heine Platens Homosexualität publik und machte damit von Platen gesellschaftlich unmöglich.

Die Verfechter der christlich-deutschen Ausbildung der Studenten, wie zum Beispiel Jahn, Arndt oder Fries, betrachteten Heine argwöhnisch. Er entsprach ihrem Feindbild: Heine wollte zwar die deutsche Einheit und verfocht sie in seinen Schriften, mochte aber die Franzosen und war ganz und gar kosmopolitisch eingestellt. Er war ein zum Christentum konvertierter Jude, der sich aber weiterhin sich als Jude fühlte. Heine schrieb in seiner sarkastischen Art scharf gegen die „Deutschtümler“.

Zu diesem  Zeitpunkt lebte er schon in Paris, wohin er 1831 vor der preußischen Zensur geflüchtet war. Er arbeitete dort weiterhin als Schriftsteller, aber auch Pariser Korrespondent für die deutsche „Allgemeine Zeitung“.

1832 verschlechterte sich seine Krankheit, die er schon seit seinen Kindheitstagen mit sich trug. Bis heute ist man sich nicht sicher, welches Nervenleiden er hatte, aber es wird bei den meisten Forschern von Multipler Sklerose ausgegangen. Zeitgleich mit dem Ausbruch der Revolution 1848 in Deutschland wurde Heine für die letzten acht Jahre seines Lebens bettlägerig.[60]„Es war im Mai 1848, an dem Tage, wo ich zum letzten Male ausging“ zit. nach: Heine, Romanzero, S. 6. Er selbst bezeichnete diese Phase als „Matratzengruft“. Trotzdem schrieb er bis zu seinem Tod weiter. Er starb am 17. Februar 1856 in Paris.

Felix Mendelssohn Bartholdy

Felix Mendelssohn Bartholdy wurde am 3. Februar 1809 in Hamburg geboren. Er stammte aus einer respektierten, wohlhabenden, jüdischen Familie und war ein Enkel des schon erwähnten berühmten Philosophen Moses Mendelssohn. Moses Mendelssohn starb kurz nach der Geburt seines Sohnes Abraham. Abraham erzog seine Kinder christlich, ließ Felix am 21. März 1816 protestantisch taufen und den Namenszusatz “Bartholdy” anfügen.

1811 zog die Familie wegen der französischen Besetzung nach Berlin zur verwitweten Frau von Moses Mendelssohns, der Großmutter von Felix.

Felix mochte besonders seine Schwester Fanny (*1805). Sie war wie Felix musikalisch hochbegabt. Beide bekamen als 2jähriger bzw. 6jährige 1811 ihren ersten Musikunterricht. 1818 trat Felix als 9jähriger zum ersten Mal in der Öffentlichkeit auf und komponierte in den folgenden drei Jahren über 100 Werke.[61]Vgl. Konold, Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 31. 1825 zog er nach Paris, wo er drei berühmte Musiker seiner Zeit traf: Meyerbeer, Rossini und Cherubini.

Nach seinem Studium, über das man nichts genaues erfährt, übernahm er 1832-1835 zahlreiche Reisen nach England, wo er zu Dirigaten eingeladen wurde. 1835 zog Mendelssohn Bartholdy nach Leipzig, unternahm aber weiterhin Reisen nach England. Bei der Heimkehr einer dieser Reisen erreichte ihn die Todesnachricht seiner Schwester Fanny. Daraufhin brach er zusammen, zog sich zurück und machte mehrere Monate in der Schweiz Urlaub. Er erlitt innerhalb einer Woche zwei Schlaganfälle, fiel ins Koma und starb am 4. November 1847.

Die Denk- und Verhaltensweisen bei Mendelssohn Bartholdy und Heine waren verschieden: Heine war bei seiner Taufe bereits erwachsen und ließ sich nur aus gesellschaftlichen Gründen taufen. Mendelssohn Bartholdy hatte nicht diesen Konflikt, da sein Vater ihn früh in der christlichen Lehre unterwiesen hatte. Er hatte in seiner Kindheit wenig mit Theologie und Judentum zu tun. Trotzdem fühlte er sich solidarisch mit Juden. Nicht, weil er als Jude geboren worden war, sondern weil er sich ganz im Stil seines Großvaters als “human denkender aufklärungs-freundlicher, gottesfürchtiger Christ” sah.[62]Vgl. Werner 66f. Ein Zeitgenosse von ihm sagte scherzhaft, dass die Taufe das einzig Jüdische an ihm sei.[63]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 87. Heine war mit Abraham Mendelssohn und seiner Familie gut bekannt, verstand aber  Felix’ Einstellung nicht. Für ihn war es unvorstellbar, dass sich Mendelssohn Bartholdy als Enkel Moses Mendelssohns nicht mehr für die Emanzipation der Juden einsetzte. Dass Felix ganz im Sinne seines Großvaters dachte, verstand er wohl nicht. Heine verehrte Moses Mendelssohn. An Ferdinand Lassalle, einen anderen jüdischen Burschenschafter, schrieb Heine, dass er sich an Mendelssohn Bartholdys Stelle anders verhalten würde, wenn Mendelssohn sein Großvater wäre.

Wenn ich das Glück hätte, ein Enkel von Moses Mendelssohn zu seyn, so würde ich mein Talent nicht dazu hergeben, die Pisse des Lämmleins in Musik zu setzen.[64]Hier spielt Heine darauf an, dass es Mendelssohn Bartholdy nach langem Kampf gelungen war, Bachs nahezu vergessene Matthäus-Passion wiederaufzuführen. Heine fand es seltsam, dass ein Judenjunge den … Continue reading Aber auch wenn Heine Mendelssohn Bartholdys Einstellung nicht einverstanden war, mochte er ihn und verehrte ihn auch etwas.[65]Vgl. Heine, Geständnisse, S. 38.

Aber nicht nur das Christentum bzw. die christliche Musik verhalfen Mendelssohn Bartholdy zu seiner Karriere, sondern auch die Burschenschaft und Nationalbewegung halfen der Familie Mendelssohn Bartholdy beim gesellschaftlichen Aufstieg. Das wurde zu jener Zeit nicht vielen konvertierten Juden zuteil. Mendelssohn Bartholdy schrieb viele Männerchöre, die bei Gesangvereinen und auch Burschenschaftern gut ankamen. Besonders beliebt war “Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben” und das so genannte “Lied für die Deutschen in Lyon” (“Was uns eint als deutsche Brüder”).[66]Vgl. Lönnecker, Frühe Burschenschaft und Judentum, 78f.

Friedrich Julius Stahl

Friedrich Julius Stahl wurde am 16. Januar 1802 in Würzburg als Friedrich Julius Jolson geboren. Er wuchs im Haus seines Großvaters, einem Vorsteher der jüdischen Gemeinde München, auf. Er konvertierte in Erlangen unter dem Einfluss des neuhumanistischen Pädagogen und Schulreformers Friedrich Tiersch aus Überzeugung zum Protestantismus und nahm den programmatischen Namen “Stahl” an.

In Würzburg, Heidelberg und Erlangen studierte er Jura. In Würzburg wurde nicht streng nach den Karlsbader Beschlüssen durchgefasst und die Burschenschaften inoffiziell nicht aufgelöst.[67]Wahrscheinlich, weil Kronprinz Ludwig von Bayern Metternich feindlich gesinnt war. Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, S. 46. Stahl wurde sofort Mitglied in der Burschenschaft und war begeistert vom Leben mit Gleichgesinnten. Hier stand Stahl politisch für den gemäßigten, französischen Liberalismus ein. Durch seine intellektuelle Begabung und sein rhetorisches Talent war er bald in der Gruppe sehr angesehen. Schon im zweiten Semester wurde er Senior, Sprecher der Burschenschaft.[68]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, S. 47f.

Am 20. Juli 1820 beging die Würzburger Burschenschaft die Feierlichkeit zu ihrem zweijährigen Stiftsfest und lud die Burschenschaften aus Tübingen und Heidelberg ein.[69]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 50. Kurze Zeit später wechselte Stahl an die Universität in Heidelberg. Heidelberg war der Mittelpunkt der deutschen Romantik. Die Heidelberger Burschenschaft zeigte nationale wie nationalistische Bestrebungen, die sich auch in zwei Burschenschaften schied. Die “Allgemeine Burschenschaft” war eher humanitär-rationalistisch geprägt und nahm auch Ausländer und Nicht-Christen auf und die Burschenschaft um Fries, die streng deutsch-christlichen Idealen nachstrebte. Als Stahl nach Heidelberg kam, gab es dort nur noch die Burschenschaft um Fries. Stahl war in Heidelberg schon so bekannt und gefeiert, dass er noch während seines ersten Semesters zum Senior gewählt wurde. Während seiner Zeit gab es in Heidelberger Burschenschaft eine neue Verfassung, die die christlich-deutsche Ideologie als Grundlage hatte.[70]Vgl. Masur Friedrich Julius Stahl, 54f. Um seine Studien zu vollenden ging er nach Erlangen. Hier veränderte er sich. Aus nicht näher bekannten Gründen wandte er sich stärker dem Christentum und seinen Idealen zu als denen der Burschenschaft.[71]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 62. Er brach mit den burschenschaftlichen Forderungen und trat im Winter 1822 der Erlanger Burschenschaft bei, in der Absicht, sie aufzulösen. Sein politisches System befürwortete einen Gottesstaat mit einem starken, absolutistisch-herrschenden Monarchen, dem die Untertanen dienen müssen.[72]Vgl. Masur,  Friedrich Julius Stahl, 71. Mit den damaligen Forderungen der Burschenschaft nach einer Republik und Absetzung des Königs hinterging man nach Stahls Meinung den Staat. Stahls Absicht, die Burschenschaft aufzulösen, wurde aber verraten und um die wütenden Studenten zu beruhigen, erklärte er, dass die Anschuldigungen nicht stimmten. Die Burschenschafter glaubten ihm. Damit war aber Stahls Plan gescheitert.[73]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 69.

Im Juni 1823 erließ die Polizei in Erlangen Warnungen an die Studenten wegen der eigentlich verbotenen Verbindung. Die Regierung hatte von der Teilnahme Stahls am Streitberger Burschentag erfahren und fahndete nach ihm. Am 16. August verhörten sie Stahl. Bei der Vernehmung gab Stahl zu, in Streitberg gewesen zu sein, leugnete aber, die Namen der Deputierten zu kennen und auch, von einer Uni abgeordnet zu sein. Der Kommissar ordnete die Durchsuchung seiner Wohnung und Beschlagnahmung aller Papiere an. In seinem Zimmer befand sich zu diesem Zeitpunkt ein Brief, aus dem der Fortbestand der Erlanger Burschenschaft hervorgeht. Da man die Tür der Wohnung verschlossen fand, erbot sich Stahl,  von einem Nebenzimmer aus zu öffnen. Er wollte in der Zwischenzeit den Brief beseitigen. Allerdings waren ihm die Polizisten gefolgt und fanden den Brief. Stahl gestand nun auch den Vorbestand der Burschenschaft und verschwieg nichts mehr. Die Polizei löste die Verbindung sofort auf. Stahl verlor wegen daraufhin die Möglichkeit, als Staatsdiener zu arbeiten, was ihn hart traf. Am 27. August 1823 reichte er dem Direktorium der Uni seine Verteidigungsschrift ein mit der Bitte, sie an die höchste Stelle gelangen zu lassen. In dieser Schrift sprach er seine Richter direkt mit moralischen, religiös-ethischen Begründungen und rhetorische Fragen an. Der Ministerialkommissar erstattete am 23. 9. 1823 der Regierung einen Bericht zu Gunsten Stahls . Trotzdem verhängte das Direktorium der Universitäts- und Staatspolizei am 17. Januar 1824 über ihn die Relegation. Der Gnadenersuch an den bayrischen König war teils erfolgreich. Am 20. April war der Urteilsspruch des Königs Relegation auf 2 Jahre bei tadelfreiem Betragen und Nichtbeteiligung an gesetzeswidrigen Verbindungen.[74]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 75f.

Im März 1827 habilitierte er sich und wurde Professor in München, Erlangen und Berlin. In Berlin wurde er der Nachfolger von Eduard Gans. Seine Vorlesungen waren gesellschaftliche Ereignisse, zu denen sich sogar Mitglieder des Königshauses einfanden.[75]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 83. König Friedrich Wilhelm IV. ernannte ihn 1849 zum lebenslangen Mitglied der Ersten Kammer. Damit war er der Führer der reaktionören Bewegung … Continue reading Er wurde eine der prägenden Personen für den Konservatismus in Preußen. Bismarck schrieb von “unserem geliebten  Stahl”.[76]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 184. Stahl nutzte auf kirchlichem Gebiet seine Stellung als Mitglied des evangelischen Oberkirchenrates zur Lockerung der Union, zur Stärkung des Neuluthertums und zur Erneuerung der Herrschaft der Geistlichkeit über die Laienwelt.

Er verfasste zahlreiche religiöse und politische Schriften. Zu seinen Hauptwerken gehörte “Die Philosophie des Rechts” (1830-37). Er forderte die Anerkennung einer göttlichen Ordnung und einer darauf aufbauenden Staatsform. Am liebsten die konstitutionelle Monarchie. Er wurde so auf religiösem Gebiet strengster Verkünder des christlichen Offenbarungsglauben und auf politischem Gebiet glühendster Verfechter des Legitimitätsprinzips.

In seinem Werk “Der christliche Staat” argumentierte er, dass es der göttlichen Ordnung widerspreche, wenn Juden Führungspositionen einnahmen. Das verwundert, da er selbst als Jude geboren wurde. Jedoch muss man bedenken, dass Stahl als Junge “missioniert” wurde und aus echter Überzeugung zum protestantischen Glauben übergetreten war und nicht wie andere aus gesellschaftlichen Gründen. Seiner Meinung nach sollten die Juden volle bürgerliche, jedoch keine politischen Rechte erhalten. Politische Entschlossenheit erfordere einen autoritären Staat und keine Demokratie. Ausgerechnet seine Lehren von christlichen Staaten schürten den Antijudaismus.[77]Vgl. Lönnecker, Frühe Burschenschaft und Judentum, 78. So ist es auch nicht verwunderlich, das Stahl 1848 mit Beginn der Revolution aus der Hauptstadt floh. Seiner Meinung nach half nur das Christentum gegen die Revolution.

Der Gedanke an ein vereintes Deutschland war ihm erst in der Burschenschaft gekommen. Doch schien er es völlig vergessen oder verdrängt zu haben, weil er nun die Burschenschaft keineswegs mehr schätzte.[78]Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 78. Nun predigte er die Tugend der Tradition, die Unfehlbarkeit der christlichen Lehre und das Recht des Monarchen, unumschränkt zu herrschen. Die Aufklärung war für ihn deshalb ein Übel, weil sie die göttliche Ordnung von Kirche und Thron zerstört habe[79]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 183.. Er starb schließlich am 10. August 1861 in Bad Brückenau.

Juden in der Burschenschaft ab 1831

Ludwig Bamberger

Ludwig Bamberger wurde am 22. Juli 1823 in Mainz als Sohn einer jüdischen Bankiersfamilie geboren.[80]Im Mainzer Archiv findet man unter der Signatur “ZGS / A-E, Bamberger” Zeitungsartikel mit dem Lebenslauf und dem Stammbaum Bambergers. Mainz war die erste Republik auf deutschem Boden, gegründet von französischen Jakobinern 1793. Die jüdische Gemeinde, die sich hier über die Jahrhunderte angesiedelt hatte, spürte auch nach Ende des napoleonischen Regimes noch die positiven französischen Einflüsse. Ihre soziale Lage hatte sich seitdem nicht verschlechtert.

Bamberger studierte in Mainz und Heidelberg Jura. In Heidelberg war er sehr beliebt, auch war er politisch sehr engagiert. Religionen allerdings waren ihm gleichgültig. Er hatte das Glück, etwas später als Heine geboren zu sein, da sich die Burschenschaften 1831 wieder für Juden geöffnet hatten und die Juden nicht mehr so sehr wie die in den 1820er und 1830er Jahren eingeengt wurden. Er war Mitglied in der Burschenschaft Wallhalla.

Am Morgen des 25. Februar 1848, kurz nach Bambergers Promotion, erreichte ihn die Nachricht einer erneuten französischen Revolution. Mit ein paar Freunden fuhr er mit dem nächsten Zug nach Paris und mischte sich unter das Treiben auf den Pariser Straßen. Bald jedoch bekamen Bamberger und seine Kommilitonen Zweifel und Angst um ihre beruflichen Chancen im Deutschen Bund, falls sie in Paris erkannt werden würden. So fuhren sie wieder zurück nach Heidelberg. Bei einem Umsteigestopp in Karlsruhe erfuhren sie, dass auch in Karlsruhe die Revolution ausgebrochen war. Die Unruhen breiteten sich auf Heidelberg aus. Auch dort forderte man nun auch in Heidelberg allgemeines Stimmrecht, Pressefreiheit und ein gesamtdeutsches Parlament.

Bamberger ging zurück in seine Heimatstadt Mainz, wo eine Woche nach den Märzunruhen in Berlin die Revolution ausbrach. Er wurde neuer Redakteur bei der Allgemeinen Zeitung und rief in ihr dazu auf, sich der Bewegung anzuschließen. Bamberger wurde in Mainz als großer Redner und Kolumnist als “roter Ludwig”  bekannt und von den Gleichgesinnten verehrt.[81] Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 153f. Auch als einer der Anführer der radikalen Demokraten machte er sich einen Namen. Schließlich gewährte der Großherzog von Hessen-Darmstadt die geforderten Rechte: Versammlungs- und Petitionsfreiheit, Pressefreiheit, Abschaffung verschiedener polizeilicher Vorschriften inklusive des Verbotes, in der Öffentlichkeit Pfeife zu rauchen.[82]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 165. Nach dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung war Bamberger zutiefst enttäuscht, verließ die Mainzer Zeitung und reiste dem Rumpfparlament nach. Als auch dieses scheiterte, ging er in die Schweiz. In den deutschen Ländern wurde er in Abwesenheit zuerst zu einer Zuchthausstrafe und 1852 zu Tode verurteilt. In der Schweiz machte er als Bankier Karriere. 1856 lernte er wenige Monate vor dessen Tod den todkranken Heine in Paris kennen.[83]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 186f.

Als 1867 der Großherzog von Hessen-Darmstadt eine Amnestie für die Veteranen von 1848 erließ und Hessen-Darmstadt Mitglied im norddeutschen Bund wurde, zog Bamberger zurück nach Mainz. Hier stürzte er sich sofort wieder in die Politik, trat der Nationalliberalen Partei bei und wurde ins Zollparlament gewählt.[84]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 192. Er war ein energischer Vertreter der Währungsunion und 1869/70 an der Gründung der Deutschen Bank beteiligt. Ein Jahr später wurde er persönlicher Berater Otto von Bismarcks. Nach dem preußischen Sieg 1871 über Frankreich empfahl der frankophile Bamberger, die Franzosen im Sinne einer schnellen Aussöhnung nicht zu sehr zu brüskieren. Ob der Missachtung war er sehr entsetzt.[85]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 195. 1871-1893 war er Mitglied des Reichstages als Abgeordneter des Wahlkreises Bingen-Alzey, den er als führendes Mitglied der nationalliberalen Fraktion meist sicher gewann, obwohl er wegen seiner Konfession oft angefeindet wurde. So z. B. von dem Antisemiten und seinem zeitweisen Fraktionskollegen Heinrich von Treitschke.[/fn]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 105. Ludwig Bamberger starb am 14. März 1899 in Berlin.

Berthold Auerbach

Berthold Auerbach wurde am 28. Dezember 1812 als Moses Baruch Auerbacher in Nordstetten[86]Heute Horb am Neckar. als Sohn eines Händlers geboren. Er besuchte die 1822 in Nordstetten eröffnete jüdische Gemeindeschule, da er nach dem Vorbild seines Großvaters ebenfalls Rabbiner werden sollte. Nach seiner Bar Mitzwa 1825 ging er auf die Talmudschule in Hechingen[87]Ich verbrachte dort ein trauriges Stück Leben.“, zit. nach Scheuffelen, Berthold Auerbach, 30. und wechselte 1827 nach Karlsruhe auf die Rabbinerschule. Die finanzielle Lage seiner Familie nach dem Tod seines Großvaters wurde so desolat, dass sie das Schulgeld für die Talmudschule nicht mehr bezahlen konnten. In Karlsruhe wohnte er bei seinem Onkel und begann eine lebenslange Freundschaft zu seinem entfernten Verwandten Jacob Auerbach (1810-1887) aus Emmendingen. 1830 wechselte er an das Obere Gymnasium nach Stuttgart und stand der verbotenen Schüler- und Studentenverbindung Amicitia nahe. Ab 1832 studierte er ein Semester Jura, dann Philosophie in Tübingen und wird Mitglied bei der Burschenschaft Germania. Er war von der Einheitsbewegung begeistert. So sagte er:

Ich bin Deutscher und kann nichts anderes sein. Ich bin Schwabe und will nichts anderes sein. Ich bin Jude. All das zusammen gibt die richtige Mischung.[88]Zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 169.

1833 immatrikulierte er in München, da ihm der politische Druck in Tübingen zu arg wurde.[89]Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 31f. Doch blieb er bei der Germania weiterhin Mitglied und feierte mit ihnen am 22. Juni 1833. In der darauffolgenden Nacht wurde er wegen staatsfeindlicher Umtriebe als radikal-liberaler Burschenschafter verhaftet und auf die Polizeiwache mitgenommen. Am 24. Juni wurde er aus der Haft entlassen, aber ins obergerichtliche Gefängnis[90]Wurde “Demagogenherberge” genannt, da dort fast nur verurteilte Burschenschafter saßen. in Tübingen versetzt, wo noch andere Burschenschafter saßen.[91]Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 34. Daraufhin zwangsexmatrikulierte ihn die Universität München, allerdings durfte er in Heidelberg sein Studium abschließen.[92]Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 29. Im Spätherbst 1835 bereitete er sich auf sein Rabbinerexamen vor, wurde dann aber wegen “der veralteten und doch nicht antiquierten Demagogengeschichte”[93]Zit. Nach: Scheuffelen, Berthold Auerbach, 40. nicht zu gelassen und wandte sich der Schriftstellerei zu. Er schrieb Artikel für die Zeitung “Europa”.[94]Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 40.

Am 12. Dezember 1836 kam es zur “Erledigung der Untersuchungssache gegen die Mitglieder der Tübinger Burschenschaft wegen Verdachts einer hochverrätherischen Verbrüderlichkeit”. Auerbach wurde zu zwei Monaten Festungshaft verurteilt, die er vom 8. Januar bis 8. März 1837 absaß. Danach kehrte er nach Stuttgart zurück.[95]Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 42.

Als Schriftsteller erreichte er 1843 seinen Durchbruch mit den “Schwarzwälder Dorfgeschichten” und beeinflusste damit u. a. auch Balzac, Turgenjew und Tolstoi. Als 1848 die Revolution durch Deutschland zog, hielt er sich in Heidelberg auf und freute sich riesig über den Ausbruch.

Er hatte lange keine Probleme mit Anfeindungen, obwohl er nicht konvertierte. Diesen außergewöhnlichen Status genoss er sehr.[96]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 171f. Noch in den 1870er Jahren erklärte er, dass die Integration der Juden nun eine unumstößliche Sache wäre.[97]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 209. Aber diese Freude wurde ihm allerdings bald genommen. Seine Lebensweisheit “Die Juden sind Kinder des Mitleids. Sie verstehen, Leid zu tragen, zu lindern, weit besser, als Freude zu schaffen.”[98]Zit. nach: Wolbe, Lebensweisheiten … Auerbachs, 17. brauchte er im Alter. 1880 berichtete er weinend einem Freund, dann man ihm “Hep-Hep” nachrufen hätte. Und das, wo er sein ganzes Leben für das deutsche Volk gearbeitet hätte und er niemandem mit seinem Patriotismus nachstehe.[99]Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 219.

“Auerbach, über Nacht gealtert, ‘ein kranker, lebensmüder, gebrochener Greis, gelb und trocken die Haut, die Augen glanzlos’, wurde immer verzweifelter. Am 22. November 1880 verbrachte er den Nachmittag auf der Besuchertribüne des preußischen Abgeordnetenhauses, das über einen Antrag auf Rücknahme des Gleichstellungsgesetzes diskutierte. Niedergeschlagen kehrte Auerbach nach Hause zurück. Seine Verzweiflung und das, was zwei Generationen später die Tragödie aller deutschen Bürger jüdischen Glaubens werden sollte, resümierte er tags darauf in dem Satz: ‘Vergebens gelebt und gearbeitet!’.[100]Zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 220.

Schluss

Der Judenhass des frühen 19. Jahrhunderts war nicht wie im Mittelalter Ergebnis auf Unwissenheit begründet, sondern von wachsender Vertrautheit. Er richtete sich nicht gegen fremd wirkende Traditionalisten, sondern gegen die assimilierte jüdische Mittelschicht. Früher hatten die Menschen Furcht und manchmal blinden Hass gegen die unbekannte, geheimnisvolle Gemeinschaft. Nun empfand man Antipathie gegenüber einem Volk, das nun selbst Deutsch schrieb und sprach und das zu kennen man zutiefst überzeugt war. Aber es schien ihnen nur so.

In Realität war es eine extreme Form der Romantik, die sich in erster Linie gegen alles aus der Epoche der Aufklärung wehrte und das Christentum als deutsche “Staatsreligion” verstand und damit das Judentum in Deutschland nicht überlebensfähig machte. Aber sie richtete sich immer noch gegen das Judentum als Religion und Glaubensgrundsatz, nicht gegen die Juden als Menschen.

Diese extreme Meinung war allerdings nicht überall zu finden, sondern nur vereinzelt bei bestimmten Burschenschaften. Andere Burschenschaften spürten einen Zwang und zogen nach. Aber nicht aus Überzeugtheit, sondern aus “Mitläuferzwang”. Natürlich gab es dennoch einige sehr radikale Burschenschaften, wie die schon beschriebenen Jenaer Unbedingten und Gießener “Schwarzen”, um die sehr puritanischen Brüder Follen, der in Christus sein Vorbild sah und genauso rein und konsequent, wie er sein wollte. Hier manifestierte sich die Trennung zwischen aufgeschlosseneren “Arminen” und extrem nationalen “Germanen”.

Diese Arbeit soll mit dem Vorurteil aufräumen, Juden wären im frühen 19. Jahrhundert in Burschenschaften nicht   willkommen gewesen, denn das kann man so pauschal nicht sagen.

Juden konnten sicher durch Assimilation in manche Burschenschaften schon vor 1831 eintreten. Viele deutsche Juden, meist aus dem Bürgertum, konvertierten in dieser Zeit oft aus eigenem Antrieb aus meist pragmatischen Gründen zum Christentum. Der Taufakt geschah wie bei Heine und Gans eher beiläufig. Meist konvertieren nicht-praktizierende Juden und wurden zu nicht-praktizierenden Christen. Aber die Religion anzunehmen war eine Möglichkeit, seine politische Identität zu beweisen. Nur die aufgeklärten Christen erwarteten von den Konvertiten nicht, dass sie tatsächlich an die Dogmen glaubten, an die sie selbst nicht mehr glaubten. Andere Gründe waren das Stigma des „dreckigen Juden“ loszuwerden, in den Staatsdienst aufgenommen zu werden oder überhaupt eine berufliche Chance zu erhalten. Dieses ist bei Heinrich Heines Leben zu beobachten.

Felix Mendelssohn Bartholdy bekam von dem Judenhass wenig mit, da ihn sein Vater früh taufen ließ und ihn auch christlich erzog. Auf Grund seines aufklärerischen Gedankengutes fühlte er aber mit dem Schicksal der Juden mit. Anders Friedrich Julius Stahl, der in seinem späteren Leben aus christlicher Überzeugtheit gegen die Juden und auch die Burschenschaften wetterte, obwohl er beiden einmal angehört hatte.

1831 wurden Burschenschaften dann wieder zugelassen, wo von auch Bamberger und Auerbach sehr profitierten. Sie hatten in ihrer Studienzeit keine großen Probleme zu beweisen, dass sie auch für die deutsche Einheit kämpfen. Erst in den 1880er Jahren, als die Emanzipation schlagartig umkippte und der Antisemitismus geboren wurde, spürten auch sie, wozu Judenhass möglich war und verzweifelten daran. Wie wäre die Emanzipation von 1812 ausgegangen, wenn sie eins oder zwei Generationen früher zur Zeit Moses Mendelssohns proklamiert worden wäre?

Es war fatal für die Juden, dass es in die Zeit des heraufkommenden Nationalismus fiel, der Deutschland für 100 Jahre beeinflusste.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

  • Mainzer Stadtarchiv, Signatur ZGS / A-E, Bamberger.
  • Heine, Heinrich: Der Rabbi von Bacherach. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Hamburg 1884. Elfter Band. S. 3.
  • Heine, Heinrich: Almansor. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Hamburg 1884. Vierter Band. S. 3.
  • Heine, Heinrich: Reisebilder. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Hamburg 1884. Fünfter Band. S. 3.
  • Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Hamburg 1884. Zweiter Band. S. 189.
  • Heine, Heinrich: Romanzero. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Dritter Band. Hamburg 1884. S. 3.
  • Heine, Heinrich: Geständnisse. In: o. N. (Hg.): H. Heines sämmtliche Werke. Hamburg 1884. Achter Band. S. 3.

Literaturverzeichnis

  • Brunck, Helma: Die deutsche Burschenschaft in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. München 1999.
  • Czermak, Gerhard: Christen gegen Juden. Geschichte einer Verfolgung. Von der Antike bis zum Holocaust, von 1945 bis heute. Hamburg 1997.
  • Decker, Kerstin: Heinrich Heine. Narr des Glücks. Berlin 2005.
  • Dvorak, Helge: Burschenschaft und Judenfrage. Berühmte Juden als Burschenschafter. In: Burschenschaftliche Blätter 114/2. o. O. 1999.
  • Elon, Amos: Aus einer anderen Zeit. Porträt der jüdisch-deutschen Epoche 1743-1933. Stuttgart 2005.
  • Graetz, Henrich: Geschichte der Juden. Band 11. o. O. 1900².
  • Haber, E. R.: Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte. Band 1. Stuttgart ³o. J..
  • Hädecke, Wolfgang: Heinrich Heine. Eine Biographie. München 1985.
  • Höxter, Julius: Quellenbuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. 5. Teil. Neueste Zeit: 1789 bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main 1930.
  • Huber, E. R.: Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte. Band 1. Stuttgart ³2000.
  • Jacob, Heinrich Eduard: Felix Mendelssohn und seine Zeit. Bildnis und Schicksal eines Meisters. Frankfurt/Main 1981.
  • Kampmann, Wanda: Deutsche und Juden. Studiun zur Geschichte des deutschen Judentums. Frankfurt 1994.
  • Kirchner, Hartmut (Hg.): Heinrich Heine. Der Rabbi von Bacherach. Ein Fragment. Stuttgart 2004.
  • Kirchner, Hartmut: Heinrich Heine und das Judentum. Bonn 1973.
  • Koehler, Benedikt: Ludwig Bamberger. Ideologie statt Realpolitik. Stuttgart 1987.
  • Konold, Wulf: Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Zeit. o. O. 1984.
  • Kopelew, Lew: Ein Dichter kam vom Rhein. Heinrich Heines Leben und Leiden. o. O. o. J.
  • Kortländer, Bernd (Hg.): Die Worte und die Küsse sind wunderbar vermischt… . Stuttgart 2005.
  • Kruse, Joseph A.: “Ich Narr des Glücks”. Heine Heine 1797 – 1856. Bilder einer Ausstellung. Stuttgart 1997 .
  • Liedtke, Christian: Heinrich Heine. Hamburg 1997.
  • Lönnecker, Harald: Frühe Burschenschaft und Judentum. In: Burschenschaftliche Blätter 114/2. o. O. 1999.
  • Masur, Gerhard: Friedrich Julius Stahl. Geschichte seines Lebens. Aufstieg und Entfalung 1802-1840. Berlin 1930.
  • Scheuffeler, Thomas (Hg.): Berthold Auerbach. 1812-1882. Marbach a. N. 1986.
  • Schmidt, Roderich (Hg.): Heine in Göttingen. Göttingen 2004.
  • Sterling, Eleonore: Judenhaß. Die Anfänge des politischen Antisemitismus in Deutschland (1815-1850). Frankfurt 1969.
  • Werner, Eric: Mendelssohn. Leben und Werk in seiner Sicht. Zürich/Freiburg i. Br. 1980.

Fußnoten

Fußnoten
1 Vgl. Heine, Rabbi von Bacherach, S. 15.
2 Werke, die nicht in Jiddisch geschrieben waren, waren jedoch damals Juden verboten zu lesen, da sie als „verderblich“ angesehen wurden.  Aber Mendelssohn hatte Glück und ebenso weltoffene Unterstützer.
3 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 100.
4 Vgl. Czermak, Christen gegen Juden, 118.
5 Der Begriff Antisemitismus, der den Hass gegen die jüdische Rasse beschreibt und in den 1880er Jahren erst geprägt wurde, war hier nicht der Auslöser. Und dennoch wurde hier die Wiege für ihn gelegt.
6 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 134.
7 Vgl. Czermak, Christen gegen Juden, 117.
8 (1781-1831), Jurastudium. Publizist, viele Reisen. Brachte  mit Brentano “Des Knaben Wunderhorn” heraus.
9 Mit “Philister” sind in der Sprache der Studentenverbindung die “Alten Herren” gemeint, also ehemalig Aktive in einer Verbindung.
10 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 104.
11 (1762-1814), Professor für Philosophie. Erster Rektor an der neugegründeten Humboldt-Universität in Berlin.
12, 14 Vgl. Sterling, Judenhaß, 148.
13 (1778-1852), erlagte als Schüler und Student keinen Abschluss. Gründer der Turnbewegung und damit verbunden des schulischen Turnunterrichtes. Wurde in Verbindung mit den Karlsbader Beschüssen sechs Jahre inhaftiert, 1848 in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt und zog sich dann aus dem öffentlichen Leben zurück. Motto: “Haß alles Fremden ist des Ddeutschen Pflicht.”
15 (1769-1860), studierte evangelische Theologie, Geschichte, Erd- und Völkerkunde, Sprachen und Naturwissenschaften und war Professor in Greifswald und Bonn. Wurde allerdings zeitweise wegen seiner antifranzösischen Propaganda und den Karlsbader Beschlüssen verfolgt. Erst 1840 als 71jähriger rehabilitiert, lehrte er bis ins hohe Alter. War 1848 Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung.[/fn| war wie Jahn ein Juden- und Franzosen-Hasser. Die Nationalsozialisten sahen ihn 100 Jahre später als ihren Wegbereiter an. Wie Jahn kämpfte er gegen die Leibeigenschaft und für die Mobilisierung gegen Napoleon. Dafür wollte er Nationalgefühle wecken. Seine Schriften waren nicht nur Anregungen für die Gründung der Burschenschaften, sondern auch des Wingolf-Bundes.[fn]Der Wingolfbund ist eine christliche, nicht schlagende, aber farbentragende Studentenverbindung.
16 (1773-1843), Professor für Philosophie. Zeitweise wegen Konakt zur burschenschaftlichen Bewegung entlassen.
17 Vgl. Sterling, Judenhaß, 119.
18, 20 Vgl. Sterling,  Judenhaß, 148.
19 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 156f.
21 Veröffentlichte 1815 seine Schrift mit dem programmatischen Namen “Germanomanie” und verurteilte darin Nationalismus und Deutschtümelei Germanomanie” war eine abwertende Bezeichnung für deutschen Nationalismus und Patriotismus mit Ablehung der anderen und Herofizierung der eigenen Kultur.
22 Zit. nach: Heine, Almansor, S. 10.
23 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 155.
24 Verbot der Burschenschaftem, Überwachung der Universitäten, Pressezensur, Entlassung und Berufsverbot für liberal und national gesinnte Professoren, Exekutionsordnung, Universitätsgesetz, Preßgesetz und Untersuchungsgesetz.
25 Abkürzung für “Hierosolyma est perdita”: Jerusalem ist verloren. Der Ruf soll auf einen Schlachtruf von römischen Soldaten während der Belagerung Jerusalems im Jahr 70  zurückgehen. Anderen Quellen  zufolge stammt er aus der Zeit der Kreuzzüge bei den antijudaischen Progromen im Rheinland. Das lateinische Wort lässt vermuten, dass gebildete Menschen hinter den Krawallen standen. Die Initiatoren waren meist “ehrenwertrte” Bürger, Studenten und Professoren.
26 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 108f.
27, 33 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 160.
28 Vgl. Graetz, Geschichte der Juden, 334 und Elon, Aus einer anderen Zeit, 108.
29 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 111.
30 Vgl. Graetz, Geschichte der Juden, 335.
31 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 109f.
32 Nach der Aufhebung der Kolonialsperre konnte Handel und Gewerbe mit England nicht mehr mithalten.
34 Vgl. Kirchner (Hg.): Rabbi von Bacherach, S. 51. Ebenso: Kirchner, Heine und das Judentum, 72.
35 “[…] Nicht, den Juden, unsern Brüdern, sondern der Judenschaft erklären wir den Krieg. […] Die Judenschaft ist ein Ueberbleibsel aus einer ungebildeten Vorzeit, welches man nicht beschränken, sondern ganz ausrotten soll. Die bürgerliche Lage der Juden verbessern heißt eben das Judenthum auszurotten, die Gesellschaft prellsüchtiger Trödler.” Zit. nach: Kirchner, Rabbi von Bacherach, S. 52-56.
36 (1780-1835), lernte Jahn und dessen Ideologie kennen und verfasste rachsüchtige, antinapoleonische Kriegslyrik.
37 Vgl. Kirchner (Hg.):  Rabbi von Bacherach, S. 57-59. Hundt-Radowsky empfahl, ihnen den Mund zuzukleben, damit sie nichts stehlen können.
38 Vgl. Sterling, Judenhaß, 69.
39 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit. 97.
40 In seinen Memoiren schrieb er: „[…] Sie [Heines Mutter] meinte jetzt, ich müsse durchaus Jurisprudenz studieren. […] Da eben die neue Uni­versität Bonn errichtet worden, wo die juristische Fakultät von den berühmtesten Professoren besetzt war, schickte mich meine Mutter unver­züglich nach Bonn.“ zit. nach: Kruse, “Ich Narr des Glücks”, S. 99.
41 Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 113.
42 Vgl. Decker, Heinrich Heine, 61.
43 Vgl. Kopelew, Ein Dichter kam vom Rhein, 67. Ebenso: Liedtke, Heinrich Heine, 34.
44 Vgl. Liedtke, Heinrich Heine, 36.
45 Vgl. Hädecke, Heinrich Heine,  110f.
46 Zit. nach: Kopelew, Ein Dichter kam vom Rhein, 71f.
47 Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 122.
48 Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 187.
49 Vgl. Hädecke, Heinrich Heine, 124.
50 Das gesamte Protokoll zur Gerichtsverhandlung ist zu lesen bei Schmidt, Heine in Göttingen, S. 136-143.
51 „Als solches, die kein Vaterland haben und für unseres kein Interesse haben können, nicht aufnahmefähig, außer wenn erwiesen ist, daß sie sich christlich-teutsch für unser Volk ausbilden lassen wollen.“ zit. nach: Hädecke, Heinrich Heine, 124f.
52 Vgl. Heine, Reisebilder. Die Harzreise. S. 3. Siehe auch: Heine, Wintermärchen. Caput X, S. 211.
53 Vgl. Decker, Heinrich Heine, 73.
54 Siehe § 9 des Emanzipationsediktes: “In wie fern die Juden zu andern öffentlichen Bedienungen und Staats-Aemtern zugelassen werden könne, behalten Wir Uns vor, in der Folge der Zeit, gesetzlich zu bestimmen.“ zit. nach: Huber, Dokumente, S.  49.
55 (1797-1839), stammte aus einer jüdischen Bankiersfamilie aus dem liberalen, assimilierten Judentum, studierte in Berlin und Göttingen Jura, Philosophie und Geschichte, bekam Einladung als Hochschulprofessor als besonders fähiger Akademiker für die Universität Berlin. Als Professor empfing er studentische Fackelzüge und organisierte Unterschriftsaktionen für die sieben entlassenen Göttinger Professoren, den “Göttinger Sieben”. Er sah die Französische Revolution als entscheidenden Wendepunkt in der europäischen Geschichte und die Juli-Revolution 1830 als notwendige Entwicklung im Sinne des liberalen Bürgertums. Sein Staatsideal war das eines preußischen Staates als konstitu­tioneller Monarchie unter Führung eines aufgeklärten, starken Souveräns. Sein größter akademischer Widersacher war von Savigny.
56 Vgl. Kampmann, Deutsche und Juden, 166.
57 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 127.
58 „Ich bereue es sehr, daß ich mich getauft habe; ich sehe noch gar nicht ein, daß es mir seitdem besser gegangen sei.“ zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 29.
59 Vgl. Höxter, Quellenbuch zur jüdischen Geschichte, 38.
60 „Es war im Mai 1848, an dem Tage, wo ich zum letzten Male ausging“ zit. nach: Heine, Romanzero, S. 6.
61 Vgl. Konold, Felix Mendelssohn Bartholdy, S. 31.
62 Vgl. Werner 66f.
63 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 87.
64 Hier spielt Heine darauf an, dass es Mendelssohn Bartholdy nach langem Kampf gelungen war, Bachs nahezu vergessene Matthäus-Passion wiederaufzuführen. Heine fand es seltsam, dass ein Judenjunge den Leuten die bedeutenste christliche Musik wiederbringen müsse. Er war aber bei der Uraufführung anwesend.
65 Vgl. Heine, Geständnisse, S. 38.
66 Vgl. Lönnecker, Frühe Burschenschaft und Judentum, 78f.
67 Wahrscheinlich, weil Kronprinz Ludwig von Bayern Metternich feindlich gesinnt war. Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, S. 46.
68 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, S. 47f.
69 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 50.
70 Vgl. Masur Friedrich Julius Stahl, 54f.
71 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 62.
72 Vgl. Masur,  Friedrich Julius Stahl, 71.
73 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 69.
74 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 75f.
75 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 83.

König Friedrich Wilhelm IV. ernannte ihn 1849 zum lebenslangen Mitglied der Ersten Kammer. Damit war er der Führer der reaktionören Bewegung Preußens.[fn]Vgl. Scheuffeler, Berthold Auerbach, 27.

76 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 184.
77 Vgl. Lönnecker, Frühe Burschenschaft und Judentum, 78.
78 Vgl. Masur, Friedrich Julius Stahl, 78.
79 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 183.
80 Im Mainzer Archiv findet man unter der Signatur “ZGS / A-E, Bamberger” Zeitungsartikel mit dem Lebenslauf und dem Stammbaum Bambergers.
81 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 153f.
82 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 165.
83 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 186f.
84 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 192.
85 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 195.
86 Heute Horb am Neckar.
87 Ich verbrachte dort ein trauriges Stück Leben.“, zit. nach Scheuffelen, Berthold Auerbach, 30.
88 Zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 169.
89 Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 31f.
90 Wurde “Demagogenherberge” genannt, da dort fast nur verurteilte Burschenschafter saßen.
91 Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 34.
92 Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 29.
93 Zit. Nach: Scheuffelen, Berthold Auerbach, 40.
94 Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 40.
95 Vgl. Scheuffelen, Berthold Auerbach, 42.
96 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 171f.
97 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 209.
98 Zit. nach: Wolbe, Lebensweisheiten … Auerbachs, 17.
99 Vgl. Elon, Aus einer anderen Zeit, 219.
100 Zit. nach: Elon, Aus einer anderen Zeit, 220.

Rebellion gegen die Geistlichkeit – Anne Hutchinson und die antinomische Krise

Diese Hausarbeit habe ich im Wintersemester 2002/03 im Seminar “Puritanismus im kolonialen Nordamerika” bei Prof. Dr. Helmut Schmahl (Geschichte, Uni Mainz) verfasst. Es ist meine allererste Hausarbeit, die ich verfasst habe.

Nachträglich habe ich den Text gegendert und den Begriff Native Americans ergänzt.

Einleitung

1531 hatte sich Heinrich VIII. von der römischen Kirche gelöst und die englische Staatskirche gegründet. Im Gegensatz zu den anderen protestantischen Konfessionen geschah diese Abspaltung primär nicht aus Gründen von Glaubensfragen wie bei den Reformatoren. Entscheidender Anlass war die Weigerung des Papstes, die Ehe von Heinrich VIII. mit der Spanierin Katharina von Aragon aufzulösen, damit dieser mit der Hofdame Anna Boleyn eine neue römisch-katholisch legitimierte Ehe eingehen konnte. Durch den Federstrich der Trennung von Rom fand in den glaubenspolitischen Wirren der folgenden Jahre eine Hinwendung der englischen Staatskirche, des Anglikanismus, zu der protestantischen Glaubensrichtung statt. Die romtreuen Kleriker versuchten verständlicherweise, diesen Prozess aufzuhalten bzw. dem gegenzusteuern oder gar rückgängig zu machen. Allerdings oft mit der Folge, hingerichtet zu werden, wie beispielsweise Thomas Morus.

So bildeten sich innerhalb der englischen Kirche zwei Gegenströme. Jene, die eine Wiederangliederung in die römisch-katholische Kirche wünschten und jene, die die Inhalte der protestantisch-calvinistischen Lehren übernehmen wollten. Zu allem spielte auch die große Politik, besonders die Position England als politischer Kontrapunkt zum erzkatholischen Spanien, eine Rolle.

Calvin war ein Reformator aus der französischen Schweiz, der etwa zeitgleich mit Luther lebte. Seine Lehre beruht hauptsächlich auf der doppelten Prädestinationslehre, die besagt, dass manche Erwählte in den Himmel kommen, die anderen, die Nichterwählten, in die „Hölle“. Nach seiner These macht sich diese Erwählung schon auf Erden bemerkbar, denn den Erwählten ist bereits dort Erfolg beschieden.

Die Anhänger der calvinistischen Glaubensrichtung nannten sich in Frankreich Hugenott*innen und in England Puritaner*innen*innen, abgeleitet vom Englischen to purify = reinigen. In England wollte man neben der Durchsetzung der eigenen Glaubens Richtung innerhalb der anglikanischen Kirche im Besonderen den nach Meinung der Puritaner*innen*innen noch zu sehr vorhandenen Einfluss (man nannte die Katholik*innen abschätzig Papisten) der katholischen Kirche reinigen.

In diesen Wirren wurde Anne Hutchinson am 20. Juli 1590 als Anne Marbury, Tochter des Geistlichen Francis Marbury und seiner zweiten Ehefrau Bridet Dryden, Tochter des John Dryden of Canon’s Ashby in Northhamptonshire, in der Kirche von Alford, Lincolnshire getauft.[1]Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436.

Der Antinomismus

Das Wort Antinomismus wird aus den griechischen Wörtern anti = gegen und nomos = Gesetz zusammengesetzt. Damit ist speziell das alttestamentliche Sittengesetz gemeint, wie es in der Bibel im Pentateuch steht und dem niemand mehr verpflichtet sei. Denn durch die Ankunft des Messias, Jesus von Nazareth, sei das Alte Testament und damit auch der Alte Bund abgeschlossen. Durch den Tod von Jesus wurde nicht nur die gesamte Menschheit von ihren Sünden erlöst, sondern Gott schloss zudem mit allen Menschen der Erde einen Neuen Bund.

,,Indem er von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten für veraltet erklärt, was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem Untergang nahe.” (Hebr 8,13)

Der Antinomismus betont die menschliche Glaubensfreiheit und die göttliche Gnade. Diese Ideologie geht zurück bis zu Paulus, der diese Glaubensüberzeugung mit seinen Briefen hervorbrachte. Die Antinomist*innen formulierten, da der Heilige Geist die Menschen erfülle, geht dieser eine persönliche Union mit den Menschen ein. Somit gehören alle gläubigen Christ*innen zu den Erretteten und kommen Kraft dessen in den Himmel. Der Heilige Geist lenke die Handlungen des Menschen. Der Mensch sei nicht mehr an ein Gesetz, speziell das Sittengesetz gebunden, da er gar nicht mehr sündigen könne, weil ansonsten der Heilige Geist und damit Gott selbst in der Dreifaltigkeit sündigen würde, was schließlich nicht möglich sei. So die Überzeugung der Antinomist*innen.[2]Vgl. Röm 6,14. vgl. Röm 3,23-26. Doch die Missbrauchsmöglichkeit, die sich aus dieser Sichtweise ableitete und zur Anarchie führen könnte, bereitete vielen Menschen Sorge.[3]Vgl. Pesch, Otto Hermann: Antinomismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche Band 1. Freiburg im BreisgaVgl. Pesch, Otto Hermann: Antinomismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche Band 1. Freiburg … Continue reading

Anne Hutchinson in England

Annes Vater Francis, Diakon an der Christ Church in Cambridge, sprach offen über seine puritanischen Lehren, von denen Anne schon einige in frühem Alter aufnahm. Die puritanischen Äußerungen des Vaters missfielen den Verantwortlichen der Church of England so sehr, dass sie ihn für ein Jahr ins Gefängnis steckten. Aber auch nach seiner Freilassung blieb er bei seinen selbst für die Anglikaner radikalen Meinungen und nahm es in Kauf, deswegen immer wieder verhaftet und verhört zu werden. Der Marbury‘sche Haushalt repräsentierte gleichzeitig puritanische Zucht und Bildung’. Anne lernte leben und schreiben. Sie verehrte ihren Vater, der den Prinzipien der traditionellen Kirche widersprach, las viele seiner Bücher über Religion und Theologie und unterstützte seine Meinung. 1605 zog die Familie nach London.[4]Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436. Ebenso: Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 11-12.

Am 9. August 1612 heiratete Anne Marbury als 22jährige den Kaufmann William Hutchinson aus Alford, Lincolnshire. Bis 1633 wurden ihnen 15 Kinder geboren. Von Alford aus fuhr die Familie sonntags oft nach Boston (England), um die Predigt von Reverend John Cotton zu hören, den Anne sehr bewunderte. Wie ihr Vater predigte auch dieser die Reinigung der Kirche und wetterte gegen den seiner Meinung nach drohenden Verfall. Cotton wurde von zwei wesentlichen Thesen getrieben. Erstens war auch er Meinung, dass die katholische Kirche immer noch einen zu starken Einfluss auf die Church of England habe und dass dieser Einfluss diese Institution letztendlich zerstören würde. Zweitens war er beseelt von der Idee, in Amerika eine Kirche mit religiöser Freiheit aufzubauen.[5]Vgl. Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 26.

Die Massachusetts Bay Colony

Als im November 1620 die Passagiere der Mayflower nicht wie geplant in Virginia, sondern weiter nördlich landeten, wurden sie dort ansässig. Sie gründeten eine Siedlung und schlossen schließlich mit dem englischen König einen Vertrag für dieses Stück Land: den Mayflower Compact. Das Ziel war, eine Zuflucht für Puritaner*innen*innen zu schaffen, damit diese dort nach ihrer religiösen Ideologie leben können. Zur Erreichung dieses Ziels gründete man nach der Landung eine Kapitalgesellschaft, die Massachusetts Bay Company, die in England für die Durchsetzung dieses Zieles kämpfte. Im März 1629 war es dann soweit: Festgelegt in der königlichen Charta (Massachusetts Bay Charta) für das Gebiet zwischen dem Fluss Merrimack und dem Charles River am 4. März 1629. In dieser Charta wurde festgeschrieben, dass es dort einen von den sogenannten Freemen gewählten Governor und einen Deputy Governor gibt, die zusammen mit 18 Assistants den General Court bilden und Minister genannt wurden. Als Freemen galten alle Männer, die sich in die Siedlung eingekauft hatten und somit Mitglied waren. Die Massachusetts Bay Colony kann man als Kirchenstaat bezeichnen, denn der Governor war gleichzeitig das weltliche und das geistliche Oberhaupt. 1630 landete der schon in England gewählte erste Governor der Siedlung, John Winthrop. Der englische König hatte allerdings in dem Vertrag übersehen, England als den Sitz der Gesellschaft festzulegen. Somit war es nicht notwendig, dass die Mitglieder des General Court ihre jährliche Versammlung in England abhalten mussten und die Pfarrer brauchten so nichts mit dem König abzustimmen und konnten praktisch autonom regieren. Die Gesetze der Massachusetts Bay Colony waren jedoch nicht wirklich liberal. Wenn es denn überhaupt eine Wahl in der Lebensweise gab, bestand diese lediglich in der Religionsfreiheit. Die strengen puritanischen Gebote im Zusammenleben der Massachusetts Bay Colony galten für alle Bewohner, ob sie puritanischen Glaubens waren oder nicht.

Sie bestand von 1628 bis 1681 und war eine englische Siedlung am Massachusetts Bay, an der Ostküste Amerikas um Boston und Salem.

Da die Puritaner*innen*innen in den 1630er Jahren starken Zulauf hatten, brauchte die Kolonie in Massachusetts ihre Gesetze nicht zu liberalisieren. Erst Ende des 17. Jahrhunderts, als die immigrierte Generation verstorben war, wurde die Härte der puritanischen Vorschriften gelockert, um neue Mitglieder zu gewinnen. Die nach kommenden Generationen konnte sich nicht mehr mit der erzkonservativen Glaubensüberzeugung ihrer Väter und Großväter identifizieren; sie erschien ihnen veraltet. Bernard Bailyn nennt dies einen problematic anachronism.[6]Vgl. Bailyn, Bernard: The Peopling of British North America. New York 1986. S. 91.

Anne geht ihren Weg

Ihre Ankunft

1633 emigrierte Annes ältester Sohn Edward mit John Cotton nach Amerika und wurde in der Massachusetts Bay Colony sesshaft. 1634 folgte ihm die Familie an Bord der Griffin nach.[7]Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436.

Damit waren sie Teil der großen Auswanderungswelle von 1630 bis 1642, in der allein 21.000 Puritaner*innen*innen von England aus in die Massachusetts Bay Colony auswanderten.[8]Vgl. Bailyn, Bernard: The Peopling of British North America. New York 1986. S. 25-26.

Schon an Bord der Griffin sprach Anne immer wieder über ihre persönlichen Überzeugungen, der die anderen Schiffsinsassen nicht unbedingt positiv gegenüberstanden, was zu Spannungen führte. Sie überraschte allerdings damit, dass sie den Tag der Ankunft in der Massachusetts Bay exakt voraussagte: der 18. September 1634. Anne war überzeugt, hellseherische Momente zu haben; es ist aber nicht überliefert, ob sie diese bewusst bzw. vorsätzlich zu ihrem Vorteil ein setzte. Sie wird beschrieben als selbstlose Frau, die nicht nach Macht strebte. In der Öffentlichkeit habe sie als hilfsbereit gegolten, half bei Geburten und kümmerte sich um die Kranken. Mit ihrer Rolle als Frau und Mutter sei sie zufrieden, gewesen und damit eigentlich eine vorbildliche Goodwife, wie man die puritanischen Frauen nannte. Sie wird als stets fröhlich und fromm beschrieben, aber sie war auch eine Frau mit einer hohen Intelligenz und einer für die damalige Zeit ungewöhnlich guten Bildung. Damit war sie vielen anderen Personen überlegen. Sicherlich trug dies zu ihrer Selbstsicherheit und Durchsetzungsfähigkeit bei. Das Schicksal der Native Americans berührte sie im Besonderen, da jene nicht an Jesus Christus glaubten und damit nicht zu den Erretteten gehören würden.[9]Vgl. Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 91.

Die Stellung der Frau in der Massachusetts Bay Colony

Frauen wurden in der Massachusetts Bay Colony auf Grund der Vorschriften völlig unterdrückt. Nur den Männern sei Intelligenz gegeben, so die allgemeine Auffassung der Minister in Massachusetts. Frauen sollten sich um die Familie und um den Haushalt kümmern.[10]Vgl. Adams, Charles M.: The Colonial Period of American History. New Haven 1934. S. 477.

Sie wurden grundsätzlich als geistig minderwertig und sittlich schwach an gesehen, schon alleine aus dem Grunde, dass Eva zuerst die Sünde im Paradies begangen hatte. Sie sollten den Inhalten der Predigten entsprechend leben, durften nicht selbst vor Menschen sprechen (egal ob in der Kirche oder an einem anderen Ort) und ihre Meinung darlegen. Dabei stützte man sich auf eine Aussage des Apostels Paulus in einem seiner Briefe, die von den Ministern Massachusetts in ihre Vorschriften übernommen wurde.

Es ist möglich, dass sich Anne von dieser zweiten Bibelstelle im Korinther-Brief leiten ließ als sie meinte, man solle die Heilige Schrift nicht buchstäblich auslegen, sondern sich dabei von der Nächstenliebe als Kernbotschaft des Neuen Testamentes leiten lassen. Gerade diese Nächstenliebe und der Neue Bund, den Anne Hutchinson den Covenant of Grace, Bund der Gnade, nannte, waren ihr sehr wichtig.

Anne war mit Leib und Seele Hausfrau und Anhänger des puritanischen Glaubens. Mit den meisten puritanischen Prinzipien war sie durchaus einverstanden. Seit ihrer Kindheit machte sie sich Gedanken zu theologischen Fragen, die sie bei privaten Treffen gegenüber anderen äußerte. Sie wollte sich hiermit nicht außerhalb der puritanischen Kirche stellen, noch wollte sie jemanden verletzen. Allerdings weckte sie mit ihren differenzierten Ansichten zum Alten und Neuen Bund den Zorn der puritanischen Führer.

Cotton warnte sie bereits bei ihrer Ankunft im September 1634 in Amerika, ihre Gedanken und Lehren besser für sich zu behalten. Aufnahme in die Kolonie fand nur, wer ,,I have been guilty of wrong thinking[11]Zit. nach: Crawford, Deborah: Four Women in a Violent Time. New York 1970. S. 90. gelobte, wobei sie, um für sich ein reines Gewissen zu behalten, bei dieser Aussage keineswegs an ihre religiöse Doktrin gedacht haben soll, sondern an familiäre Angelegenheiten. Sie war wohl ernsthaft bereit, einen Kompromiss zu schließen um Mitglied der Massachusetts Bay Colony zu werden. Vor allem wollte sie ein Mitglied der Kongregation Cottons zu werden, den sie noch immer verehrte.

Dieser allerdings brachte Annes Ansichten keinerlei Verständnis entgegen, sondern pure Ablehnung. Nach seiner Vorstellung vergeudete sie ihre Zeit und auch er vertrat die Ansicht, dass sie sich nicht in die von Gott gegebene Rolle einfüge. Anne war in der Annahme nach Amerika gekommen, dass sie im Gegensatz zur Situation in England, in der Massachusetts Bay Colony ihre Glaubensvorstellungen leben und ihre Meinung frei äußern könne. Die Hoffnung täuschte.

Ihre Informationstreffen und die Verbreitung ihrer Doktrin

Anne gewann recht bald Ansehen für ihre Intelligenz und Bildung, und auch ihre Herzlichkeit machte sie beliebt. Sie begann zweimal pro Woche Informationstreffen für andere Frauen in ihrem Haus abzuhalten, um sich über die vorangegangene sonntägliche Predigt ihre Meinung zu äußern und mit den Frauen hierüber zu diskutieren. Besonders die Verbannung des Dissidenten Roger Williams vergrößerte den Zustrom der Frauen zu den Treffen enorm. Es waren schließlich fast 100 Frauen. Später riskierte es Anne, bei diesen Treffen auch ihre eigenen Vorstellungen darzulegen und darüber zu diskutieren. Sie wollte, dass jede Frau des Kreises ihre eigene Meinung finden solle, die nicht unbedingt mit der Predigt des Pastors übereinstimmen musste. So befürwortete sie, den Covenant of Grace, den Neuen Bund.

Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt -, nicht aufgrund eurer Werke, damit keiner sich rühmen kann.“[12]Eph 2,8-9: Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt -, nicht aus Werken, damit keiner sich rühmen kann.

So kam Anne zu ihrer Doktrin, dass bereits und allein der Glaube an Gott die Menschen befreit und man als Christ somit zu den Erretteten, den ewig Lebenden gehört.

Auf den alttestamentlichen Gesetzen und dem absoluten Gehorsam der Kirche und dem Staat gegenüber basierte aber die politische Ordnung der Massachusetts Church. Anne stellte mit ihren Gedanken den Grundpfeiler dieser Glaubensrichtung in Frage. Die Frauen der Treffen jedoch sprach ein Gott des Vergebens der (Erb-)Sünde und der Nächstenliebe viel mehr an als ein Gott, der auf ewig verdammt. Durch die Vorstellung, dass bereits allein der Glaube an Jesus Christus den Menschen erlöst, wurde die Autorität der Pfarrer ins Wanken gebracht. Im Nebeneffekt förderten die Treffen der Frauen deren Sozialisierung, wurde ihnen doch ansonsten keine geistig anregende Möglichkeit geboten.

Auch John Winthrop, ab 1637 wieder erster Minister (Govenor), vertrat ebenfalls das zeittypische niedere Bild der Frauen und hatte eine sehr puritanische Vorstellung, was diese tun und lassen sollten. Er sah die Treffen sehr negativ. und bezeichnete sie als ,,disorderly and without rule“[13]Zit. nach: Holliday, Carl: Woman‘s Life in Colonial Days. Boston 1992. S. 440..[14]Vgl. Truslow Adams, James: Hutchinson, Anne. In: Dictionary of American Biography. Band 9. New York 1946. S. 436.

Zu Annes Freunden gehörten unter anderem so einflussreiche Männer wie ihr Schwager, der Reverend John Wheelwright, der die Schwester ihres Mannes, die Quäkerin Mary Hutchinson, geheiratet hatte. Des weiteren Captain John Underhill und ein weiterer Quäker mit Namen William Coddington und Sir Henry Vane, der Jüngere, der zeitweise Governor in der Kolonie war, die Quäkerin Mary Dyer, die Anne schon aus Alford kannte und die mit ihr nach Massachusetts ausgewandert war. Doch die Anhänger dieser neuen protestantischen Glaubensgemeinschaft der Freunde des Lichtes, Quäker*innen genannt, wurden von den strenggläubigen Puritaner*innen*innen verfolgt.

Winthrop bezichtigte beispielsweise Sir Henry Vane des Antinomismus und so kam auch Anne Hutchinson durch die Bekanntschaft in den Verdacht, eine Antinomistin zu sein. Anne aber war mit der Ideologie der Massachusetts Bay Colony im Wesentlichen einverstanden und befolgte deren Gesetze.[15]Vgl. Pesch, Otto Hermann: Antinomismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche Band 1. Freiburg im Breisgau 31993. Sp.765.

Ihre Ideologie

Wie bereits erwähnt, war nach Auffassung von Anne jeder Gläubige gerettet und erfüllt vom Heiligen Geist. Aus diesem Grund und der Haltung Jesus‘ zur Nächstenliebe auch seinen Feinden gegenüber, war Anne zum Beispiel gegen die Verfolgung der Native Americans, da sie Menschen aus demselben Fleisch und Blut wären. Zudem vertrat Anne die Überzeugung, dass man keine Gebete auswendig lernen müsse. Gebete seien kein Druckmittel. Beten solle man, wenn das Bedürfnis da sei, und man solle sich dabei von Gott inspirieren lassen, wenn man die Worte formuliere.

Ebenso wie gegen festgelegte Gebete wandte Anne sich gegen die Verehrung des Sonntages als den einzigen heiligen Tag in der Woche. Vielmehr sei jeder Tag ein Tag Gottes, an dem man seine Werke und seine Schöpfung preisen solle.

Das Sittengesetz als moralische Instanz, wie auch die gesamte Ideologie der Bibel sei für jeden in einer Weise geltend, wie dieser sie auslege. Wohlgemerkt nach Annes Auffassung nicht buchstäblich, sondern in einem tieferen Sinn[16]Er hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig., der für jeden Menschen so unterschiedlich ist, wie die Menschen untereinander verschieden sind. Anne argumentierte, dass seit Christi Tod der Mensch mit seiner Lebensweise nicht mehr an den Alten Bund und somit auch nicht an das Sittengesetz gebunden sei, außer wenn ihn der Heilige Geist dazu bewegt. Alle, die das Gegenteil predigten, das wa