Diese Hausarbeit habe ich im Sommersemester 2011 im Seminar “Nero und das Ende der iulisch-claudischen Dynastie” bei Dr. Andreas Goltz (Geschichte, Uni Mainz) verfasst.
Einleitung
Agrippina die Jüngere galt lange Zeit bis in das 20. Jahrhundert als skrupellose, machtbesessene Frau, die Morde beging, um sich und ihren Sohn Lucius Domitius Ahenobarbus, den späteren Kaiser Nero, in den Mittelpunkt des römischen Imperiums zu stellen. Diese einstimmig negativ konnotierte Sichtweise basiert auf der Rezeption der uns überlieferten Quellen, die von Agrippina der Jüngeren und Nero berichten. Es sind nur drei Quellen von drei Autoren überliefert, die über die Jugend Kaiser Neros berichten: Die „Annales“ von Tacitus aus dem frühen 2. Jahrhundert, die Biographien über Claudius und Nero von Sueton, die ein paar Jahre nach Tacitus‘ Werk erschienen, sowie die „Römische Geschichte“ des griechischen Historikers Cassius Dio aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts. Doch keiner der Autoren hat Nero persönlich erlebt. Allein Tacitus könnte Kindheitserinnerungen an die letzten Regierungsjahre Neros haben. Dieser starb als Tacitus zehn Jahre alt war. Daher basieren die Aussagen der genannten Autoren auf mündlichen Tradierungen, die durch spätere Rezeptionen beeinflusst wurden. Mit Agrippina verbanden die Autoren den Stereotyp der skrupellosen Schönen. Erst nach dem zweiten Weltkrieg begann die Forschung, Agrippina werturteilsfreier zu sehen und den Ehrgeiz und den Machthunger im zeitlichen und sozialen Kontext zu relativieren.
Die folgende Seminararbeit wird Agrippinas Beweggründe für eine Hochzeit mit princeps Claudius‘ und der anschließenden Adoption ihres Sohnes durch ihren dritten Ehemann Claudius anhand von Quellen darlegen, aber auch deren Objektivität zu hinterfragen. Hierzu wird im Hauptteil zunächst der Vorgang der Adoption in seinen Formen während der römischen Republik und des Imperiums dargestellt und kurz auf Agrippinas Leben bis zu ihrer Heirat mit princeps Claudius eingegangen. Schließlich wird die Adoption Neros anhand von Quellenzitaten und Forschungsliteratur beleuchtet.
Zur Stützung der angeführten Argumente in dieser Seminararbeit wird aktuelle Forschungsliteratur renommierter Autoren herangezogen. Eine besonders hilfreiche Stütze in der neueren Forschung um Agrippina der Jüngeren sind die Werke von Anthony Barrett und Gerhard H. Waldherr, die in ihren Biografien über Agrippina bzw. Nero eine objektivere Charakterisierung Agrippinas entwerfen.
Formen von Adoption in der Späten Römischen Republik und im Kaiserreich
Adoptionen waren in der römischen Antike ein häufiger Vorgang. Schon in der Gründungssage der Stadt Rom wird von der Adoption Romulus‘ und Remus‘ berichtet. Kinderlosigkeit und Elternlosigkeit waren so weit verbreitet, dass es hierfür einen gemeinsamen Begriff gab: orbitas. Die Adoption diente der Beendigung der orbitas. In der römischen Rechtsaufassung unterstand das Kind der väterlichen patria potestas, deren Voraussetzung der Besitz des römischen Bürgerrechts war. Diese war die rechtliche Voraussetzung, dass ein adoptierter Sohn später die Stellung seines Vaters übernehmen durfte. Personen ohne patria potestas durften auch keine Adoption vollziehen.
Man unterscheidet in der heutigen Forschung zwischen zwei Formen der Adoption während der römischen Republik und des Prinzipats: arrogatio und adoptio. Durch arrogatio wurden erwachsene Personen sui iuris und deren Familie als Ganzes durch den Adoptivvater in dessen Familie eingegliedert. Die Familie verlor damit ihre selbstständige Existenz und auch ihr Vermögen an den neuen pater familias. Adoptio war dagegen eine Angelegenheit zwischen zwei Familienvätern um die Adoption eines Kindes unter patria postestas und musste vor der Volksversammlung stattfinden. Beide Formen wurden bewusst einer rigiden sozialen Kontrolle unterworfen, indem sie in der Öffentlichkeit praktiziert und für jeden zugänglich dauerhaft festgehalten wurden. Die Adoptierten wechselten in die agnatische Abstammung ihres Adoptivvaters und nahmen dessen nomen gentile an.
Zu den beiden typischen Adoptionsvarianten kam eine dritte Variante hinzu, die Adoption per Testament, die häufigste Adoptions-Variante im Prinzipat. Dieser Vorgang war jedoch nach dem heutigen Verständnis keine Adoption, sondern eine Vererbung („heirominis ferendi condicio“), durch die der Adoptierte das Vermögen des Vererbers sowie dessen praenomen und oft auch dessen cognomen übernahm, aber sein ursprüngliches nomen gentile und seine filation behielt.
Jede der drei Adoptions-Arten war ein rein privatrechtlicher Akt, der aber je nach Umständen und Rang der ihn vollziehenden Personen politische Bedeutung gewann. Die römischen principes nutzten die Adoption, um ihre Nachfolge, die sie gesetzesrechtlich nicht regeln konnten, faktisch entsprechend einer dynastischen Politik vorzubestimmen und das Eingreifen des Senates zu einer leeren Formalität zu machen. Durch die Adoption ging die Hausmacht des princeps in vollem Umfang an dessen adoptierten Sohn über, sofern er als Nachfolger bestimmt war. Die Adoption der principes war keine gesetzliche, aber eine faktische Nachfolgesicherung zum Erhalt der Dynastie.
Das Leben Agrippinas der Jüngeren bis zu ihrer Hochzeit mit Kaiser Claudius
Der frühe Tod der Eltern und der Verlust ihres Status‘ als princeps-Tochter, dürfte auf Agrippinas Kindheit und späteres Leben größten Einfluss gehabt haben.. Sie war vier Jahre alt, als ihr Vater Germanicus in Antiochia in der Provinz Syria aus ungeklärten Ursachen starb. Augustus hatte testamentarisch die Adoption Germanicus‘ durch Augustus‘ Nachfolger Tiberius festgesetzt, doch die Ehefrau des Germanicus‘, Agrippina die Ältere, war von einer Verschwörung des amtierenden princeps Tiberius überzeugt und dass dieser ihren Mann um sein Erbe als Nachfolge-princeps berauben wollte. Sie brüskierte Tiberius mit politischen Äußerungen derart, dass er sie aus Rom und später auf verschiedene Inseln verbannte, wo Agrippina die Ältere den Hungertod wählte. Zwei ihrer Söhne, Agrippinas beide ältesten Brüder, wurden wenige Jahre später auf zwei unterschiedliche Inseln verbannt und wählten dort ebenfalls den Selbstmord.
So hatte Agrippina früh wegen politischer Machtspiele einen Teil der Familie verloren. Nach Tiberius‘ Tod und Wirren um dessen Nachfolger kam schließlich ihr jüngster und einzig verbliebener Bruder Gaius, genannt Caligula, an die die Macht als princeps. Warum die Prätorianergarde ihn und nicht gleich Germanicus Bruder Claudius zum princeps ernannten, ist nicht bekannt. Wahrscheinlich ist es jedoch, dass Caligula als Sohn des durch Tiberius adoptierten Germanicus‘ die iulische Linie fortführte und man zudem davon überzeugt war, dass Eigenschaften vom Vater auf die Kinder übergehen und man Germanicus‘ Güte in Caligula erwartete. Tatsächlich galt princeps Caligula in seinen ersten Regierungsjahren als Musterbeispiel eines gerechten Kaisers bis er offenbar plötzlich Wahnvorstellungen bekam und selbst für seine nächsten Verwandten fremd und unberechenbar wurde. Wegen eines angeblichen Verrats an ihm verbannte er unter anderem seine Schwestern Agrippina und Livilla auf zwei unterschiedliche Inseln. Agrippina war zu diesem Zeitpunkt bereits mit Gnaeus Domitius Ahenobarbus verheiratet und hatte einen gemeinsamen Sohn mit ihm: Nero. Ein Jahr nach der Verbannung starb Agrippinas Mann Gnaeus und Caligula eignete sich den Familienbesitz seiner Schwester an. Caligula starb aber bereits ein Jahr später. Als princeps folgte ihm Claudius. Dieser rief als Agrippinas Onkel väterlicherseits Agrippina und Livilla aus der Verbannung zurück und gab Agrippina sowohl das durch Caligula beschlagnahmte Vermögen wieder, als auch den einflussreichen und vermögenden Konsul Gaius Sallustius Crispus Passienus zum Mann. Dieser starb bereits sechs bis sieben Jahre später, angeblich von Agrippina vergiftet.
Die Hochzeit von princeps Claudius mit Agrippina und die Adoption Neros
Agrippina bekam nach ihrer Rückkehr aus dem Exil eine öffentliche Rolle in der Kaiserfamilie von Claudius und ließ keine Gelegenheit aus, ihren Sohn Nero in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Am wirksamsten gelang es ihr am Säkularfest des Jahres 47, an dem mit einem ludus Trojae dem 800. Geburtstages der Stadt Rom gedacht wurde: Der neunjährige Nero trat als Anführer der aristokratischen Jugend auf und erhielt deutlich mehr Beifall als der drei Jahre jüngere Sohn Claudius‘ namens Britannicus, da das Publikum in Nero den letzten Nachkommen des charismatischen Germanicus‘ erkannte.
Nach der Hinrichtung seiner Frau Messalina wegen zahlreicher nachgesagter Liebes-Affären wurde Claudius mit Agrippina, seiner Nichte verheiratet. Die Quellen berichten einhellig, dass Agrippina ihre Vertrautheit genutzt hatte, um Claudius zu bezirzen. Doch vermutlich haben auch politisch-dynastische Überlegung bei der Wahl Agrippinas zur neuen Ehefrau Claudius‘ eine Rolle gespielt. Agrippina war als Tochter des Germanicus direkt mit Augustus verwandt, Claudius nicht, da er nicht von Tiberius adoptiert worden war. Durch die Heirat kamen das Erbe und Charisma des Germanicus‘ auf Claudius und es konnte vermieden werden, dass ein anderer Mann Agrippinas Abstammung für sich nutzte. Diese dynastische Verbindung kann man nicht überbewerten. Das Problem, dass die Ehe zwischen Claudius und Agrippina mit sich brachte, wurde mit der lex Vitellius gelöst: Das Gesetz erlaubte Onkel und Nichte die Hochzeit. Somit konnten Claudius und Agrippina im Jahre 49 heiraten. Noch vor der Hochzeit war Ende 48 Nero mit Claudius‘ Tochter Octavia verlobt worden, obwohl diese bereits Lucius Iunius Silanus versprochen war.
Obwohl Claudius bereits einen Sohn aus der Ehe mit Messalina hatte, adoptierte er Nero. Am 25. Februar des Jahres 50 wurde aus Lucius Domitius Ahenobarbus nun Nero Claudius Drusus Germanicus. Zeitgenossen sahen die Adoption als Ergebnis der Machenschaften Agrippinas, doch die dynastischen Gründe dürften eine entscheidendere Rolle gespielt haben. Auch könnte Claudius befürchtet haben, Messalinas schlechter Charakter könnte auf Britannicus vererbt worden sein. Tacitus erwähnt zudem, dass Pallas mit Agrippina daran beteiligt war, Claudius von der Adoption zu überzeugen, während Eck jedoch vermutet, dass er nicht maßgeblich daran beteiligt war.
In der Forschung besteht Uneinigkeit, was die Variante der Adoption anbelangt. Während die sich meisten Autoren mit einer Einteilung zurückhalten, sieht Kunst in der Adoption Neros durch Claudius eine Testamentsadoption, Prévost zählt sie zur arrogatio.
Zeitgleich mit Neros Adoption erhielt Agrippina als erste Frau zu Lebzeiten des Gatten die Auszeichnung augusta,nach Tacitus Beschreibung durch den Senat, verliehen. Ihr vollständiger Name lautete nun „Iulia Agrippina Augusta“.
Im Folgenden erhielt Nero im Jahre 51 zahlreiche Auszeichnungen, die ihn der Öffentlichkeit immer stärker als Nachfolger präsentierten. Dazu gehört die verfrühte Übergabe der toga virilis, als Claudius anlässlich seines 60. Geburtstages das Konsulat übernahm, wie auch die Ehrung als princeps iuventutis, als außerordentliches Mitglied in den Priesterkollegien und das imperium proconsulare.
Agrippina genoss auch im Folgenden ihre Machtstellung und nutzt ihre Vorstellung so intensiv, dass sie Nero lästig wurde und sie Nero ihre Jahre 59 durch einen Dolchstoß umbrachte.
Schluss
Wäre Agrippina männlichen Geschlechts gewesen, hätten die Quellen vielleicht ein anderes Bild von ihr gezeichnet. Mit ihren Eigenschaften hätte sie als Mann sicherlich hohe Ämter erreichen können. Als gebildete Frau, die zudem noch machtinteressiert war, entsprach sie aber nicht dem Frauenbild der Zeitgenossen. Sie wird eher nach den politischen Auswirkungen ihres Tuns bewertet, als nach den Gründen und Gegebenheiten, die sie hierzu veranlassten. Dabei kann man ihr Wirken durchaus als Bemühung um die Kontinuität des iulische-claudischen Herrscherhauses sehen, als logische Auswirkungen des dynastischen Geistes, in dem sie erzogen wurde. Nach dem Tod ihrer beiden älteren Brüder war sie durch ihre Stellung in die Lage gekommen, die frühere iulisch-claudische Machtposition wieder zu restaurieren. Da mag auch die eine oder andere Rachemaßnahme und Vergeltungsgedanken für die erlittene schwere Kindheit mitgespielt haben, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Mächtigen und deren Willkür.
Ich schließe mich Waldherrs Vermutung an, dass für Agrippina Rücksichtslosigkeit, Verschlagenheit und brutaler Einsatz aller Mittel zum politischen Überlebenskampf gehörten, wenn man kein Spielball der Mächtigen werden wollte.
Mitgespielt haben mag auch, dass die Quellen ein negatives Bild von Nero zeichnen und darin auch die Familie mit einbezogen haben. Das Leben und das Tun von Agrippina bot die ideale Voraussetzung für einen mahnenden Beleg, was passieren kann, wenn sich Frauen nicht in die ihr zugedachte Rolle schicken.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
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